Selten hat allein das Herumliegenlassen eines Buches derart viele Nachfragen in meinem Umfeld zur Folge, wie dieses.
In wenigen Worten: „Die andere Beziehung. Polyamorie und philosophische Praxis“ ist lesenswert, gedankensortierend und gedankenstrukturierend, aber möglicherweise weder was wirklich Neues, noch in der Lage, meine aktuellen Beziehungsprobleme zu lösen. Dennoch alles andere als enttäuschend.
Worum geht es?
Texte zu Polyamorie leiden all zu oft darunter, im weitesten Sinne „offenere“ Beziehungsformen zu glorifizieren, deren spezifische Probleme klein zu reden und Menschen das Recht auf klassische Treue-Ausschluss-Beziehungen abzusprechen. Dass dieses Buch eben das nicht tut, ist ein großer Pluspunkt und macht es so interessant. Texte der beiden Schreibenden wechseln sich im Buch ab, sie widmen sich zahlreichen unterschiedlichen Fragen, die im Bezug auf Polyamorie von Relevanz sind.
Zu Beginn stehen Fragen nach Projektionen, Hoffnungen und genauerer Klärung des romantischen Beziehungsmodells im Mittelpunkt. Welches Selbstbild und welche Erwartungen stecken hinter der Entscheidung für oder gegen eine klassisch romantische heteronormative Beziehung? Wie viele Menschen entscheiden sich unreflektiert und blind für das gesellschaftliche Mainstream-Modell?
Welche unserer Werte, Gefühle, Vorstellungen und Sehnsüchte sind genetisch, unumstößlich, festgesetzt und welche rein kulturell bedingt? Wie könnten realistische Beziehungsideale aussehen, die zu den Lebensrealitäten der beziehungsführenden Menschen passen?
Es folgt der Versuch, Kriterien zur Vergleichbarkeit verschiedener Liebesbeziehungen bzw. zur Messbarkeit von Liebe zu entwickeln.
Der Gedankengang, das an Intimität als wesentlichem Beziehungsbestandteil festzumachen, der wiederum auf Komplettberücksichtigung (die andere Person als Ganzes lieben) und Komplettbestätigung (dem/der anderen bedingungslos den Rücken stärken) der beziehungsbeteiligten Personen basiere, erschien mir durchaus spannend.
Insgesamt bewerte ich die Ausführungen jedoch (zumindest für meine Lebensrealität) als wenig zielführend oder hilfreich, zumal das Kapitel mit der Feststellung endet, dass nun zwar auf komplexe Weise Liebe zu etwas messbarem definiert wurde, das Maß der Liebe jedoch nur einer von mehreren Anhaltspunkten bei der Entscheidung für oder gegen eine Beziehung sein kann.
Weitere Aufsätze widmen sich dann den Themen Eifersucht und Sexualität, thematisieren Exklusivitätsansprüche und inwieweit sie sich aus dem Wunsch nach Komplettberücksichtigung zwingend ergeben oder eben auch nicht, kratzen an den kategorischen Grenzen zwischen Beziehung und Freundschaft.
Gegen Ende versuchen sich die AutorInnen daran, dann doch so etwas wie eine grundsätzliche Beziehungsethik aufzustellen. Der Anspruch auf universelle Anwendbarkeit für verschiedenste Beziehungsmodelle macht es dabei notwendig, generelle Handlungsmaximen aufzustellen, die mehr auf einer Metaebene das Wie des grundsätzlichen Umgangs miteinander und der Wertschätzung füreinander regeln, als dass sie konkrete Anweisungen liefern würden.
Verstanden werden soll diese Beziehungsethik als die Grundlage auf der dann Menschen miteinander die konkreten Bedingungen und Absprachen für ihre jeweiligen individuellen Bedürfnisse ihrer einmaligen Beziehung aushandeln können. Es bleibt ein etwas seltsamer Beigeschmack bei so viel Konstruktion neuer Moral, obwohl ich den Gedankengängen nicht nur folgen kann, sondern die formulierten Ansprüche und Vorstellungen weitgehend teile.
Etwas gekünstelt, aber dennoch als angenehm abrundend habe ich den Schlussdialog der beiden AutorInnen wahrgenommen, die sich gegenseitig kritische Nachfragen zu ihren jeweiligen Texten stellen und so möglichen Kritikpunkten und Unklarheiten direkt und offen begegnen.
Eine passende Ergänzung stellt das im gleichen Verlag erschienene theroie.org „polyamory“ dar. Wie auch die weiteren Titel dieser Reihe ist das Büchlein ein fundierter theoretischer Einstieg in das Thema, es umreißt sowohl die Herkunft des Begriffs Polyamory wie auch die historische Entwicklung verschiedener Beziehungsformen. Schwerpunkt ist jedoch der heutige wissenschaftliche Blick auf dieses Beziehungsmodell. Angenehm im Fokus steht hierbei immer wieder das Selbstbestimmungsrecht der beteiligten Individuen.
Etwas zu einfach erscheinen mir die Überlegungen zu Eifersucht, die Eifersucht als angelernt und somit auch abtrainierbar begreifen, was zwar stimmen mag, Umfang und Größe dieser Herausforderung aber meines Erachtens vernachlässigt.
Insgesamt ist auch dieses Buch sehr lesenswert, jedoch deutlich soziologisch-theoretischer und weniger persönlich als „Die andere Beziehung“, dessen authentische Ehrlichkeit den Zugang zum Thema möglicherweise erleichtert.
Hofmann, Imre/Zimmermann, Dominique: Die andere Beziehung. Polyamorie und philosophische Praxis, Schmetterling-Verlag, Stuttgart 2012, 156 Seiten, 12,80 Euro, ISBN 3-89657-064-1
Schroedter, Thomas / Vetter, Christina: Polyamory, theorie.org, Schmetterling-Verlag, Stuttgart 2010, 168 Seiten, 10 Euro, ISBN 3-89657-659-3