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Von der Revolution zur „Erleuchtung“ und zurück

| Simon

Die Welt brennt und wir sind ein Teil von ihr: Rassismus, Sexismus, Kapitalismus, Unterdrückung, kurz "das System", existiert nicht nur außerhalb unserer selbst.

Auch wenn wir intellektuell die Destruktivität des Systems erkannt haben, bedeutet das noch lange nicht, dass wir frei davon wären. Im Gegenteil reproduzieren wir dieses System, das zu bekämpfen wir uns zur Aufgabe gemacht haben, permanent selbst in unterschiedlichem Umfang.

In vielen Politgruppen findet sich der Kampf um Status in ähnlicher Ausprägung wie in kapitalistischen Unternehmen.

Oft ist kein Platz für heftige Emotionen wie das Gefühl der Ohnmacht oder Wut, die fast unausweichlich mit radikalen Kämpfen einhergehen.

Das führt in vielen Fällen dazu, dass sich Menschen, die viel Energie in solche Kämpfe gesteckt haben, in Richtung Therapieszene oder zu spirituellen Praktiken umorientieren. Solche Menschen werden meist argwöhnisch beäugt und stehen unter dem Verdacht des Verrats „der politischen Sache“.

Das kommt nicht von ungefähr, denn in dem weiten Feld, das pauschal als „Esoterik“ oder „New Age“ bezeichnet wird, tummeln sich reaktionäre Ideologien, Personal-Happiness-Gurus, die „Glück und Erfolg“ zu horrenden Preisen verhökern, Wunderheiler_innen etc.

Meist wird unterstellt, die ehemaligen Genoss_innen hätten von heute auf morgen (meist durch esoterische Gehirnwäsche) einen radikalen Gesinnungswandel vollzogen.

Da ein solcher blitzartiger Gesinnungswandel jedoch erfahrungsgemäß selten ist, scheint diese These wenig plausibel. Es lohnt sich also, genauer hinzuschauen.

Die meiste Kritik an der „Esoterik“ kommt von marxistischer Seite. Deshalb werde ich hier in kurzen Zügen einen blasphemischen Vergleich wagen: und zwar zwischen den Grundannahmen des Zen-Buddhismus (einer besonders populären Strömung unter den spirituellen Praktiken) und denen der Marxschen Sozialtheorie.

Der wesentliche inhaltliche Kritikpunkt an der „Esoterik“ ist, dass diese ein völlig autonomes Subjekt suggeriere, das für sein Glück und Leid selbst verantwortlich sei und damit die Ideologie des Neoliberalismus widerspiegele (1).

Diese Frage nach der Souveränität des Subjekts ist in der Tat wichtig für die politische Praxis. Das System ist uns als Selbstdisziplinierung so tief in unser Denken eingebrannt, dass es oft kaum mehr von unserem Willen unterscheidbar ist. Nach dieser Erkenntnis wird die Frage nach der Möglichkeit des emanzipatorischen Handelns im schlechten System zentral.

Die verbreitetste marxistische Position dazu ist die Negation eines jeden wirksamen Subjekts und die Deutung von Individuen als bloße „Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse“ (2). Aus dieser Konzeption wurde eine messianische Vorstellung von der Revolution abgeleitet, die automatisch eintrete, wenn die Zeit reif wäre. Bis dahin gilt jedes Auflehnen gegen die Verhältnisse als konterrevolutionär, weil die Revolution hinauszögernd.

Es gibt bei Marx jedoch auch eine andere Konzeption des Subjekts, die wesentlich weniger rezipiert wurde. Marx spricht dabei von der „Universalität des Menschen“ (3).

Das Subjekt ist hier materiell und geistig ein Teil seiner Umwelt und kann sich in deren (ökonomischen, politischen…) Strukturen wiedererkennen, diese jedoch, aufgrund der Tatsache, dass sie auf menschliches Handeln zurückgehen, auch verändern.

Es wird also ein dialektisches Subjekt konzipiert, das weder völlig autonom, noch völlig fremdbestimmt ist. Entfremdung versteht Marx dann als fehlendes Bewusstsein der Einheit von Subjekt und Objekt (4).

An diesem zentralen Punkt steht Marx überraschend nahe an der Lehre des Zen-Buddhismus. Die zentrale Lehre des Zen ist eben diese Einheit allen Seins, die auch Marx‘ Subjekt-Konzept zugrunde liegt. Wie bei Marx gibt es auch im Zen keinen von der Materie getrennten Geist und vor allem keine Trennung von Subjekt und Objekt (5).

Durch die Illusion eines von seiner Umwelt getrennten Selbsts entsteht für den Zen-Buddhismus Egoismus und Gier, die er zu überwinden sucht. Hierzu wird eine Praxis der Achtsamkeit vorgeschlagen, die versucht, alle abstrakten Konzepte zu vermeiden und im Hier und Jetzt zu leben.

Das kann durchaus eine politische Dimension haben. So folgert der Zen-Meister und Friedensaktivist Thich Nhat Hanh aus der Einheit allen Seins: „Die einzige Alternative zu Ko-Existenz ist Ko-Nichtexistenz. Eine Zivilisation, in der wir andere töten und ausbeuten müssen, um zu leben, ist keine gesunde Zivilisation.“ (6)

Der Ausgangspunkt und das Anliegen unnötiges Leid zu überwinden, ähneln sich also bei Marx und im Zen-Buddhismus. Die Wege, die dazu führen sollen, weisen jedoch in gegensätzliche Richtungen.

Bei Marx wird die Dialektik von Individuum und Gesellschaft in Richtung letzterer aufgelöst.

Bei ihm ist „die Produktion, […] die Grundlage aller Gesellschaftsordnung […] Hiernach sind die letzten Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen zu suchen nicht in den Köpfen der Menschen“ (7).

Die Revolution begreift er als „Auflösung aller Widersprüche“, nach der der Kommunismus als „objektive historische Wahrheit“ hervortritt.

Zen schlägt den gegenläufigen Weg ein und sucht die Auflösung der Widersprüche mit der Meditation in der kontinuierlichen Arbeit an sich selbst. Am Endpunkt dieses Prozesses soll die Erleuchtung stehen, die ebenfalls mit dem Erkennen der „objektiven Wahrheit“ einhergeht (8).

Dieses Eintauschen der Dialektik gegen eine „Wahrheit“ hatte in beiden Fällen drastische reale Konsequenzen.

In der „Sowjetunion“ wurden bekanntlich diejenigen, die die „objektive Wahrheit“ nicht einsehen wollten, zu Tausenden ermordet oder deportiert. Weniger bekannt ist die Verbindung, die der Zen-Buddhismus mit dem japanischen Faschismus vor und während des Zweiten Weltkriegs eingegangen ist. Eine zentrale Persönlichkeit (jedoch keine Ausnahme, denn die Zen-Klöster stellten sich fast ausnahmslos hinter die Expansionspolitik der Regierung) ist dabei der Zen-Meister D.T. Suzuki, der auch wesentlich zur Popularität der Zen-Lehre im „Westen“ beigetragen hat. Unter anderem veröffentlichte er zusammen mit verschiedenen Offizieren die Schrift „Die Essenz des Bushido“. Darin enthalten ist ein „Verhaltenskodex für Soldaten im Felde“, den alle Soldaten der kaiserlichen Armee auswendig lernen mussten.

Darin heißt es u.a.: „Was Leben und Tod prägt, ist der erhabene Geist der Selbstaufopferung für das öffentliche Wohl. Gehe über Leben und Tod hinaus, indem du entschlossen vorangehst, um deine Pflicht zu erfüllen. Durch die völlige Verausgabung der Kraft deines Körpers und Geistes findest du gelassen deine Freude darin, in der ewigen Pflicht zu leben.“ (9)

Suzuki nutzt hier Autorität, die ihm als „Erleuchtetem“ zukam, um dem Militarismus der Regierung einen spirituellen Anstrich zu geben, indem er Aufopferung für das Vaterland mit dem Streben nach Erleuchtung gleichsetzte.

In späteren Auflagen des Buches schreibt der Herausgeber in seiner Einführung: „Dr. Suzukis Schriften sollen den militärischen Geist des nationalsozialistischen Deutschland stark beeinflußt haben.“ (10)

Die meisten linksradikalen Politgruppen (und nicht nur orthodox marxistische) sind stark nach außen auf die Umwandlung gesellschaftlicher Strukturen orientiert.

Das verhindert oft, dass eigene destruktive Denk- und Verhaltensweisen erkannt und überwunden werden können und lässt schwierige Emotionen unter den Tisch fallen.

Das wiederum begünstigt ein Polit-Burnout. Möglicherweise liegt darin eine plausiblere Erklärung dafür, dass sich ehemalige Genoss_innen in Richtung „Spiritualität“ oder Therapieszene verabschieden, als im Gehirnwäsche-Argument.

Hinzu kommt, dass sowohl dem Marxismus als auch dem Zen-Buddhismus die Suche nach einer radikalen Befreiung zugrunde liegt und beide Traditionen sich in ihrer Struktur teilweise ähnlich sind. In der Spiritualitäts- und Therapieszene werden Abgewanderte jedoch in den meisten Fällen auf die gegenteilige Problematik stoßen, also eine Orientierung nach innen, die alle politischen Voraussetzungen der Freiheit vergisst.

Es bedarf also einer Praxis, die die Dialektik zwischen Individuum und Umwelt nicht einfach in die eine oder andere Richtung auflöst, sondern sowohl nach „innen“ als auch nach „außen“ schaut. Statt sich in einer genauso bequemen wie gefährlichen „objektiven Wahrheit“ einzurichten, die einmal gefunden auf alles angewandt werden kann, muss eine solche Praxis die eigene Widersprüchlichkeit anerkennen: Wir wissen, dass wir niemals Heilige sein werden und doch versuchen wir, unsere Utopie in unserem Handeln vorwegzunehmen. Dazu gehört auch, binäre Kategorien wie Inländer_in/Ausländer_in, Mann/Frau, Freund_in/Feind_in etc. aufzubrechen. Konkret wird es dabei darum gehen, die Elemente des destruktiven Systems in uns selbst zu erkennen und an ihrer Überwindung zu arbeiten, ohne dabei die Handlungsfähigkeit nach außen zu verlieren.

Dazu braucht mensch viel Achtsamkeit und Muße. Diese sind aber weder im kapitalistischen Normalbetrieb noch in den meisten Politgruppen verankert, sondern müssen hart erkämpft und erlernt werden.

(1) Vgl. z.B. "Esoterik in der Kritik", iz3w 1/2 2003, S. 21

(2) MEW (1977): "Band 23", Berlin, S. 100

(3) MEW (1977): "Band 40", Berlin, S. 515

(4) Vgl. Ebd., S. 579

(5) Vgl. Thich Nhat Hanh (1999): "Das Herz von Buddhas Lehre", Freiburg, S. 147 ff.

(6) Thich Nhat Hanh (2009): "Die Welt ins Herz schließen. Buddhistische Wege zu Ökologie und Frieden", S. 51

(7) MEW (1977): "Band 19", Berlin, S. 210

(8) Vgl. Suzuki, D. T. (1987): "Satori", Bern, S. 61

(9) Zit. n. Victoria, Brian (1999): "Zen, Nationalismus und Krieg", Berlin, S. 161

(10) Ebd.