Das gerne gepflegte Understatement der Metropolis Westfaliae verstellt schnell den Blick auf die geistigen und kulturellen Potenziale der Domstadt. Kaum jemand vermutet hier ein Zentrum des deutschen Anarchismus. Dabei arbeitet mit Dr. Bernd Drücke der Koordinationsredakteur der Zeitschrift „Graswurzelrevolution“ am Breul. Mit dem sympathischen Soziologen unterhielt sich draußen-Redakteur Michael Heß über Biografie, Ideale und Zeitschrift.
Dem 47-jährigen Soziologen war sein Werdegang nicht unbedingt in die Wiege gelegt. In Unna in eine Gärtnerfamilie hineingeboren, besucht er nach der Grundschule ein Gymnasium. Erste Weichenstellungen aus dem eher konservativen Milieu seiner Jugend heraus erfolgen mit der Gründung einer Schülerzeitung und sozialer Emphase für Mitschüler als Schülervertreter. So ungefähr mit 15 Jahren habe er begonnen, sich ernsthaft mit der Welt des Anarchismus zu beschäftigen.
Der Blick für Andere schließt das Interesse für Musik fernab des Mainstreams ein.
Ton Steine Scherben oder Cochise heißen die Rockbands seiner Wahl. Damals wie heute gelten sie Insidern als eine Klasse für sich. Immer mehr verfestigt sich das egalitäre Weltbild auf gewaltfreier Grundlage. Nach dem Abitur verstärkt sich Drückes Engagement „gegen Krieg und Militarismus, für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft“. Nein, er mochte nicht gern für billiges Öl sterben, wie es ein Plakatklassiker der Graswurzelwerkstatt aus der Zeit des Golfkriegs 1991 ironisch formuliert. Besser ein Studium, nämlich das der Soziologie, Politik und Pädagogik an der Münsteraner Universität. „Eigentlich wollte ich Geschichte studieren, aber da war damals der Numerus Clausus vor“, erinnert sich der Redakteur. Er nimmt die Herausforderung an, studiert und promoviert 1998 passend über das Thema „Anarchistische Presse in Ost- und Westdeutschland“. Die heutige Tätigkeit kündigt sich früh an und im Privaten kommt eine Familie dazu. Der erste Sohn ist 20 Jahre alt, der zweite acht.
Die Familie lebt mit 60 Mitstreitern im selbstverwalteten Wohnprojekt am Breul.
Irgendwie passt hier alles zusammen. Der frisch promovierte Soziologe mit dem anarchistischen Weltbild hat das Glück des Tüchtigen. Denn die Zeitschrift „Graswurzelrevolution“, auf die noch zu kommen sein wird, sucht 1998 einen neuen Koordinationsredakteur alias Verantwortlichen im Sinne des Presserechts, im Kürzel als V.i.S.d.P. bekannt. Der Jungakademiker und Doktor bewirbt sich kurz entschlossen neben zehn weiteren Kandidaten, bekommt den Zuschlag und erinnert sich vierzehn Jahre später: „Meine Dissertation war gerade erschienen und hatte in der Zeitschrift eine hervorragende Rezension erhalten.“ Das konnte keiner der Mitbewerber toppen und seitdem sind er und die Zeitschrift nicht eben eins, aber fast. Der Erfolg schließt die Eltern in Unna mit ein. „Heute lesen auch sie die Zeitschrift“, lacht Bernd Drücke, aber nein, Anarchisten seien sie deshalb nicht. Dennoch: Mehr Anerkennung und Respekt kann man von seinen Eltern kaum erwarten.
Nur über wenige Denkfiguren herrscht so viel Unkenntnis wie über den zeitgenössischen Anarchismus. Zwar befürworteten manche der Urväter im 19. Jahrhundert Gewalt gegen den Staat bzw. dessen Vertreter. Die herrschaftsfreie Gesellschaft sollte nach Ansicht von Proudhon oder Bakunin notfalls herbeigebombt werden – es war schon damals ein Widerspruch in sich, der allenfalls zu noch mehr staatlicher Repression führte. Manches gekrönte und gewählte Haupt fiel Bomben und Pistolen zum Opfer. Zar Alexander II. 1881 und 1901 der US-amerikanische Präsident William McKinley (nebenbei: der Prototyp eines Imperialisten) seien stellvertretend genannt. Solche Aktionen prägen in vielen Köpfen bis heute das Bild des bombenverliebten Anarchisten, befördert durch die bürgerliche Journaille.
Mit dem heutigen Anarchismus hat das nichts mehr zu tun. Schon lange hat er seinen gewalttätigen Schrecken verloren und entfaltet als „New Anarchism“ bemerkenswerte Attraktivität für Andersdenkende und Sinnsucher. Die Ausformungen sind in Theorie und Praxis derart vielfältig, dass eine alles umfassende Definition unmöglich ist. Es gibt diverse Strömungen und Kontakte zu weiteren linken Subkulturen wie Hardcoremusikern, Tierrechtlern, Vegetariern und Veganern, zur Drogen ablehnenden Straight Edge-Bewegung. Occupy ist zu nennen (tatsächlich ist der Occupy-Übervater David Graeber bekennender Anarchist, vgl. auch die Rezension zu seinem Buch „Schulden“; in: ~ Nr. 10/2012) und natürlich der Pazifismus selbst. Die Schnittmenge beider Ideenwelten ist so groß, dass Anarchismus als eine treibende Kraft der Friedensbewegung gelten darf. Anarchisten wie Sacco und Vanzetti, Erich Mühsam, Willy Holtz und Willi Jelinek gingen für ihre Überzeugung in den Tod. Die einen in den USA der Zwanziger Jahre, die anderen unter den Nazis, in der stalinistischen Sowjetunion und in der frühen DDR. Egal ob bürgerliche Demokratie, Terrordiktatur oder Rätesystem – verfolgt wurden sie überall und waren doch nicht tot zu kriegen. Die heutige Bewegung unterhält auch Kontakte zu kommunistischen und sozialistischen Gruppen sowie als Freie Arbeiter Union (FAU) ins gewerkschaftliche Milieu. In einer Welt, die von Afghanistan bis Zypern militärische Gewalt zur Durchsetzung imperialer Interessen akzeptiert, entfaltet die konsequent friedliche Ideenwelt des zeitgenössischen Anarchismus außerparlamentarische Attraktivität bis ins bürgerliche Lager hinein. Denn Anarchisten und Autonome sind zwei verschiedene Paar Schuhe, ebenso wie ein unreflektiertes Gutmenschentum im Zeichen der Sonnenblume. Dass David Graeber mittlerweile als Gast in Talk Shows brilliert, ist kein Zufall.
Stimmt schon, es gibt Länder wie die in Südeuropa oder die USA mit einer deutlich stärkeren anarchistischen Tradition als Deutschland.
Aus der hiesigen Ideologiengeschichte ist sie gleichwohl nicht zu eliminieren.
Aus Münsters Stadtgesellschaft ebenso wenig. Das im September 2010 am Servatiiplatz aufgestellte Standbild des Anarchisten Paul Wulf avancierte zuvor zum Stadtgespräch und Publikumsliebling der 2007er Skulpturenausstellung und mit ihm die Zeitumstände des solcherart Geehrten, der 1999 verstarb. Im August 2012 wird der nördlich des Schlossparks liegende Jöttenweg in Paul Wulf-Weg umbenannt (siehe dazu auch „Ehre, wem Ehre gebührt“ in: draußen Nr. 10/2012). Treibende Kraft hinter Aufstellung und Umbenennung war der Freundeskreis Paul Wulf um Bernd Drücke, der Wulf noch persönlich kannte und schätzte. Die Skulptur am Servatiiplatz dient zugleich als Infoträger; Spenden für die weitere Plakatierung sind immer willkommen (siehe Infokasten).
Mag die Szene in der Bundesrepublik überschaubar sein, aktiv ist sie allemal.
Und bestens vernetzt. Unter anderem über die Zeitschrift „Graswurzelrevolution“, für die Dr. Bernd Drücke seit 1998 als Koordinationsredakteur verantwortlich zeichnet. In einem Büro im Haus der Evangelischen Studentengemeinde entsteht kein Zentralorgan (bitte keine Hierachien!), wohl aber ein zentrales, wenn auch nicht einziges Printmedium der Szene. Als „herrschaftsfreies Sammelbecken“ gilt die bereits 1972 gegründete
Zeitschrift mit dem 40-köpfigen Herausgeberkreis (von 20 bis 84 Jahren) und als Sprachrohr sozialer Bewegungen zwischen Friedensengagement, Öko, Atom und Gentech in lebhafter Debatte. Dabei sei das auf seine 400ste Ausgabe hin arbeitende Blatt weder Flugblattsammlung noch klassische Szenezeitung. Am Breul sorgfältig redigiert und layoutet, werden in den zehn Ausgaben per anno allein Erstdrucke veröffentlicht. Honorarfrei, versteht sich. Löst ein eingereichter Beitrag Kontroversen aus, entscheidet der Herausgeberkreis basisdemokratisch über den Abdruck. Im Einzelfall ein aufwändiges Procedere, ist der Kreis doch übers Land verteilt. Vertrieb und Buchhaltung ebenfalls und die Redaktion halt am Breul in Münster. Vernetzt ist man auch international über die 1921 gegründete War Resisters ? International (WRI) mit ihren 90 Friedensorganisationen in 45 Ländern. Unterm Strich hält das Blatt bei einer stabilen Auflage von etwa 4.000 Exemplaren bis zu 20.000 Empfänger auf der anarchischen Höhe der Zeit. Für 3 Euro pro Ausgabe. Zuweilen gelingen echte Husarenstücke. Wie mit dem sog. Utopia-Projekt. Aus einer Schnapsidee im Wortsinne entwickelte sich die größte anarchistische Jugendbeilage in Deutschland seit den 20er Jahren. Mit einer Auflage von 25.000 Exemplaren, verteilt in Jugendzentren, auf Schulhöfen und so weiter. Respekt! Derzeit wird das Projekt neu konzipiert. „Die Graswurzelrevolution ist ein Blatt, mit dem der Anarchismus in Würde altern kann“, schmunzelt der verantwortliche Redakteur und meint, die Abgeklärtheit des Alters ergänze sich doch bestens mit dem Ungestüm der Jugend. Klar, der Anarchismus macht da keine Ausnahme.
Auch mit dem Graswurzeltouch bleibt der Münsteraner Breul Teil einer Gesellschaft, in der trotz verbaler Gleichheit subtile Gewalt und Hierarchien bestimmen. Was treibt zum Weitermachen?
„Anarchismus kann die Menschen verändern, auch durch seine Aktionsformen, die von unten kommen“, sagt Bernd Drücke nach einigen Sekunden nachdenklich. Es ist die Nachdenklichkeit der Art, die um ihre Widerständigkeit und Vitalität weiß.
Michael Heß