diskussion

Signale aus der Nische

Chaordnung

Ordnung - Unordnung - Oder wie verzweifelt muss ich sein, um diesen Aufsatz zu schreiben?

| Uwe Kurzbein

Uwe Kurzbein (geb. 1942) arbeitet als Tischler und Architekt. 1980 hat er die Kommune Lutter mitgegründet, seit 1998 lebt er in der Gemeinschaft Olgashof bei Wismar. (1) Bekannt ist er als Mitherausgeber des Kommunebuchs (Verlag Die Werkstatt), aber auch durch seine GWR-Artikelserie "Signale aus der Nische", die er mit dem folgenden Beitrag fortsetzt. (GWR-Red.)

Der Weg ins Thema

Fragen über Fragen!

Meine Kritikerinnen werden mir antworten: Nun, werden sie sagen, Du willst Dich nur reinwaschen, Du Unschuldslamm.

Ich werde antworten: will ich auch. Es ist mein Rachfeldzug gegen alle Ordentlichen.

1. Ich bin von Haus aus unordentlich, sagen meine Kritikerinnen. Ich werde noch unordentlicher, wenn mein Umfeld ebenfalls unordentlich ist.

Also, je ordentlicher mein Umfeld ist, desto leichter fällt es mir, ordentlich zu sein. Meine Frau sagt, ich sei ein Missy. Ein Missy ist jemand, bei dem die Plastiktüten und die abgeknabberten Apfelkerne das Niveau steigen lassen. Missy sein heißt süchtig sein. Es ist übler als Dope, Alk oder Sex. Dope macht high, Alk macht blöd und Sex macht schlapp, aber Dreck macht wahnsinnigen Ärger.

2. Was ist eigentlich Ordnung und was Unordnung?

3. Wieso ist das eigentlich ein Thema? Für mich. Für andere, für alle.

4. Meine private kleine Umfrage hat ergeben, dass Unordnung ein Problem für die Frauen ist und Ordnung ein Problem für uns Männer.

5. Es gibt verschiedene Unordnungen: die erste: alles ist unordentlich, vor allem mein Arbeitsplatz, aber ich weiß schnell, wo ich etwas finde.

Wenn ich folglich einen schmalen Ordner suche, dann weiß ich erstens, dass er rot ist, zweitens neben meinem Autoschlüssel liegt und diese wiederum unter meiner Jacke, die ich auf den Haufen Papiere gelegt habe.

Eine Kombination dieser Art und schon habe ich das Gesuchte gefunden. Hier ist der Wegweiser nicht das Regal, und der Buchstabe, unter dem der Ordner steht, sondern ein persönliches, nicht vorhersehbares Ordnungssystem, das eher einem chaotischen ähnelt. Es funktioniert oft besser als das Regalsystem. Mich macht dieses System extrem kreativ und produktiv, meine Freundin bringt dieses System um ihren Verstand.

6. Es gibt Unordnung, die ich Versiffung nenne. Das merke ich daran, dass stinkende Zigarettenstummel und biologische verfaulte Reste mitten in einem Haufen alter Zeitungen vor sich her rotten. Das ist das typische Outfit unserer Zigarettenecke. Diese Beleidigung für mein Architektenauge wird nur noch getoppt, wenn es in den Aschenbecher geregnet hat.

7. Unordnung ist ferner meine Arbeitshose im Theater oder eine stinkende alte Unterhose beim Verführen meiner Freundin. Von diesen Unordnungen rede ich an dieser Stelle nicht. Sie fallen in das Gebiet der suchtmäßigen Verslummung.

8. Wer regt sich auf? Meistens sind es Frauen, die sich über die Unordnung ihrer Männer aufregen. Nicht immer, aber erstaunlich oft. Meine Beobachtungen gehen dahin, dass Frauen unter Frauen nicht eine Spur ordentlicher sein können als Männer unter Männer, die nach meiner Beobachtung, wenn auch gezwungen und steif, doch ein erstaunliches Maß an Küchenordnung z. B. hinbekommen. In gewisser Weise ist es also ein Beziehungsproblem.

9. Die Unordentlichen laufen Gefahr, als Projektionsfläche für viele Konflikte herhalten zu müssen. Und allzu oft hat mich das Stigma verfolgt: der spült nie ab, der räumt nie seine Tasse weg.

10. Wegräumen ist nicht sichtbar. Stehenlassen schon. Deswegen wiegt die eine Tasse, die stehen bleibt mehr als tausend andere weggeräumte. Das Los der traditionellen Hausfrau.

11. Das andere Thema, welches ich auch in die Unordnung schiebe, ist die Tatsache, dass Werkzeug, vornehmlich, auf der Hazienda flächenmäßig verstreut wird, nicht zurückgebracht wird, und schlicht weg ersten einmal verschwindet, bis es verrostet unter Laub nach Monaten oder Jahren wieder auftaucht. Das Erstaunliche ist, dass, wenn ich die herumliegenden Teile einsammle, gleichgültig, was es ist, ob Fahrrad, Schuhe, Kneifzangen oder Schraubenpakete – es wird gar nicht vermisst.

12. Beispiele: Wir hatten für kurze Zeit einen Tischlermeister in der Werkstatt. Nach wenigen Tagen war in der Tischlerei kein Durchkommen mehr, weil er alle Leisten und Späne einfach im Raum liegen ließ. Als ich ihm sagte, dass er aufräumen müsse, hat er alles nach draußen vor die Tür getragen und es draußen im Regen liegen lassen.

13. Beispiel: Wir haben in der Gemeinschaft ein gemeinsames Telefon. An diesem Telefon war auch mein PC angeschlossen. Niemand hat sich um Störungen gekümmert. Jeder hat auf meinem PC gearbeitet, er war ständig kaputt.

14. Beispiel: Ich suche eine Kneifzange: Ich finde sie in der Tischlerei nicht, obwohl ich mindestens vier Stück gekauft hatte. Ich denke darüber nach, wer auf der Burg gerade baut, der nicht, der nicht aber der. Brauchte er eine Kneifzange. Ja, das könnte sein. Ich gehe hin, und finde zwar keine Zange, aber eine Kreissäge. Ich gehe zur nächsten Privatbaustelle.

Irgendwo im Saal, wo gar keine Baustelle mehr ist, finde ich die Zange.

15. Beispiel: Seit langer Zeit stecken die Messer in einem Block, oder liegen in der Ablage. Von einem auf den anderen Tag sind sie verschwunden. Weg, bis sie nach langem Suchen unten irgendwo im Fach gefunden werden. Das ist ein gängiges Beispiel, wie aus gewünschter Ordnung eine Unordnung und Ärger wird.

Was wünsche ich mir?

Achtung vor den Arbeitsbereichen des Anderen, das Bewusstsein eine Arbeit zu beginnen und sie zu beenden, Im Grunde ist das schon alles.

Wo also ist das Problem?

Das Problem fängt früh an:

Ich kenne kaum ein Kinderzimmer, welches das Prädikat ordentlich verdient. Es scheint verhext zu sein: Die Mutter drängt auf Ordnung, der Junge geht in die Revolte und bleibt unordentlich aus Trotz. Die Mutter sagt gar nichts. Weil sie selbst unordentlich ist oder Angst vor dem Konflikt hat, und der Junge macht einfach weiter.

Der Protest des Kindes gegen die Mutter oder den Vater, der auf diesem Feld wahrscheinlich am einfachsten ausgetragen wird, geht in der Beziehung zur Ehefrau weiter. Die Projektionen der Beziehungspartner durch elterliche Erwartungen ist allgemein bekannt. Dieses Spiel der gerügten Unordnung und der Protest dagegen geht also weiter. Und der Ärger steigt, je weiter die Liebe und die Erotik so langsam im Alltag versiegen. Nur mittlerweile sind wir keine kleinen Kinder mehr, sondern Erwachsene, oder?

Ich wünsche mir

Weder alleine noch in Gemeinschaft ist Unordnung und Suchen zu akzeptieren. Ordnung hat mit der eigenen Verantwortung und Übersicht zu tun.

Ordnung im eigenen Hirn.

Ordnung hat vordergründig mit Fleiß zu tun. Faulheit mit Unordnung, obwohl der zweite Gedanke diese Zuordnung auf den Kopf stellt. Unordnung ist eigentlich zeitaufwendiger als Ordnung.

Unordnung macht nicht glücklich. Aber Ordnung auch nicht.

Was muss gelernt werden:

Eine Tätigkeit hat einen Anfang und ein Ende. Am Anfang steht die Arbeitsvorbereitung, am Ende die saubere Werkstatt und das weggelegte Werkzeug. In der Küche haben wir seit Monaten eine Disziplinübung, die so geht: Jeder macht das Geschirr, welches er benutzt hat, wieder sauber und stellt es weg. Das zu lernen und zu verinnerlichen, ging bei mir und bei meinen männlichen Freunden erstaunlich schnell. Die Küche war erstaunlich sauber.

Recht und Ordnung

Da ist es wieder, diesmal in der politischen Anpassung. Die Unordnung bedeutet so viel wie Revolution oder Meuterei. Hier ist Unordnung oder besser Nichtordnung eigentlich Bürgerpflicht. Ordnung bedeutet insbesondere in diesem Zusammenhang Kontrolle. Kontrolle über Menschen und deren Disziplinierung.

Ordnung bedeutet hier Übersichtlichkeit und im Rahmen des Gewaltmonopols auch brachiale Durchsetzung der Gesetze. Um diese Ordnung geht es hier allerdings zurzeit noch nicht.

Ist die Natur ordentlich oder unordentlich? Die Natur ist ordentlich, wir Menschen bringen sie durcheinander. Oder? Aber die Natur ist im Sinne der Chaostheorie das Paradebeispiel für Chaos – nicht vorher bestimmbar. Geht es um Unordnungsprinzipien?

Unordnung macht Ärger!

Interessant ist die Frage des sich Ärgernden über die Unordnung des anderen. Warum ist jemand unordentlich, und warum regt das jemand darüber auf?

Die Frage Werkzeug weg und nicht zurück, ist ein anderes Thema, zu dem wir noch kommen. Sich nämlich darüber zu ärgern ist relativ leicht nachzuvollziehen.

Aber warum ärgert es Juliane, wenn ich meine Tasse nicht wegräume? Sie hat keinen Nachteil davon und wird auch nicht behindert. Warum also? Der Verdacht liegt nahe, dass es um die Beziehung zwischen Juliane und mir geht. (Den Namen habe ich taktvoll geändert). Bei einem anderen regt sie sich nämlich nicht auf. Z. B. bei der neuen Liebe!

Wir dürfen in aller Gelassenheit konstatieren, dass alle einen unterschiedlichen Level von Ordnung und Unordnung im persönlichen und im Arbeitsbereich haben. In unserem kommunalen Milieu haben wir die Konventionen schon längst hinter uns gelassen. Es ist unwichtig, wie jemand aussieht oder was er anhat. Ist das so? Im Westen ja, im Osten nein? Oder umgekehrt oder spielt die Geschichte keine Rolle?

Ist es so, dass Frauen meistens immer alles schöner haben wollen und Männer alles praktischer – vor allem wollen sie produzieren?

Ich beschreibe mein Verhalten zu diesem Thema:

Ich stehe morgens in der Regel zeitig auf, frühstücke wenig, trinke Kaffee und bin zwischen dem Eingießen und Brotschmieren bereits bei meiner Arbeit und telefoniere. Die Arbeit, die Produktion, das Schaffen ist mir deshalb wichtig, weil ich mich darüber darstelle. Mein Schaffen bin ich. Nicht Meine Kleidung, meine Bude, mein Auto. Alles ist mir nicht so wichtig, wie das kreative Schaffen.

Es ist gleichzusetzen mit meiner sexuellen Potenz. Ist die verschwunden, bin ich todunglücklich und wenn ich dies mit der Arbeit nicht mehr ausgleichen kann, dann habe ich eine Sinnkrise. Ha, werden meine Leserinnen jetzt sagen, der spinnt ja, wir können Menschen doch nicht über Arbeit definieren und schon gar nicht über sexuelle Potenz.

Da antworte ich aber: kommt ihr erst einmal in meine Jahre, da macht ihr ganz erstaunliche Erfahrungen. Das Dumme an der Sache ist nur, dass kein Mann dem anderen etwas über die Krisen nach 60 erzählt.

Über ein sauberes Hemd habe ich noch nie eine tiefe Befriedigung erhalten können. Ich habe mich höchstens geärgert, dass bei einem kurzen Besuch in der Tischlerei bereits Staub und Späne darauf sind und Leim am Ärmel klebt. Über die Arbeit bekomme ich Anerkennung, die mir etwas wert ist. In mir ist ein unbändiger Gestaltungswille.

Wenn jemand meine Bude sieht, dann wird er das nicht verstehen können. Wenn ich jedoch meine Bilder heraushole, dann ist mein Gestaltungswille sehr wohl zu erkennen und wenn jemand sich die Mühe machen würde, mich auf der Baustelle zu besuchen, dann auch dort. Wenn, ich muss es zugeben, oft vergeblich, denn ich muss zwischen Vielen vermitteln.

Ich weiß, dass, wenn ich alleine mit ausreichend Zeit gestalte, sieht das Ergebnis meist sehr anschaulich aus. Meine Plakate, die ich hin und wieder entwerfe, zeugen davon. Die Kommune bietet mir jetzt wegen des unglaublich vielen Platzes, alle meine kreativen Launen auszuspielen. Wer kann schon eine Bibliothek einrichten, eine Tischlerei, wer kann Gäste beherbergen, wer mit lieben Leuten zusammenleben?

Mich stört auch nicht, wenn die Maus über den Tisch läuft. Ich werde jedoch grantig, wenn die Maus meinen Apfel anknabbert.

Ordnung ist Macht und Kontrolle

Je größer jedoch das Feld ist, in dem ich mich kreativ bewege, umso eher verliere ich den Überblick und damit die Ordnung.

Die Kunst des kommunalen Lebens ist folglich, eine Balance zu finden in dem Bereich, der mich etwas angeht und die Disziplin, anderes sein zu lassen. Auch in der Kommune gibt es Bereiche, die mich nichts angehen und von denen ich mich fernhalten muss. Verluste sind hinzunehmen.

Letztendlich sollte sich jeder die Frage stellen, ob mit etwas mehr Gelassenheit die Unordnung des anderen hingenommen werden kann, anstatt sich den Alltag mit Nörgeln zu verderben.

Im Übrigen sind die Ossis, was dieses Thema angeht, ganz besonders genau. Die sogenannten „festen Bilder“ jedoch sind ein anderes Thema und gehören in das Gebiet der Kommunikation.

Na ja, die Unordnung ja nun auch:

„Nur ein Genie beherrscht das Chaos.“ (Einstein)

„Nichts kann existieren ohne Ordnung – nichts kann entstehen ohne Chaos.“ (Einstein)

„Chaos ist solange Chaos, als man nicht begreift, dass es eine höhere Ordnung ist.“ (Gerd Gerken)

„Ich sage euch: Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“ (Friedrich Nietzsche)

„Auch ein perfektes Chaos ist etwas Vollkommenes.“ (Genet)

Chaos ist die Quelle allen Lebendigen. (Uwe Mütze)

(1) Siehe auch: Jede Kommune ist anders. Ein Küchentischgespräch mit Uwe Kurzbein (Kommune Olgashof), in: Bernd Drücke (Hg.), ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert. Interviews und Gespräche, Karin Kramer Verlag, Berlin 2006

Anmerkungen

PS: Ich wünsche mir Feedback. Und Berichte, ob dieses Thema bei Euch überhaupt ein Thema ist.