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„Marinus, Marinus, Du warst es nicht, es war König Feurio!“

Interview mit Edition-Nautilus-Verleger Lutz Schulenburg. Zur Wiederauflage von "Marinus van der Lubbe und der Reichstagsbrand - Das Rotbuch"

Noch immer sorgt die Frage, wer für den Brand des Reichstages verantwortlich ist, für Kontroversen. Johannes K. F. Schmidt vertritt die Auffassung: "Am 30.Januar 1933 wurde den Nazis im Reich die Macht übergeben, im Februar gleichen Jahres wurde der sogenannte Reichstagsbrand inszeniert, um eine Handhabe für einen breit angelegten Terror gegen die Linke zu schaffen." (1)

Für viele AntifaschistInnen war dieses Ereignis das Fanal aus Deutschland zu fliehen. Die Einstürzenden Neubauten sangen 1989 "Feurio!": "Marinus, Marinus, hörst du mich?/ Mari-nus, Marinus, du warst es nicht / es war König Feurio!" Wider diese Sichtweise wird in dem jetzt in der Edition Nautilus in einer Wiederauflage erschienenen Buch "Marinus van der Lubbe und der Reichstagsbrand - Das Rotbuch" argumentiert. KP Flügel sprach darüber für die GWR mit Edition-Nautilus-Verleger Lutz Schulenburg.

Graswurzelrevolution: Lutz, was waren Deine Beweggründe für die Wiederherausgabe?

Lutz Schulenburg: 1983 hatten wir das Rotbuch, anlässlich des 50.Jahrestages des Reichtagsbrands, erstmalig auf Deutsch verlegt. Damals, wie auch heute, ist es ein Protest gegen die Verleumdung eines Revolutionärs, so wie es die Freunde, Geschwister, Nachbarn, Arbeitskollegen und Genossen von „Rinus“ 1933 beabsichtigten, als sie das Rotbuch herausbrachten.

Dieses Buch ist das Werk von Proletariern, das sie aus eigener Initiative und trotz ihrer bescheidenen materiellen Mittel gegen eine überlegene Propagandaindustrie stellen.

In unserem Verständnis ist es ein Dokument der autonomen Arbeiteraktion, in der sich ein Verständnis des selbstständigen revolutionären Handelns ausdrückt und eines der Solidarität mit einem verfolgten Genossen.

Für mich war Georg K. Glaser, der als junger Proletarier, antiautoritärer Rebell, Vagabund und militanter Kommunist diese Zeit miterlebt hat, richtungsweisend: „Mit der Gestalt van der Lubbes hat man den Begriff des Rebellen verdammt, also des Menschen, der nach eigener Entscheidung eine eigene Tat begeht, die er für richtig hält – um stattdessen nur noch den politischen Soldaten gelten zu lassen.“

Die zwei Arbeiterbürokratien, die wesentlich die Arbeitermassen kontrollierten, die Kommunistische Partei und die Sozialdemokratie, haben durch ihre Politik der disziplinierten Passivität lähmend und demoralisierend gewirkt. Sie haben die „Arbeiterklasse“ dem Terror der Konterrevolution ausgeliefert, den die Nazis durch ihre Bürgerkriegs-Miliz an der Seite der staatlichen Polizei in Szene setzten.

Dem Rotbuch ist auch mitgegeben: das unkontrollierbare Element, die subversive Kraft, die die proletarische Bewegung freigesetzt hat. In einem Brief an einen Genossen in Leiden, während seiner Wanderung durch Deutschland 1932, schreibt Rinus: „Sag doch, Genosse, dass Du wirklich verstehst, dass die Arbeiter nicht bloß durch Worte von Führern sich gegen den Faschismus auflehnen, sondern überall in ganz Deutschland als Klasse.“

Du stellst Dich mit großem Furor auf seine Seite. Es ist natürlich richtig, Verleumdungen zurückzuweisen. Aber kann es nicht sein, dass Marinus van der Lubbe von den Nazis instrumentalisiert wurde?

Ja, Marinus van der Lubbe wurde instrumentalisiert: von der Kommunistischen Partei und der Sozialdemokratie, um ihr Versagen gegenüber dem Sieg der Konterrevolution 1933 und ihre Mitschuld an der Katastrophe der Arbeiterbewegung zu kaschieren; von den Nazis als Symbol der dämonischen Unterwelt, vor der es Deutschland zu retten galt.

Die Lohnschreiber der Komintern haben im Braunbuch gegen Rinus einen mustergültigen Schauprozess veranstaltet, ihre fabrizierte Lügengeschichte hat die gleiche Monstrosität, wie einige Jahre später die berüchtigten Moskauer-Prozesse. Zum Glück entscheiden Experten nicht die Fragen, die Revolutionäre zu ihrem Handeln antreiben. Ein radikales Verständnis der Geschichte sollte nicht als Fleißaufgabe angesehen werden und sich darin erschöpfen, eine Anhäufung von Details zu sortieren. (2) Geschichte ist weder Versprechen noch Alibi. Sie legitimiert zu nichts.

Ein revolutionäres Handeln trachtet danach, das geschichtliche Kontinuum aufzusprengen und den Fortschritt der kapitalistischen Produktionsverhältnisse still zu stellen. Statt sich am Durchschnittstypus der Historiker zu orientieren, die stolz darauf sind, aus der Geschichte, je nach Auftraggeber, alles herauslesen zu können, was sonst nur eine Wahrsagerin aus ihrer Glaskugel vermag, sollten wir Walter Benjamin zu Rate ziehen. Er schrieb in seinen Geschichtsphilosophischen Thesen: „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ‚wie es denn eigentlich gewesen ist‘. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.“ Und in „jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen“.

Im Abschnitt „Politische Betrachtungen“ wird die Niederlage der revolutionären Bewegungen von 1918 bis 1920 dargestellt als „Frucht von Parteiintrigen auf der gesamten Linie, vom Zentrum bis zur VKPD und USPD, damals unter Führung von Dr. Paul Levi“. Kein Wort findet sich über die Tatsache, dass alle Aufstandsversuche militärisch schon längst blutig niedergeschlagen waren. Nicht mit einem Satz wird die eigene rätekommunistische Praxis hinterfragt, die in die absolute Bedeutungslosigkeit führte. Stattdessen wieder der Vorwurf: „Auf Euch, Genossen, Mitproletarier, ruht die entsetzliche Schande, einen unserer besten Genossen, Marinus van der Lubbe, ohne den geringsten Protest aus eigener Schwäche und mangels Klassenbewusstsein an unsere größten Feinde von rechts und links ausgeliefert zu haben.“

Die rätekommunistischen Verteidiger lassen sich tatsächlich zu folgenden Sätzen hinreißen: „Die leuchtende Fackel der Revolution, deren Flammen aus der Kuppel des Reichstagsgebäudes aufloderten und die die Herzen von Millionen Proletariern voller Erwartungen auf Rettung einen Moment lang höher schlagen ließ, die jedem wahrhaftigen Revolutionär die Hoffnung gab, daß endlich etwas geschehen würde, versetzte die Bonzen der Zweiten und Dritten Internationale in Angst.“ Mir ist nicht bekannt, dass Rudolf Rocker oder Erich Mühsam eben dieses in dem Brand sahen, oder?

Ich glaube nicht, dass dem Reichstag massenhaft nachgetrauert wurde. Wirkliche Trauer und Entmutigung unter den Aktivisten und organisierten Arbeitern, auch den linken Demokraten, dürfte hingegen der vollständige Zusammenbruch der Organisationen der Arbeiterbewegung ausgelöst haben.

Der Untergang der disziplinierten Massenapparate bleibt doch das historische Desaster.

Die Frage ist, meiner Meinung nach, nicht, ob man nun die politische Analyse oder das Pathos der holländischen Genossen teilt, sondern warum denn ein junger Proletarier aus Leiden, bekannt in seiner Heimatstadt als aktiver Revolutionär, den seine Freunde Dempsey nannten, der seit einem Arbeitsunfall schlecht sah und der als Maurer keine Arbeit mehr fand, dafür verantwortlich sein soll, dass die Nazis die polizeilichen Machtmittel, die ihnen als Regierungspartei zugefallen waren, auch nutzten, um ihre Terror-Diktatur zu errichten? Was ausblieb: eine Anknüpfung an die Generalstreik-Aufstandsbewegung wie gegen den Kapp-Putsch 1920. Die Erinnerung daran war bei den Arbeitern lebendig, und auf Seiten der Konterrevolution gefürchtet.

In Österreich wurde dies versucht. Ausgehend von Linz 1934 rebellierte im Februar 1934 ein Teil des Republikanischen Schutzbundes gegen die sozialdemokratische Führung und erhob sich gegen die Dollfuß-Regierung und die faschistischen Heimwehren.

Dieser heroische Aufstand der Schutzbündler machte die Niederlage für die Arbeiterbewegung in Österreich weniger bitter, als sie in Deutschland war. Und in Spanien, wo der letzte Akt des Drama unserer Niederlage in Europa ausgefochten wurde, vor dem Massaker des 2. Krieges, fand das bislang letzte Gefecht zwischen „sozialer Revolution“ und „Konterrevolution“ statt.

Wir können im Februar 1934 in Österreich, dann im Oktober in Asturien und nach dem Franco-Putsch Juli 1936 in ganz Spanien beobachten, was in Deutschland 1933 gefehlt hat.

(1) www.anarchismus.at/anarchistische-klassiker/erich-muehsam/7002-erich-muehsam-1878-1934

(2) Anmerkung Lutz Schulenburg: Wenn die saubere Geschichtsschreibung sich in monströse Kolportage und in kleinteiligem Aktenfleiß erschöpft, kann eine literarische Fiktion dazu anregen, die Fragestellung geschmeidig zu halten, so in Robert Bracks Kriminalroman Unter dem Schatten des Todes. Im 3. seiner auf Tatsachen beruhenden Roman-Serie über die Krisensituation 1932/33 schafft er Marinus van der Lubbe einen würdigen historischen Echoraum.

Das Rotbuch. Marinus von der Lubbe und der Reichstagsbrand. Aus dem Niederländischen übersetzt und herausgegeben von Josh van Soer. Aktualisierte Neuauflage, 192 Seiten, 16,90 Euro, Edition Nautilus, Hamburg 2013, ISBN 978-3-89401-776-7