Jürgen Lodemann, Fessenheim - eine Novelle, Klöpfer & Meyer, Tübingen 2013, 148 Seiten, geb. mit Schutzumschlag, 18 Euro, ISBN 978-3-86351-057-2
An einem schönen Sonntagmorgen im August gerät die Erdkruste bei Konstanz, wo der Bodensee sich in den Rhein ergießt, für knapp neunzehn Sekunden in ein Beben der Stärke 8,3, das den Grund des Seeausgangs metertief aufreißt.
Die Folgen sind verheerend.
9000 Kubikmeter Wasser pro Sekunde drängen auf die erweiterte Öffnung zu. Eine Wasserwalze schießt nach Basel hinab, reißt einen guten Teil der chemischen Industrie mit sich und erreicht wenig später den Atommeiler Fessenheim, dessen altersschwache Fundamente den entfesselten Naturkräften nichts entgegenzusetzen haben.
Der „teutonische Tsunami“ löst eine nukleare Kettenreaktion aus, und aus der zerstörten Anlage steigt eine radioaktive Wolke auf, die – begünstigt von einer Brise aus der burgundischen Pforte – sanft auf Freiburg zutreibt. Dieses apokalyptische Szenario ist der Stoff, aus dem die neue Novelle von Jürgen Lodemann gewebt ist. Seine literarische Antwort auf Fukushima, mit Fabulierlust vorgetragen.
Wer nun denkt, hier sei jemandem die Phantasie durchgegangen, der sollte eines Besseren belehrt werden. Die Region Basel zählt weltweit zu den Zonen mit dem größten Erdbebenrisiko, Basel gehört mit San Francisco zu den zehn am meisten gefährdeten Städten. Ein Blick zurück in die Geschichte genügt. Am Abend des 18. Oktober 1356 legte ein gewaltiger Erdstoss Basel in Trümmer.
Noch acht Tage später wütete die Feuersbrunst. Es war das stärkste Erdbeben nördlich der Alpen seit Menschengedenken. Nach Ansicht des Schweizer Erdbebendienstes ist eine Wiederholung nicht ausgeschlossen. Doch während die Sicherheits-Fachleute im Ernstfall dramatische Katastrophen-Szenarien für realistisch halten, verdrängt die Bevölkerung die Gefahr erfolgreich. Im Gegensatz zu San Francisco gibt es im Raum Basel – von einigen Bemühungen der Industrie abgesehen – weder generelle bauliche Vorkehrungen noch eine breite Verhaltensschulung der Öffentlichkeit.
Die fortschreitende Erderwärmung eröffnet ein weiteres Szenario des Schreckens: das sogenannte Flash Flooding, das in jüngster Zeit in Europa vor allem Italien und Frankreich heimgesucht hat. Ein dreitägiger sturzbachartiger Dauerregen am Rhein zwischen Winterthur und Lörrach würde mit seiner Flutwelle Fessenheim wegspülen und einen Super-GAU auslösen.
Der Atomunfall in Fukushima hat Japan bisher ungefähr 200 Milliarden Euro gekostet. Laut einer soeben veröffentlichten Studie des französischen Instituts für Strahlenschutz und nukleare Sicherheit würde ein mit Fukushima vergleichbarer Atomunfall in Frankreich rund 430 Milliarden Euro kosten.
100.000 EinwohnerInnen wären auf der Flucht und die Ernten vernichtet. Französische Agrarprodukte würden unverkäuflich werden, kein Mensch würde mehr französischen Wein trinken wollen. Die Japaner haben noch verhältnismäßig Glück gehabt. Günstige Winde haben die atomare Wolke aufs Meer hinaus geweht. Diesen Vorteil gibt es am Oberrhein nicht. Die radioaktiven Partikel aus Fessenheim würden eingeschlossen von Schwarzwald und Vogesen das gesamte Dreiecksland verseuchen.
Mit einer gehörigen Portion Süffisanz beschreibt Jürgen Lodemann, wie das beschauliche Freiburg sich in eine Geisterstadt verwandelt und die überrumpelten EinwohnerInnen auf der Flucht die steilen, schmalen Täler des Schwarzwaldes verstopfen.
Die Behörden sind auf den GAU nicht vorbereitet, es gibt keinen Evakuierungsplan, Panik greift um sich, jeder ist sich selbst der Nächste. Und das in einer Stadt, die in der Bundesrepublik als Flagschiff einer vorausplanenden Umweltpolitik gilt, weltweit anerkannt als Trendsetter einer funktionierenden Energiewende, in deren Vorzeigestadtteil Vauban es nur so wuselt von grün-alternativen Projekten und Werkstätten für eine bessere ökologische Zukunft.
Jürgen Lodemann, der aus dem Ruhrpott stammt, wohin es ihn regelmäßig zurückzieht, lebt hier mittendrin und hat schon in seinem vorherigen Roman „Salamander“ diese Gemengelage aus Suche nach alternativen Lebensformen und selbstzufriedener neuer Bürgerlichkeit bissig aufs Korn genommen.
Ihn verbindet eine tiefe Zuneigung mit seiner Wahlheimat und dem angrenzenden Schwarzwald, dem Ort, wo Wilhelm Hauffs Märchen „Das kalte Herz“ entstand,- eine radikale Abrechnung mit der Entfremdung des Menschen im heraufziehenden Kapitalismus.
Hier haben schon immer Aufklärer und Aufrührer gelebt, von Erasmus von Rotterdam bis zu den badischen Radikaldemokraten und Frühsozialisten um Friedrich Hecker, die 1848/49 im Großherzogtum Baden die Monarchie stürzen und eine Republik zu errichten versuchten.
Hauptfigur Ben Busch, ein sprachbegabter Nachwuchsjournalist, nachhaltig gefördert von Josef Oberst (!), Chef der Reportageseite bei der Freiburger Zeitung, begegnet der schönen Geologin Petra „mit kurvigem Haar wie Wasserfälle“, die nachts feinste seismographische Erschütterungen am Rhein bei Konstanz protokolliert.
Mit ihrer Hilfe beschreibt er unter dem Titel „Wenn Meiler explodieren“ eine „unerhörte Begebenheit“, die im „harmoniesüchtigen“ Freiburg wie eine Bombe einschlägt und durch den Abdruck in einer großen Berliner Zeitung auch die Hauptstadt erschüttert. Lodemanns vorwärtsdrängende Prosa erinnert mich teilweise an Christian Geisslers Stil in seinem Roman „Brot mit der Feile“. Sie hat aber auch etwas Märchenhaftes. Politisches Plädoyer verschmilzt mit Traumsequenzen am Rhein, wenn die Geologin und Kundschafterin erdgeschichtlicher Verwerfungen ihrem nächtlichen Gefährten „von unaufhörlich wirksamen Transitzuständen“ ins Ohr flüstert, „von Zeichen aus brüchigen Gründen, aus diesen dauerhaft labilen Verworfenheiten namens Leben, dem unendlich Launischen, ewig Gebrechlichen“. Lodemann glaubt unerschütterlich an die Erneuerung, die Novellierung.
Bei ihm geschieht sie durch Frauen wie Petra, „die bestmögliche Verbesserung des Sternstaubs, ein Materienzauber, der zu Ende denken kann“.
Er überrascht seine LeserInnen mit profunden Kenntnissen aus der Welt der Geologie, und Ben Busch erfährt so nebenbei von Petra, dass der Sohn von Alfred Döblin, Wolfgang Döblin, ein mathematisches Genie war, der sich auf der Flucht vor den Nazis 1940 in den Vogesen das Leben nahm. Solche und andere Details machen den Band lesenswert, weit über die unmittelbare Geschichte hinaus.
Wie schon in früheren „Schwarzwaldgeschichten“ kreist Lodemanns Novelle erneut um das Dreiecksland. Ist er deshalb ein Heimatdichter? Nein, sondern einer, der einen genauen Blick auf seine nächste Umgebung wirft, um das große Ganze zu erzählen.