anarchismus

Von der Leichtigkeit des libertären Daseins

Cindy Milsteins Der Anarchismus und seine Ideale (Unrast 2013) ist optimistisch und wirft Fragen auf

| Philippe Kellermann

Sebastian Kalicha hat im Februar 2013 in seinem Artikel "Quo vadis, Anarchismus?" in der Graswurzelrevolution Nr. 376 anhand der Textsammlung des CrimethInc.-Kollektivs (Unrast, 2012) und des Buches Black Flame von Schmidt/van der Walt (AK Press, 2009) zwei gegensätzliche Anarchismusverständnisse vorgestellt und in ihrer jeweiligen Rigidität kritisiert.

Zu Recht fordert er einen „notwendigen Reflexionsprozess“ über die Frage, ab wann „Heterogenität bzw. Rigidität schädlich für die Bewegung“ werde – gerade auch, wenn man – wie er und der Autor dieser Zeilen – die Auffassung vertritt, dass „Heterogenität“ grundsätzlich als ein „Zeichen von Vitalität“ zu verstehen und zu begrüßen ist, man aber nicht in „Beliebigkeit“ verfallen will.

Im Folgenden soll allerdings nicht dieser Problematik nachgegangen, sondern ein anderer Punkt angesprochen werden. Die Differenz zwischen dem CrimethInc-Kollektiv und Schmidt/van der Walt betrifft ja anscheinend nicht nur die Frage, was genau als Anarchismus zu gelten hat, sondern es geht auch um die Frage nach dem Umgang mit der Geschichte des Anarchismus. Während die Autoren von Black Flame stark auf eine bestimmte Geschichte des Anarchismus reflektieren, tendiert allem Anschein nach das CrimethInc-Kollektiv dazu, die Geschichte des Anarchismus beiseite zu schieben.

Anhand des soeben ins Deutsche übersetzten Buchs von Cindy Milstein – Der Anarchismus und seine Ideale (Unrast, 2013) – möchte ich eine Position vorstellen und diskutieren, die sich eher in der Mitte der von Sebastian vorgestellten Ansätze platziert und dabei vielleicht am ehesten dem common sense im gegenwärtigen Anarchismus entsprechen mag.

Milstein ist eine nordamerikanische Aktivistin aus dem Umfeld des „Institute for Anarchist Studies“ und hat es sich zum Ziel gesetzt, „in den Anarchismus von der Warte des frühen 21. Jahrhunderts aus einzuführen“ (S.7f.). Das ist zu begrüßen und tatsächlich – sollte es stimmen, dass der „Anarchismus wieder auf den Plan getreten“ ist (S.92) – auch eine Notwendigkeit, um alte Antworten zu durchdenken, neue Fragen zu stellen.

Für Milstein ist Anarchismus eine „kompromisslose Philosophie der Freiheit!“ (S.8), deren „Kernfrage“ wäre: „Wie kann eine Welt aussehen, in der sowohl alle Individuen als auch die Gesellschaft als Ganze frei sind?“ (S.72)

Dieser Ausgangspunkt scheint mir zutreffend, denn die Frage ist wirklich, inwieweit ein „innere[r] Ausgleich zwischen den allseitigen Bedürfnissen des Einzelwesens und den sozialen Bindungen des Gemeinwesens (…), durch welche sich beide ergänzen und miteinander verwachsen fühlen“ (Rocker 1949: S.85), hergestellt werden kann.

Schwieriger wird es, wenn als „gemeinsame[s] Ziel“ aller AnarchistInnen eine „Welt ohne Staat und Kapital“ (S.41) angeführt wird, bzw. das Zerstören von „Warenform“ und „Herrschaft“ (S.54). Denn hier wäre näher zu klären, was unter „Kapital“ und „Warenform“ genau zu verstehen ist und – welche Position man in dieser Frage auch einnehmen mag – klarzustellen, dass es hierzu möglicherweise, ich würde sagen: ziemlich sicher, auch verschiedene Positionen im historischen und gegenwärtigen Anarchismus gibt.

Ohne eine solche Klärung stellt sich dagegen leicht die durch Assoziationen hervorgerufene Tendenz ein, den Anarcho-Kommunismus in seiner rigiden Form bei Kropotkin zu dem Anarchismus zu erklären – was historisch schon einmal verhängnisvoll war, für Max Nettlau gar die „Tragödie des modernen Anarchismus“ (Nettlau 1927a: S.236).

Ich würde als allgemeine Gemeinsamkeit des Anarchismus „die Verneinung des autoritären Prinzips in der sozialen Organisation“ vorschlagen, damit die Ablehnung aller „Zwangsmittel, die aus Institutionen hervorgehen, die auf diesem Prinzip gegründet sind“ (Faure 1925: S.25).

Diese Definition lässt sich dann weit interpretieren – was ich vorteilhaft finde. Milstein sieht richtig in der Potenz zu einer „umfassende[n] Kritik von Hierarchie und Herrschaft“ die Einzigartigkeit des Anarchismus „unter allen politischen Philosophien“ (S.46).

Diese Potenz hat ihr zufolge aber der klassische Anarchismus nicht entfaltet, er habe vielmehr „viele Herrschaftsformen“ übersehen (S.26).

Genannt werden „Gender und Race“ (S.26). Nun scheint mir dies nicht ganz überzeugend, denn AnarchistInnen haben erstens immer wieder darauf hingewiesen, dass es „wider alle und alles“ gehen müsse, „die und was da presst und saugt und büttelt“ (Most 1899: S.56), sei dies nun „elterliche, priesterliche und göttliche, politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche und moralische Autorität“ (Berkman 1929: S.9). Zweitens wurden z.B. Geschlechterverhältnisse als Herrschaftsbeziehungen problematisiert – z.B. vom mexikanischen Anarchisten Práxedis Guerrero zu Beginn des 20.Jahrhunderts: ohne Geschlechtergleichheit „im Haushalt“ würde dort „immer der Samen der Tyrannei liegen“ (zit.n. Trejo 2005: S.217). Auch das Problemfeld Race wurde im Kontext des Internationalismus gestellt.

Was Milstein allerdings konkret unter Schlagworten wie „Gender“ und „Race“ versteht bleibt eher im Dunkeln. Dabei wäre gerade an dieser Stelle eine Klärung notwendig, da ich beim besten Willen nicht behaupten möchte, dass im klassischen Anarchismus schon alles wichtige zu diesen Themen gesagt wurde.

Selbstverständlich zeigen z.B. der Umgang mit den „Mujeres Libres“ im Spanischen Bürgerkrieg (vgl. Bianchi 2003) oder das konkrete Versagen in Sachen Internationalismus (vgl. Nettlau 1927b: 123ff.), dass man hier keine Schönfärberei betreiben sollte. Man könnte sogar weiter gehen und sagen, dass es eine nicht unbeträchtliche Tendenz zu einem „Rassenanarchismus“ (Max Nettlau) gab – vor allem in der Differenzierung zwischen potentiell anarchistischen und eher autoritätshörigen Völkern (z.B. bei Bakunin, die Gegenüberstellung von Slaven und Deutschen), der immer wieder verhängnisvoll durchschlug (z.B.: im Ersten Weltkrieg bei Kropotkin u.a.). Aber zu sagen, dass der klassische Anarchismus diese Fragen einfach „übersah“ (S.26), scheint mir dann doch überzogen, der Hinweis er habe sie „oft vernachlässigt“ (S.26) schon eher zutreffend.

Milstein schreibt selbst, dass einer der „Grundwerte, die dem Anarchismus seit jeher seinen Charakter“ gegeben hätten, der „Internationalismus“ gewesen sei (S.28) und gegen Ende des Büchleins heißt es, dass der Anarchismus im 19. Jahrhundert seiner Zeit voraus war, „als er eine Welt transnationaler und multidimensionaler Identitäten propagierte“ (S.92).

Als wichtiges Thema wäre im Übrigen auch noch der mehr oder weniger stark ausgeprägte Antisemitismus mancher AnarchistInnen zu nennen.

Kernpunkt von Milsteins Kritik ist jedenfalls, dass sich „der Anarchismus in seinen Anfängen auf die zwei vermeintlich größten Hindernisse auf dem Weg zu einer befreiten Gesellschaft: Staat und Kapital“ konzentrierte (S.37). Hier fällt auf, dass die Religion nicht erwähnt wird – zuvor war einmal von der „Kirche“ die Rede (S.26). Auffällig ist dies, weil für nicht wenige AnarchistInnen des 19. Jahrhunderts die Religion und mit ihr die „geistige Versklavung“, als das eigentliche Fundament von Herrschaft betrachteten – diese werde „immer mit natürlicher Konsequenz zur politischen und sozialen Versklavung führen“ (Bakunin 1868: S.65).

Mit diesem Fokus unterlief der klassische Anarchismus denn auch immer wieder eine einfache Fokussierung auf Staat und Kapital und thematisierte das Problem herrschaftsförmiger Subjektkonstitution, z.B. auch die „freiwillige Knechtschaft“. Dieser Linie folgend, konnte beispielsweise der Anarchist Alexander Berkman betonen, dass wir lernen müssen „anders über Regierung und Autorität zu denken, denn solange wir so denken und handeln wie heute, wird es Intoleranz, Verfolgung und Unterdrückung geben, selbst wenn die organisierte Regierung abgeschafft ist“ (Berkman 1929: S.50).

Der wiederum nicht ganz unberechtigte Vorwurf Milsteins, wonach übersehen wurde, dass „zahlreiche gesellschaftliche Herrschaftsformen (…) auch im Falle einer Überwindung von Staat und Kapital weiter bestehen würden“ (S.44), wäre daher auch zu nuancieren.

Dass der klassische Anarchismus den „Bedarf an der Entwicklung nicht-hierarchischer Strukturen (…) unterschätzt“ hätte (S.26), scheint mir ebenfalls nicht zutreffend zu sein; seit dem „Jurazirkular“ war dies immerhin das organisationspraktische Thema. Man muss bei solchen Fragen auch die historischen Umstände berücksichtigen, z.B. die Verfolgungen, die das Organisieren erschwerten; außerdem der weitverbreitete Glaube, dass man – eine nahende Revolution vor Augen – gar keine Zeit und Kapazitäten zum Aufbau selbstverwalteter Strukturen besitze. Das Thema selbst aber war immer präsent.

Milsteins Ausführungen erscheinen mir – ihres Hinweises auf die „Würde der anarchistischen Geschichte“ (S.79) zum Trotz – eher simplifizierend, nichtsdestotrotz geben sie Fingerzeige auf Probleme im klassischen Anarchismus, die diskutiert werden sollten. Problematisch erscheint mir nun aber, dass diese Kritik nicht den Ausgangspunkt für eine fundierte Auseinandersetzung mit dem klassischen Anarchismus setzen möchte, sondern vor allem dazu dienen scheint, ein Lob – vor allem – auf den gegenwärtigen Anarchismus anzustimmen. Auf einmal erfährt man nämlich die schönsten Dinge: AnarchistInnen seien „immer ehrlich genug“, sich „die Sackgassen einzugestehen, in die sie sich auf ihrer Reise verirren“ (S.28).

Als wahre KünstlerInnen des Widerstands suchen sie, sobald „die revolutionäre Spitze eines Projekts oder einer Kampagne stumpf geworden ist, was im Kapitalismus oft passiert, (…) nach neuen Wegen“ (S.40). Immer würde versucht werden, „ehrlich und offen, Gemeinsamkeiten zu finden, ohne Gegensätze zu verleugnen“ (S.75) und anarchistische Projekte „eine Ahnung davon“ vermitteln, wie eine egalitäre Gesellschaft aussehen könnte (S.84). Kurz: „was zählt, ist die Lebendigkeit, von der Menschen berichten, nachdem sie dem Anarchismus zum ersten Mal in der Praxis begegnet sind“ (S.50f.).

Das nimmt bisweilen eine religiöse Färbung an: „Viele, die den Anarchismus entdecken und sich zum ersten Mal eine Welt ohne Hierarchien vorstellen, beschreiben diese Erfahrung als Aufgehen eines Lichtes.“ (S.47)

Nun hört sich das schön und aufbauend an, aber ich vermute, dass nicht aus der Welt geschafft wurde, was Erich Mühsam anlässlich der Auseinandersetzung zwischen Gustav Landauer und Otto Gross im Juli 1911 in sein Tagebuch notierte: „Wir wollen neuen Anstand, neue Beziehungen zwischen den Menschen schaffen und schon unter uns ist keine ehrliche, freie, schöne Verständigung möglich.“ (zit.n. Wolf 2010: S.47)

Milsteins Ausführungen vor Augen, kann man sich nur wundern, warum der Anarchismus bei solch einer Attraktivität eigentlich keine internationale Massenbewegung ist

Nicht zuletzt, weil er doch auch die dem Menschen adäquate Form des Lebens zu sein scheint. So scheint Milstein zu wissen, worin „[w]irklich menschliches Verhalten“ besteht – nämlich darin, „Überfluss frei zu verteilen und sich aller Menschen anzunehmen“ (S.39). Sollte es hier Abweichungen geben, kann dies mit Hilfskonstruktionen kompensiert werden, wonach die “ Menschen“ die Dinge „gemeinsam, basisdemokratisch, freiwillig und solidarisch“ eigentlich „im Grunde gerne tun möchten“ (S.51).

Hoffnungsfroh heißt es: „Hierarchische Formen gesellschaftlicher Organisation können niemals die Bedürfnisse und Wünsche der meisten Menschen erfüllen, während nicht-hierarchische Formen immer wieder bewiesen haben, dazu fähig zu sein.“ (S.28) Warum aber gibt es sie dann nicht in viel umfassenderer Form?

„Es hat etwas Euphorisches, die Annahme zu überwinden, dass Hierarchien ein notwendiger Teil unserer Existenz sind.“ (S.47) Aber macht es nicht auch Angst? Ist die „Furcht vor der Freiheit“ (Erich Fromm) nicht ernster zu nehmen? Was ist mit dem Problem der „Ordnungssicherheit“ (Heinrich Popitz), womit wir zu einem, u.a. von Malatesta betonten Problem kommen: „Zerstörung der bestehenden gesellschaftlichen Institutionen, Mechanismen und Organisationen? Gewiß, wenn es sich um repressive Organisationen handelt, aber diese sind im Grunde nur ein kleiner Teil in der Komplexität gesellschaftlichen Lebens. Polizei, Armee, Gefängnisse, Justiz – die als mächtige Faktoren sehr viel Übel anrichten – erfüllen nur eine parasitäre Funktion. Es sind andere Organisationen und Institutionen, denen es mehr schlecht als recht gelingt, der Menschheit das Leben zu sichern, und diese Institutionen können nur dann sinnvoll zerstört werden, wenn man ihre Stelle etwas Besseres setzt. Handel mit Rohstoffen und Produkten, Verteilung der Lebensmittel, Eisenbahnen, Postämter, sämtliche öffentlichen, vom Staat oder von privaten Unternehmern erbrachten Dienstleistungen, wurden in einer Weise organisiert, daß sie kapitalistischen, monopolistischen Interessen dienen, doch entsprechen sie auch tatsächlichen Bedürfnissen der Bevölkerung. Wir können sie nicht desorganisieren (und dies würde uns im übrigen auch die betroffene Bevölkerung nicht gestatten), wenn wir sie nicht auf bessere Weise neu organisieren.“ (Malatesta 1922: 128f.)

Für nicht wenige klassische AnarchistInnen, die Milstein als weitgehend naiv gekennzeichnet hat, waren die Menschen (auch) durch eine zu berücksichtigende Trägheit und Autoritätshörigkeit charakterisiert. Bei Milstein scheint dagegen eher die Sonne zu scheinen: „Die Menschheit hat sich zu beinahe unbegrenzter Vorstellungskraft und enormem Erfindungsreichtum fähig gezeigt.“ (S.57) Sicher, aber eben nicht nur und vielleicht nicht einmal in erster Linie.

Mehrere Andeutungen – wie diese – legen nahe, dass Milstein selbst einer m.E. naiveren Linie im Anarchismus folgt, die mit dem Namen Kropotkin in Verbindung gebracht werden kann (im Gegensatz z.B. zur Linie Bakunin-Malatesta).

Mit diesem Anschluss verbunden ist auch die Wiederkehr schon in der Vergangenheit diskutierter Probleme, die bei Millstein – weil sie ihre Kropotkin’sche Auffassung von Anarchismus als den Anarchismus darstellt – als Gemeinsamkeiten unterstellt, wo eigentlich Differenzen sind. Man kann das an ihrer emphatischen Darstellung der „Gegenseitigen Hilfe“ (Kropotkin) nachvollziehen, die eine „grenzenlose Großzügigkeit“ impliziere (S.66) und „Empathie zu einem allgemeinen Prinzip“ mache (S.66).

Dieser Überschwang bringt Probleme mit sich, die eher verdeckt als offen thematisiert werden. So heißt es: „Es bedarf eines Gefühls der Verbundenheit und des gegenseitigen Respekts – genauso wie in Freundschaften.“ (S.71)

Mir scheint der gegenseitige Respekt ausreichend. Setzt dieser zwar irgendeine Form von „Verbundenheit“ voraus, so doch sicher nicht etwas, was mit einer Freundschaft vergleichbar wäre. Gustav Landauer hat zurecht angemerkt, dass es „allgemeine Menschenliebe (…) nur in der Art“ geben könne, „dass man gerechterweise anerkennt, alle anderen seien ebenso viel wert“, dass es aber „Allerweltsliebe im Sinne wirklicher Herzlichkeit“ nicht geben könne (Landauer 1910: 22).

Sollte es anders sein, umso besser, aber man muss bei diesen Fragen vorsichtig sein, dass man nicht in eine „Diktatur der erzwungen Freundlichkeit“ kommt. Milstein scheint mir hier nahe dran zu sein.

Wenn sie z.B. schreibt, „dass wir alles, was wir tun, unter Berücksichtigung der Bedürfnisse und Wünsche anderer tun“ sollten, dann hört sich das erstmal gut an. Wenn es aber direkt anschließend heißt, dass wir „an all dem Lust empfinden“ werden/sollen (S.74), wird die Sache problematisch.

Denn was passiert mit denen, die einfach „nur“ vernünftig miteinander umgehen wollen, ohne deshalb gleich Feste der allgemeinen Liebe zu feiern? Ich empfinde solche Positionen als Zumutung und GesinnungspolizistInnen hatten wir schon: Man denke an die Idee eines „Generalinquisitor[s] des moralischen Verhaltens seiner Nachbarn“ bei William Godwin (zit. n. Degen/Knoblauch 2006: S.29)

Es ist vor diesem Hintergrund auffällig, dass Milstein Menschen, die z.B. gegenseitige Versprechen nicht halten, sogleich das Verfolgen einer „Herrschaftslogik“ unterstellt (S.71). Als müsste man als AnarchistIn dem Zwang unterliegen, das, was einen nervt, zugleich in einer Art zu politisieren, die mir eher in einen „mikropolitischen Faschismus“ (Gilles Deleuze) führt, als dass er die Grundlage für eine nach Umständen möglichst entspannten Konfliktkultur abgibt.

Milstein hingegen verdeckt solche Fragen und Problematiken, weil sie es allen Recht machen möchte. So wird erklärt, dass AnarchistInnen „allen Basisbewegungen gegenüber offen“ seien und sich „- auf der Grundlage kritischer Solidarität – als deren Verbündete“ verstünden, „immer mit der Absicht, von ihnen zu lernen.“ (S.94)

Andererseits scheint das dann doch nicht so ganz hinzukommen, denn: „‚Freie Assoziation‘ zur Unterdrückung von Homosexuellen steht in völligem Gegensatz zu anderen grundlegenden Werten des Anarchismus.“ (S.73) Mit Letzterem hat sie Recht und es wäre ehrlicher, deutlich zu machen, auf welcher Grundlage offensichtlich mit Basisbewegungen umzugehen ist.

Malatesta hat dies in einer ähnlichen Frage gemacht, als er sich dem Trend entgegenstellte, wonach der Syndikalismus sich selbst genüge (analog bei Millstein: die Basisbewegungen) und stattdessen eine Solidarität mit dem Syndikalismus forderte, dabei aber die genuin anarchistische Identität darüber nicht zu vergessen, gar zu meinen, sie seien in diesem aufgehoben (vgl. Nettlau 1922: S.124ff.). Auch der Anschluss an ökonomische Vorstellungen Kropotkins als Vorstellungen des Anarchismus verdeckt die keineswegs unberechtigte historische Kritik an Kropotkin.

Wenn Milstein nämlich paradigmatisch am Beispiel einer Bibliothek anführt – „Alle können ausleihen, was sie wollen und so oft sie es wollen“ (S.65) – stellt sich die Frage, ob nicht vielmehr über Regelungen nachzudenken wäre, wer, wann und wie lange welche Bücher ausleihen kann – weil es eben keinen Überfluss in allem gibt. Landet man sonst nicht bei einer wenig realistischen und auch – z.B. in Anbetracht der ökologischen Frage – nicht wünschenswerten Vorstellung des „Alles-vom-Haufen-nehmen“ über deren Probleme Leute wie z.B. Merlino und Nettlau schon einiges gesagt haben?

Scheint in der Welt des Anarchismus die solidarische Sonne, wirken manche Nebenbemerkungen Milsteins wie nicht weiter ernst gemeinte Reflexe, die eben zum guten Ton gehören. So, wenn es heißt, dass Anarchismus „kein Honigschlecken“ sei, und den „Anarchismus zu verwirklichen, (…) alles andere als einfach“ (S.46).

Hart „an der Veränderung seiner selbst und der Gesellschaft“ gelte es hierfür zu arbeiten (S.48). Man fühlt sich an Elisée Reclus erinnert: „Unter Gleichen ist die Aufgabe schwieriger, aber auch vornehmer: Man muß streng die Wahrheit suchen, die persönliche Pflicht entdecken, sich selbst kennenlernen, fortwährend an seiner Erziehung arbeiten, sich so verhalten, daß die Rechte und Interessen der Genossen respektiert werden. Nur dann wird man ein wirklich moralischer Menschen, gelangt man zum Gefühl seiner Verantwortlichkeit.“ (Reclus 1895: 251)

Auch hier zeigt sich im Vergleich, dass Milstein die eigentlichen Schwierigkeiten überspielt, wenn nicht die Reclus’sche Pflicht, sondern „Lust“ und „Liebe“ im Vordergrund stehen. Gegen Lust und Liebe ist nichts zu sagen, mir scheint aber, dass „die Prinzipien, die Menschen im Kampf um eine bessere Welt antreiben“ (S.73) eher im Rechtsbewusstsein und einer Vorstellung von eigener Würde liegen. Vor allem scheint mir Milstein damit eine freundliche, aber problematische Vorstellung vom anarchistischen Kampf zu transportieren.

Fritz Brupbacher schrieb 1931 an Nettlau: Kropotkins Optimismus „hat uns einiges geschadet in der Bewegung überhaupt, wie ein jeder Optimismus. Er zog uns Leute an, die nur wegen der falschen Perspektive kamen und dann abfielen als sie merkten, dass der Optimismus nicht gerechtfertigt ist.“ (zit.n. Burazerovic 1996: S.105)

Nun hätte es etwas absurd Überhebliches, wenn ich Stubenhocker hier einer langjährigen Aktivistin über Aktivismus doziere – mir scheint nur, dass hier wirklich Probleme thematisiert werden müssen.

Max Nettlau hat die wichtige Frage gestellt: „Welche Schuld immer die Sozialdemokraten (…) tragen, haben wir es besser gemacht?“

Milstein braucht sich diese Frage im Grunde nicht zu stellen, weil sie wie Friedrich Engels in seinem selbstkritischen Rückblick – die „Geschichte“ hat „uns unrecht gegeben“ (Engels 1895: S.514) – geschichtsphilosophisch die Schuld der Geschichte anlastet, die „damals keine libertäre Entwicklung“ zugelassen habe (S.31). Der kurze Zeit später gemachte Hinweis auf die „Kräfte der Geschichte“ (S.32) bleibt vage und ungeklärt.

Milstein scheint sich schon in einer anderen Zeitrechnung zu bewegen: „Natürlich ist es unser Ziel zu gewinnen, aber auf zahlreiche Weisen, große und kleine, haben wir das bereits getan.“ (S.79) Man wiederholt auch hier Kropotkin: „Was früher zu den unbestreitbaren Funktionen von Staat und Kirche gehörte, wird heute von den freien Gruppen übernommen. Diese Tendenz ist augenfällig.“ (Kropotkin 1913: S.93) Nur kam dann der Weltkrieg…

Das Büchlein ist dennoch gut zu lesen und mag Menschen, die weniger pessimistisch sind als ich, Mut und Freude bereiten

Es ist ja auch nicht alles schlecht – mehr als der „Aufbau horizontaler gesellschaftlicher Organisationsformen“ (S.10) fällt mir erstmal auch nicht ein, und gegen eine „Wiederaneignung der Vorstellungskraft“ (S.47) ist nichts einzuwenden. Für eine Debatte scheint es mir aber wichtig, gerade auch problematische Aspekte zu thematisieren.

So sei das Büchlein nichtsdestotrotz allen ans Herz gelegt, wenngleich wichtige Fragen für einen tragfähigen Anarchismus heute nicht gestellt werden.

Literatur

Bakunin, Michael (1868) Die revolutionäre Frage. Föderalismus-Sozialismus-Antitheologismus. Münster: Unrast Verlag, 2000.

Berkmann, Alexander (1929): ABC des Anarchismus. Berlin: Verlag Klaus Guhl, 1978.

Bianchi, Vera (2003): Feministinnen in der Revolution. Die Gruppe Mujeres Libres im Spanischen Bürgerkrieg. Münster: Unrast Verlag.

Degen, Hans Jürgen/Knoblauch, Jochen (2006): Anarchismus. Eine Einführung. Stuttgart: Schmetterling Verlag.

Engels, Friedrich (1895): Einleitung zu "Die Klassenkämpfe in Frankreich", in: MEW. Band 7. Berlin: Dietz Verlag, 1964. S.509-527.

Faure, Sébastien (1925): Die Anarchisten, in: ders. Die anarchistische Synthese und andere Texte. Lich: Edition AV, 2007. S.17-39.

Kropotkin, Peter (1913): Moderne Wissenschaft und Anarchismus, in: ders. Der Anarchismus. Ursprung, Ideal und Philosophie. Frankfurt am Main: Trotzdem Verlag, 2006.

Landauer, Gustav (1910): Tarnowska, in: ders. Antipolitik. Ausgewählte Schriften. Band 3.2. Lich: Verlag Edition AV, 2010. S.22-26.

Malatesta, Errico (1922): Die Revolution in der Praxis, in: ders. Gesammelte Schriften. Band 2. Berlin: Karin Kramer Verlag, 1980. S.125-131.

Most, Johann (1899): Die Eigentumsbestie, in: ders. Die Freie Gesellschaft. Münster: Unrast Verlag, 2006. S.45-61.

Nettlau, Max (1922): Die revolutionären Aktionen des italienischen Proletariats und die Rolle Errico Malatestas. Berlin: Karin Kramer Verlag, 1973.

Nettlau, Max (1927a): Geschichte der Anarchie. Band 2. Der Anarchismus von Proudhon bis Kropotkin. Seine historische Entwicklung in den Jahren 1859-1880. Münster: Bibliothek Thélème, 1993.

Nettlau, Max (1927b): Eugenik der Anarchie. Wetzlar: Büchse der Pandora, 1985.

Nettlau, Max (1931): Geschichte der Anarchie. Band 4. Die erste Blütezeit der Anarchie 1886-1894. Vaduz: Topos Verlag, 1981.

Reclus, Elisée (1895): Anarchismus und Moral, in: Erwin Oberländer (Hg.): Der Anarchismus. Dokumente der Weltrevolution. Band 4. Olten: Walter Verlag, 1972. S.246-262.

Rocker, Rudolf (1949): Nationalismus und Kultur. Münster: Bibliothek Thélème, 1999.

Trejo, Rubén (2005): Magonismus. Utopie und Praxis in der Mexikanischen Revolution 1910-1913. Lich: Verlag Edition AV, 2006.

Wolf, Siegbert (Hg.2010): Gustav Landauer. Antipolitik. Ausgewählte Schriften. Band 3.2. Lich: Verlag Edition AV.