Jürgen Bacia und Cornelia Wenzel legen mit „Bewegung bewahren“ ein in seiner Art noch nie da gewesenes Grundlagenwerk aus Praxis, Geschichte und aktueller Situation freier politischer Archive vor.
Gleichzeitig entfalten sie in dem gut gegliederten Band einen facettenreichen Überblick über das Aufbewahren und Erhalten wichtiger Schriften und Dokumente im Besonderen und die Geschichtsschreibung von unten im Allgemeinen.
Worum geht es genau?
Die ersten freien Archive entstanden in der alten BRD zusammen mit den außerparlamentarischen Oppositionsbewegungen der 1960er Jahre.
Nach der Wiedervereinigung kamen freie Archive von unabhängigen AktivistInnen in der DDR dazu, wie die im dritten Kapitel von Reiner Merker beschriebenen „Kontinuitäten, Brüche, Entwicklungen“ des Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“ veranschaulichen.
Ob BRD oder DDR: Für unabhängige Bewegungen lag der Gedanke nahe, das Aufbewahren der eigenen vielfältigen Veröffentlichungen nicht den oft grundsätzlich abgelehnten staatlichen Institutionen zu überlassen, sondern eigene Stätten der Dokumentation, Bildung, Erinnerung und Diskussion zu schaffen.
Allerdings besteht von Beginn an ein grundlegender Zwiespalt. Die AutorInnen beschreiben das so:
„Bewegungsarchive haben es in vielerlei Hinsicht nicht leicht. Sie sind eigentlich ein Widerspruch in sich: Soziale und politische Bewegungen stellen den Status quo in Frage, rütteln auf, schreiten voran, bringen die Verhältnisse zum Tanzen, sind fast schon ein Synonym für Veränderung. Archive dagegen sichern und bewahren, sorgen durch Verzeichnung und sachgerechte Lagerung dafür, dass das, was heute die Welt bewegt, auch morgen noch nachvollziehbar ist.“
I.
Das erste Kapitel „Bedeutung und Befindlichkeit Freier Archive“ führt zielstrebig in die mitunter seltsamen, da allzu menschlichen Tiefen und Tücken der Archivarbeit ein. Hier werden auch einige umstrittene oder spektakuläre Fälle der Geschichte von unten skizziert wie etwa die Rolle, die unabhängige Dokumentationsstätten bei der Aufdeckung der nuklear militärischen Zusammenarbeit der BRD-Eliten mit dem Apartheid Regime Südafrikas 1975 spielten.
II.
Das zweite Kapitel „Entstehung und Entwicklung Freier Archive“ liefert durch zahlreiche ausgewertete Fragebögen eine fundierte wissenschaftliche Bestandsaufnahme. Es werden Zahlen und Fakten genannt, aus denen die Leserinnen und Leser eigene Schlussfolgerungen ziehen können. Gleichzeit wird die Notwendigkeit eines neuen Bewusstseins über die zur Zeit äußerst mangelnde Förderung deutlich.
Denn die Frage der Finanzierung ist die Gretchenfrage über Sein oder Nichtsein freier Archive. Nichtwertend werden die gegensätzlichen Ansätze der Antworten dargestellt von „Wir wollen völlig autonom sein!“ bis „Wir haben ein Recht auf staatliche Förderung!“.
Die soziale Lage der MitarbeiterInnen wird intensiv untersucht. Wer hätte gedacht, dass knapp 500 Menschen in freien Archiven arbeiten und dabei 270 von ihnen unmittelbar mit Archivieren beschäftigt sind?
Und dass über 60% dafür nicht entlohnt werden? Was für Auswirkungen hat das für die MitarbeiterInnen, für die Archive?
III.
Das Herzstück des Bandes sind im dritten Kapitel die Berichte aus dem „Innenleben der Archive“.
Hier schildern Verantwortliche und MitarbeiterInnen die Freuden und Stolpersteine ihrer Arbeit. Meine einzige Befürchtung, nämlich dass sich bei mehreren Autoren einige wesentliche Fragestellungen wiederholen würden, wurde durch den sehr unterschiedlichen Umgang mit Problemen und die teilweise verblüffend voneinander abweichenden Ansichten und Perspektiven entkräftigt.
Die wechselvolle Geschichte und Gegenwart des Archivs der Sozialen Bewegungen Hamburg wird von den BetreiberInnen geschildert, ebenso macht es das Papiertiger Kollektiv aus Berlin Kreuzberg und die Gruppe des Archivs des Infoladens im Leipziger Conne Island.
Andrea Walter berichtet aus dem Hamburger Archiv Aktiv mit Schwerpunkt gewaltfreie Bewegungen, Christian Neven-du Mont vom Nord Süd Archiv Informationszentrum Dritte Welt Freiburg, das in inzwischen 42 Jahren auf eine beachtliche Größe angewachsen ist.
Wie man auf einem Einrad durch das Archiv für alternatives Schrifttum (afas) Duisburg fährt, erzählt Jürgen Bacia.
Zuvor berichtet er zusammen mit Cornelia Wenzel auch über den Verkauf von Bier-Senf im Gorleben Archiv Lüchow.
Das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte in Jena und Reiner Merker wurden schon erwähnt. Den Umzug des umfangreichen Münsteraner Umweltzentrum-Archivs samt seinen anarchistischen Hausstaubmilben in das afas Duisburg beschreibt Bernd Drücke.
Wie das Eco-Archiv Hofgeismar, dessen Ausrichtung als ökologisch-sozialistisch beschrieben werden kann, nach 23 Jahren an das Archiv der Sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Bonn angegliedert wurde, schildert Martin Becker.
Auch aus dem Innenleben eines der beiden größten Lesbenarchive der Welt (neben dem New Yorker Lesbenarchiv Herstory) dem Spinnboden Lesbenarchiv & Bibliothek e.V. in Berlin
erfahren wir Aufschlussreiches durch Geschäftsführerin Sabine Balke. Das nicht weniger umfangreiche Archiv & Bibliothek des Schwulen Museums Berlin stellt dessen Leiter Jens Dobler vor.
Ebenfalls in Berlin angesiedelt ist das in seiner Art einzigartige Archiv der Jugendkulturen, aus dem Klaus Farin berichtet. Es fällt insofern aus dem Rahmen, als es „Knäste und Kirchen, Schulen und Hochschulen, Museen und Akademien, Betriebe und Rathäuser, Jugendklubs und Altentreffs“ besucht und mit 150 bis 180 Veranstaltungen im Jahr praktisch ständig unterwegs ist.
Cornelia Wenzel beschreibt den Weg zur Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung Kassel, die mit 30.000 Büchern und 450 laufenden Metern Archivgut aus derzeit 62 Nachlässen und Unterlagenübergaben auch nicht gerade wenig Material zu betreuen hat.
Viele Aktivitäten gehen über die eigentliche Archivarbeit weit hinaus, denn immer mal wieder tragen Archivgruppen ihre Inhalte phantasievoll nach außen, schaffen Aufmerksamkeit oder initiieren gar politische Aktionen, die anregen und ausstrahlen.
So berichtet Ellen Dietrich vom Internationalen Frauenfriedensarchiv Fasia Jansen e.V. Oberhausen wie sie im Oktober 1992 an den fünfhundertsten Jahrestag der Kolumbus-Landung erinnerten (vermutlich auf Guanahani bzw. San Salvador). Denn diese „Entdeckung“ 1492 markierte doch vor allem den Beginn einer grausamen Kolonialgeschichte mit ungezählten Massakern an den UreinwohnerInnen und grenzenloser Ausplünderung der „Neuen Welt“. Das Archiv nahm dieses Ereignis zum Anlass mit einem chilenischen Wandmaler seine Häuser mit Zeichen aus der Zeit vor Kolumbus zu bemalen.
Einen anderen ungewöhnlichen Akt des Erinnerns schildert Bernd Drücke vom Umweltzentrum-Archiv Münster, nämlich die Aufstellung der Paul Wulf Skulptur, die es 2007 sogar auf die Titelseite der Zeitschrift International Herald Tribune gebracht hat, da hier ein 1938 von den Nazis zwangssterilisierter Anarchist gewürdigt wurde.
Jedes Kapitel wird mit einem Fazit abgeschlossen, das oft mit ungewöhnlichen Ideen und Lösungsansätzen überrascht.
So weist das vierte Kapitel „Krise und Zukunft Freier Archive“ eine von Nina Matuszewski und Cornelia Wenzel im Rahmen von Frauenarchivetreffen entwickelte, für die Praxis sehr hilfreiche Checkliste für in Bedrängnis geratenen Archive auf. Überlegungen, die berücksichtigt werden sollten, bevor teilweise oder ganz aufgehört wird.
Fahrenheit 451
Spukte mir am Anfang der Beschäftigung mit dem Kampf um Erinnerung noch das Bild der Brände legenden Feuerwehrleute aus dem Roman Fahrenheit 451 von Ray Bradbury im Kopf herum, verwarf ich den Gedanken bald.
Zum einen haben sich hierzulande quer durch die Parteien immer wieder auch PolitikerInnen für freie Archive eingesetzt und um Fördergelder geworben oder selber bewilligt, zum anderen – grundlegender – besteht Gefahr für freie Archive nicht durch eine so wenig stattfindende Bekämpfung von Staat oder anderen Widersachern, sondern durch eigene Konzeptlosigkeit auf der einen, Ignoranz und Unterlassung von kommunaler oder anderer gesellschaftlicher Finanzierung auf der anderen Seite.
Bei vielen Archiven fällt bei zu wenig AktivistInnen zu viel (unbezahlte) Arbeit an, die Räumlichkeiten sind beengt und/ oder schwer finanzierbar, bei einer möglichen Auflösung steht nicht fest, was mit den gesammelten Materialen geschieht.
Die Gefahr des Verlustes besteht. Dies wirkt destruktiv vor allem im Zusammenhang mit dem zunehmenden Druck auf immer mehr Menschen, intensiver und länger für den Lebensunterhalt arbeiten zu müssen und so keine Möglichkeit zu haben, sich zusätzlich unendgeldlich zu engagieren.
Doch „Bewegung bewahren“ bietet hier mehr als nur Diskussionsansätze.
Man merkt den AutorInnen nicht nur ihr Herzblut, sondern auch die zum Teil jahrzehntelange Erfahrung an. Die vor allen in den „Innenansichten“ vermittelte Praxisnähe in Verbindung mit wissenschaftlichen Auswertungen und gut überlegtem Aufbau machen das woanders vielleicht trocken klingende Thema zu einer spannenden Lektüre.
So ist das Buch nicht nur ein MUSS für alle in der freien Archivarbeit Beteiligten, sondern eigentlich auch für alle Aktivistinnen und Aktivisten der vielfältigen Bewegungen, die Archive hervorgebracht haben. Die Gegenwärtigen und die Ehemaligen. Schließlich ist diese intensive Bestandsaufnahme selbst auch ein nicht zu unterschätzender Beitrag von der im Untertitel genannten „Geschichte von unten“.
Der angenehm unaufgeregte und erfrischend lebendige Schreibstil von Jürgen Bacia, Cornelia Wenzel und den anderen AutorInnen machen das Lesen zu einem Vergnügen. Das erleichtert das Verstehen der Situation und der Bedeutung freier Archive.
Jürgen Bacia und Cornelia Wenzel: Bewegung bewahren. Freie Archive und die Geschichte von unten, Verlag der Jugendkulturen, Berlin, April 2013, 21,5 x 21,5; Hardcover, Innenteil s/w, mit Abb., ca. 280 Seiten, ISBN 978-3-943774-18-4, print; 978-3-943774-19-1 ebook pdf; 978-3-943774-20-7 ebook epub. Preise: 25 Euro / E-Book 9,99 Euro
Anmerkungen
Das Archive-Buch kann bis zum Erscheinungstag am 4. April 2013 zum Subskriptionspreis von 18,- Euro bestellt werden auf:
http://shop.jugendkulturen.de/314-freie-archive-geschichte-von-unten.html