Der Alibri-Verlag hat ein Buch mit Texten des weltbekannten Schriftstellers und Christen Leo Tolstoi (1828 – 1910) veröffentlicht.
Das macht neugierig, auch weil dieser Verlag orientiert ist an der Kritik von Religion und Esoterik. Alibri steht in der Tradition kritischer, diesseitsorientierter Aufklärung, die auf die Emanzipation des Menschen abzielt.
Aktuell läuft in den Kinos gerade die Neuverfilmung von Anna Karenina (1878).
Dieser Roman von Tolstoi zählt neben Krieg und Frieden (1869) zu den Klassikern des realistischen Romans.
Seine Werke entstanden in der Epoche des russischen Realismus und machten Tolstoi berühmt. Anna Karenina handelt von Ehe und Moral in der adligen russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts.
Nach diesen literarischen Erfolgen entwickelte Tolstoi eine andere literarische Orientierung und verstärkt Religions- und Gesellschaftskritik.
Die vom Herausgeber Ulrich Klemm zusammengestellte Textauswahl konzentriert sich neben kurzen Auszügen aus religionskritischen Hauptwerken auf entsprechende Briefe und Tagebuchaufzeichnungen.
Interessant ist auch der veröffentlichte und bis heute nicht aufgehobene Exkommunikationsbeschluss der griechisch-russischen Kirche gegen Tolstoi aus dem Jahr 1901.
Das Buch hat also eine religions-philosophische Ausrichtung. Die Bergpredigt (Bibel, Neues Testament, Matthäus Kap. 5-7) und die daraus abgeleiteten Gebote sind Tolstois Maßstab der Gesellschaftskritik.
Religion sei keine Angelegenheit des Glaubens sondern der Vernunft und dabei ist der Weg der Liebe für ihn die einzige vernünftige Tätigkeit des Menschen. Tolstois gesellschaftliche Orientierung ist Aufklärung, Verweigerung, d.h. gewaltfreier Widerstand gegen Herrschaft und Gewalt und auch die eigene Selbstvervollkommnung. In diesem Sinn war Tolstoi reformpädagogisch tätig. Es gründeten sich gegen Ende des 19.Jahrhunderts international „Tolstoi-Schulen“. Tolstoi gab auch Motivation und Begründung zur Kriegsdienstverweigerung.
Zum näheren Verständnis der Tolstoi-Texte gibt es von Ulrich Klemm ein interessantes Vorwort, das den Zugang der LeserInnen des Buches erleichtert. Für ChristInnen und religiös orientierte Menschen mag der Hinweis auf die Bergpredigt der Bibel schon Motivation genug sein die Tolstoi-Texte zu lesen.
Für AgnostikerInnen oder AtheistInnen ist der Zugang zu den Texten allein mit dem Hinweis auf die Bibel wenig anregend.
Vielleicht helfen folgende Informationen das Interesse zu wecken: Historisch sind Tolstois Schriften um 1900 während einer Zeit entstanden, in der Kulturkritik, Moral und Ethik zentrale Themen waren. 1910 schrieb der Anarchist Gustav Landauer: Tolstoi war wie Jean Jacques Rousseau „eine Einheit von Rationalismus und inbrünstiger Mystik“. Rousseau und Tolstoi werden auch von dem bekannten Rationalisten Bertrand Russell in eine geistige Verbindung gestellt, weil ihr Streben nach Bedürfnislosigkeit, Natürlichkeit und Individualität schon in der griechischen antiken Philosophie der Skeptiker seine Wurzeln findet.
Selbst jemand wie der Feidenker Bruno Wille (1860-1928), der mit seiner „Philosophie der Befreiung“ an Friedrich Nietzsche und dem Individualanarchisten Max Stirner orientiert war, betonte den christlichen Anarchismus von Tolstoi gegen Staat und Kirche. Die Zeitschrift „Der Atheist“ schrieb 1910: „In Tolstoi steht uns nicht der Pfaff gegenüber, sondern der Christ, der unsere Achtung und ehrliche Bewunderung heischt.“
In der libertär-pazifistischen Bewegung hat Leo Tolstoi auch heute einen festen Platz, seine Schriften sind lesenswert.
Leo Tolstoi, Kirche und Gesellschaft. Religionskritische Schriften, Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, hg. von Ulrich Klemm, Alibri Verlag, Aschaffenburg 2012, 137 Seiten, 13 Euro, ISBN 978-3-86569-131-6