Anja Röhl: Die Frau meines Vaters. Erinnerungen an Ulrike, Edition Nautilus, Hamburg 2013, 160 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-89401-771-2
Vor Jahren habe ich Anja Röhl einmal kurz kennen gelernt, seitdem treffe ich sie ab und zu wieder und war endlich froh, dass sie es geschafft hat, ihre Sicht auf die in aller Öffentlichkeit verteufelte „Rabenmutter“ Ulrike Meinhof veröffentlichen zu können.
Ich habe das Buch fast in einem Rutsch durchgelesen. Aus meinen Augen zunächst befremdlich ist die etwas distanzierte Art der von ihr gewählten Sprache, über ihre eigenen Erlebnisse in dritter Form als „das Kind“, „die Jugendliche“ oder „die junge Frau“ zu schreiben“.
Packend und mitreißend eröffnet sich dann aber der Blick auf eine Kindheit mit einer alleinerziehenden Mutter, der Exfrau von Klaus Röhl, kurzzeitigen Heimerfahrungen und dem Erlebnis, wie sie Ulrike Meinhof als Mutter ihrer Geschwister, ungemein zugewandt, tolerant und geduldig erlebt hat.
Die familiären Beschreibungen des Verhältnisses zwischen der hochpolitischen Stiefmutter und dem Sexismus und Alkohol zugewandten Vater, dem damaligem Konkret-Verleger Klaus Röhl, sind spannend erzählt. Tragisch wird es, und von dort rühren vermutlich die Verletzungen der Schwestern, als Ulrike Meinhof überraschend nach einem Interview mit gefangenen RAF-Mitgliedern und einem Befreiungsversuch, bei dem ein Mann erschossen wird, zusammen mit den Befreiern flieht und weder für die Stieftochter noch für die leiblichen Kinder mehr präsent ist, sondern ab diesem Zeitpunkt als Topterroristin und Mörderin gesucht wird, obwohl sie nur mit aus dem Fenster sprang.
Als Anja als junge Frau, nachdem Ulrike Meinhof gefasst wurde, die körperlichen und seelischen Folgen der Isolationshaft für ihre Stiefmutter in der Sendung Panorama verliest, wird ihr der persönliche Kontakt zu ihren Schwestern vom Vater Klaus Röhl verboten. Nachrichten an die Stiefschwestern werden unterbunden und die Isolation von Ulrike wird nun selbst in der Familie vollzogen.
Mich hat diese Passage sehr an die staatlichen Verhaltensmuster in der Zeit des „Deutschen Herbstes“ 1977 erinnert, als kaum eine Wohngemeinschaft vor Bespitzelung und Razzien sicher war und die nach Veränderung strebende Jugend von Grund auf eingeschüchtert wurde, was wir heute mit heftigstem Sozialabbau, Klimazerstörung sowie mit Milliarden verschlingenden Rohstoffkriegen in fremden Ländern bezahlen müssen. Die Akzeptanz und Tolerierung dieser Kriege ist schon bis weit in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen.
Ich habe alle frühen Schriften Ulrike Meinhofs, die sie für Konkret geschrieben hat, als junge Frau gelesen, zu einem Zeitpunkt, als Ulrike Meinhof bereits tot war. Ich schätze an ihren Texten ihre Klarheit und Brillanz in der Beschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse, ihre Fähigkeit der Verwebung von Psychosozialem und Politischem, sowie ihre Vorausschau und Parteinahme für die Schwachen.
Nachdem Ulrike Konkret verlassen hat, wandelt sich die Zeitschrift hin zu einer pornografischen Sicht auf Frauen, so erlebt es Anja Röhl bei ihren Besuchen im Verlag. Der sexistische Charakter des Vaters wird aus der Sicht der Tochter untermauert und bestätigt.
Dies ist der erste interne authentische Bericht, der Ulrike Meinhof in einem anderen Licht erscheinen lässt, als die in der bürgerlichen Presse aufgebauten Feindbilder der politisch aktiven, aber angeblich „nicht mutterfähigen“ Frau. Diesem Bild setzt Anja Röhl nüchtern ihre eigenen Erlebnisse entgegen. Und dadurch, dass sie sehr viel anderes Erschütterndes noch aus jener Zeit und ihrem Kinderleben erzählt, macht sie ihre Sichtweise glaubwürdig und nachfühlbar.
Anja Röhl schildert auch, wie Ulrike Meinhof zu ihren eigenen Kindern war. Man kann sich aus dem Zusammenhang erschließen, dass das nicht böse, sondern liebevoll war.
Ich habe die Verfolgung derer erlebt, die nachgeforscht haben, was es mit dem angeblichen Selbstmord in ihrer Zelle auf sich hat, belegt z.B. durch den Untersuchungsbericht der unabhängigen internationalen Ärztekommission und die Recherchen darüber, dass Ulrike vor Gericht die unterstützende Beteiligung der Bundesregierung am Vietnamkrieg in ihre Verteidigung einbeziehen wollte. Einige Tage vor diesem Gerichtstermin machte sie Selbstmord?
Viele ungeklärte Fragen, denen sich die damalige Regierung durch die gezielte Verfolgung von Andersdenkenden bzw. Veröffentlichenden und damit der Meinungsfreiheit entledigte. Es gipfelte in dem staatlichen Verbot der Aussage, dass Ulrike Meinhof ermordet worden sei.
Anja Röhl zeichnet ein Bild von Ulrike Meinhof, das heute noch immer nicht erwünscht ist.
Es bleibt uns das Folgende: Nicht nachlassen, durch selbstbestimmte, freiheitsfördernde Initiativen die Gesellschaft von unten zu verändern – ein nach wie vor anzustrebendes Ziel, wie es Ulrike Meinhof in ihren Texten und in der Erinnerung von Anja Röhl formulierte.
Ein lesenswertes Buch, ein wichtiger Teil deutscher Geschichte
Der Charakter von Ulrike Meinhof wird glaubhaft und nachvollziehbar aus Sicht einer nahen Angehörigen über eine Zeitspanne von 16 Jahren kontinuierlich beschrieben. Es ist wohltuend, dass Ulrike Meinhof hier nicht, wie üblich, als „RAF-Monster“ stigmatisiert wird.
Sind es nicht immer die politischen Verhältnisse, die entscheiden, ob einer als Staatsfeind angeprangert, oder zum Held erhoben wird? Nelson Mandela ist zeitgleich mit Ulrike Meinhof in seiner Gesellschaft, mit der unsere Regierung damals die besten Beziehungen pflegte, als Terrorist und Schwerverbrecher bezeichnet und verurteilt worden, bis er nach 30 Jahren Haft in einer anderen Gesellschaft frei kam und zum Präsidenten wurde.
Auch ein ehemaliger, lange zu Isolationshaft verurteilter Tupamaro ist heute Präsident von Uruguay.
Anja Röhls Buch beeindruckt vor allem durch eine Kritik an allem Autoritären und Gewalttätigem in Wort und Tat. Gut ist auch die Beobachtung, dass Kinder darunter mehr als Erwachsene leiden.
Damit trifft sie den Ursprung der politischen Handlungen der 68-iger Generation und auch den der 58-iger Anti-Atomtod-Bewegung, zu der Ulrike Meinhof als junge Studentin gehörte.
Nie wieder Faschismus zulassen, den Anfängen wehren, das trieb die Generationen ab 1952/53 auf die Straße. Dem Staat ist es gelungen in zwei großen Verfolgungswellen (1949-56 und 1968-77) diesen Protest zumindest so klein zu halten, dass er ihm nie wirklich gefährlich werden konnte.