anarchismus

„Auf der Seite der Revolte“

Bernd Drücke im Gespräch mit Jochen Schmück, der im Juni 2013 mit dem Erich-Mühsam-Preis geehrt wurde

Jochen Schmück, geboren 1953 in Frankfurt an der Oder, lebt in Potsdam. Der Verleger und Herausgeber von Veröffentlichungen des Libertad Verlages ist Mitbegründer des Forschungs- und Dokumentationsprojektes DadA - Datenbank des deutschsprachigen Anarchismus (1) und des Lexikons der Anarchie im Internet. Am 19. Juni 2013 führte GWR-Redakteur Bernd Drücke im Studio des Medienforums Münster das folgende Gespräch mit dem telefonisch aus Potsdam zugeschalteten Initiator des neuen DadAWeb (2). Wir veröffentlichen es als gekürzten Vorabdruck aus dem voraussichtlich im Oktober 2013 zur Frankfurter Buchmesse erscheinenden und von Bernd Drücke im Karin Kramer Verlag herausgegebenen Interviewbandes "Anarchismus Hoch 2. Soziale Bewegung, Utopie, Realität, Zukunft" (ca. 260 Seiten, ca. 19.80 Euro, ISBN 9783879563753).

Bernd Drücke: Am 7. Juni 2013 hat Dich die Erich-Mühsam-Gesellschaft in Lübeck mit dem Erich-Mühsam-Preis geehrt, zusammen mit Andreas W. Hohmann, dem Verleger der anarchistischen Edition AV aus Lich.

Herzlichen Glückwunsch.

Jochen Schmück: Herzlichen Dank zum Glückwunsch.

Bernd Drücke: Erich Mühsam ist eine bekannte Persönlichkeit des Anarchismus. Kannst Du etwas über ihn erzählen?

Jochen Schmück: Er ist einer der bekanntesten anarchistischen Dichter und politischen Publizisten, der vor allem in der Zeit des Kaiserreiches und der Weimarer Republik gewirkt hat. Mühsam hat eine wichtige Rolle innerhalb der anarchistischen Bewegung gespielt, war auch maßgeblich an der Münchner Räterepublik beteiligt, wofür er mit 15 Jahren Festungshaft verurteilt wurde.

Er wurde dann nach der Machtergreifung der Nazis am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg von der SS-Wachmannschaft ermordet.

Die Preisverleihung hat mich überrascht. Andreas W. Hohmann und ich wurden zusammen wegen unserer Verlagstätigkeit gewürdigt.

Bernd Drücke: Wen ehrt die Erich-Mühsam-Gesellschaft mit dem Preis?

Jochen Schmück: Sie vergibt ihn alle zwei Jahre an Menschen, die Leben und Werk Erich Mühsams wissenschaftlich aufarbeiten oder die ähnlich wie er Zivilcourage gezeigt haben und sich für soziale Gerechtigkeit und verfolgte Minderheiten einsetzen. Bisher haben unterschiedliche Personen oder Gruppen den Preis erhalten, u.a. die Graswurzelwerkstatt in Köln 1993, der bekannte US-amerikanische Inhaftierte Mumia Abu-Jamal, die Tageszeitung junge Welt, das Komitee für Grundrechte und Demokratie. Das kann man auf der Homepage der Erich-Mühsam-Gesellschaft (3) nachlesen.

Spätestens mit Altanarchisten, die das Dritte Reich überlebt hatten, habe ich Kontakte zu Zeitzeugen bekommen, die Erich Mühsam kannten. Er hat mich früh beeindruckt. In den später im Libertad Verlag erschienenen Schriften haben wir ihm auch ein Heft gewidmet.

Bernd Drücke: Begreifst Du Dich als Anarchist? Was bedeuten Anarchie und Anarchismus für Dich?

Jochen Schmück: Als Anarchist sehe mich gar nicht mehr so. Seit meinem 15. Lebensjahr habe ich mich als Anarchist verstanden. Bis ich 50 wurde. Ich sehe mich jetzt eher als Anarcho, weil für mich die Anarchie wichtiger geworden ist als der Anarchismus. Ich unterscheide zwischen Anarchie und Anarchismus, weil die Anarchie die gelebte Herrschaftslosigkeit und Anarchismus das politisch-philosophische Streben nach dieser Herrschaftslosigkeit ist.

Bernd Drücke: Wie wurdest Du Anarcho?

Jochen Schmück: Mich hat 1968 die Revolte als 15-Jähriger gepackt. Nach dem Anschlag auf Rudi Dutschke in Berlin gab es die Osterunruhen. Ich bin da eher per Zufall hineingeraten, direkt in den Polizeikessel in der Meinecke-Straße. Der war damals berüchtigt. Der Gag daran war, dass alle Passanten, die sich damals in der Meinecke-Straße aufhielten, ob zufällig oder nicht, verhaftet worden sind. Das waren über 250 Leute, u.a. auch ich. Wir sind dann mit Lastwagen weggekarrt und auf verschiedene provisorische Haftanstalten verteilt worden. Ich bin in der Polizeischule Spandau gelandet. Das war eindrucksvoll.

Nicht dass ich apolitisch war, das war wohl kaum einer in meinem Alter in Berlin. Allein durch diese Frontstadtstellung war Politik immer ein Thema in Berlin, da war das Aufwachsen als Jugendlicher vielleicht deutlich politischer als in anderen Orten der Bundesrepublik. Aber die Erfahrung hat mir einen Kick gegeben, ich habe da die Nacht verbringen müssen und nachher ziemlichen Stress mit meinen Eltern bekommen, die natürlich nicht wussten, was los war. Der Junge ist nicht nach Hause gekommen.

Bernd Drücke: Gab es 1968 weitere Erlebnisse, die Dich geprägt haben?

Jochen Schmück: Das zweite Schlüsselerlebnis 1968 war für mich der Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei, da bin ich zufälligerweise mit meinem Vater hineingekommen. Wir hatten Urlaub in der Tschechoslowakei gemacht, und wir waren auf der Rückreise. Ich kann mich noch erinnern: Da waren plötzlich morgens, das muss gegen 5 Uhr gewesen sein, absolute Unruhe und Tumult im Zug. Einige Leute fluchten, andere heulten. Ich habe aus dem Fenster geguckt, und der ganze Himmel war voll mit Flugzeugen in unterschiedlichen Schichten, oben Düsenjäger, darunter Transportflugzeuge, Hubschrauber. Dann haben wir an Bahnübergängen Panzer gesehen. Und als wir in Prag ankamen, hörten wir Schüsse. Da hat der „Prager Frühling“ schon sein blutiges Ende gefunden. Wir sind noch auf dem Bahnhof von sowjetischen Militärpolizisten verhaftet, dann mit anderen Ausländern mit Bussen in die DDR gebracht worden. Da sind wir in einer umfunktionierten Berufsschule ein paar Tage inhaftiert gewesen, wo wir jeden Tag, damit wir dir richtige Sichtweise kriegten, Karl-Eduard von Schnitzler gucken mussten.

Das hat mich geprägt. Ich wusste auch, wo ich stehe, nämlich auf Seiten der Revolte. Und zwar sowohl gegen das System des Westens als auch gegen das System des Ostens.

Bernd Drücke: Siehst Du bei dem, was jetzt, im Sommer 2013, z.B. in der Türkei passiert, gewisse Parallelen, dass da Neue Soziale Bewegungen, vielleicht sogar ein neuer Anarchismus entstehen könnten, ähnlich wie 1968 in West-Berlin?

Jochen Schmück: Ja und nein. Ich sehe inzwischen eine neue Qualität von Revolten und Revolutionen.

Die 68er Revolte hatte die traditionellen Konzepte der sozialen Revolutionen wieder aufgebracht, sowohl was die marxistische als auch die anarchistische Variante angeht.

Eigentlich erst seit der friedlichen Revolution in der DDR 1989/90 gibt es eine neue Art der Revolte, die weniger einen Klassenkampfcharakter hat.

Man könnte sagen, dass es bürgerliche Revolutionen seien, die stattfinden, aber in einem aus meiner Sicht positiven Sinne. Das Konzept hat sich gewandelt. Es sind eher friedliche Revolten. Jetzt gerade auch in der Türkei sieht man, mit welcher Fantasie die Proteste ablaufen. Da denke ich nur an diesen einen Menschen, ein Choreograf soll das sein, der angefangen hat, still zu protestieren. Inzwischen sind es Hunderte, vielleicht sogar Tausende.

Auch in anderen Ländern gibt es Leute, die still protestieren. Da merkt man, was für eine Kreativität da ist. Man merkt auch, dass sich die Medien der Revolution geändert haben und Informationen ermöglichen, was früher nicht möglich gewesen ist. Jetzt werden die sozialen Netze genutzt, das hat sich schon in Ägypten gezeigt, das zeigt sich auch wieder in der Türkei. Die sozialen Netze ermöglichen andere Formen der kollektiven Kommunikation. Das war 1968 nicht möglich.

Bernd Drücke: Wie war denn 1968 für Dich?

Jochen Schmück: Ich bin 1968 nicht gleich beim Anarchismus gelandet, nachdem ich von den 68er Erlebnissen sowohl in West-Berlin als auch in Prag erfasst worden bin. Das Jahr 68 war gerade in West-Berlin geprägt durch viele Demonstrationen. Mir hat damals die Rote Garde gefallen. Ich war eine Zeit lang Maoist gewesen, weil ich die Militanz und das geschlossene Auftreten sehr imponierend fand. Die Berliner haben damals gesagt, ich war Hertie-Chinese. Die Maoisten wurden Hertie-Chinesen genannt, weil sie vor dem Kaufhaus Flugblätter verteilten. Da wurde ich aber noch einmal ernüchtert, weil das zum Teil absolut lächerlich war, was sich bei der Roten Garde abgespielt hat. Zum Beispiel haben wir uns jeden Sonntag am S-Bahnhof Nikolaussee getroffen, um im Grunewald das Marschieren zu üben, ebenso das Singen von Arbeiterliedern. Das muss man sich so vorstellen, da marschieren jeden Sonntag dort, wo das eher bürgerliche Publikum mit seinen Hunden spazieren geht, so etwa 200 Rotgardisten durch den Wald in ihrer blauen Kluft, singen, üben Karate. Das war schon lächerlich. Aber noch unangenehmer waren solche Geschichten, wo es um diese Selbstkritik ging, die man in regelmäßigen Abständen wiederholen musste. Diese politische Selbstkritik war schon sehr befremdend gewesen. Ich bin letztendlich unsanft aus der Roten Garde herausgeflogen, weil ich in meiner Schule einen wilden Streik angezettelt hatte, der mit der Roten Garde nicht abgestimmt war, und das war’s dann gewesen.

Nachdem ich die Hauptschule beendet hatte, habe ich die Lehre als Kupferdrucker begonnen, da habe ich mich ziemlich geknechtet gefühlt, habe dann ab und zu auch so anarchistische Blätter wie die agit 883 oder die linkeck in die Hand gekriegt. Durch einen Aufkleber, den ich irgendwo auf einem Laternenpfahl auf dem Weg zur Berufsschule gesehen habe, habe ich einen Hinweis auf den AAB, also den Anarchistischen Arbeiter-Bund, erhalten. Das war damals die größte anarchistische Gruppierung in West-Berlin. Da bin ich dann beim Anarchismus gelandet, war zusammen mit meinen Brüdern und meinem damaligen und heutigen Kumpel Rolf Raasch im AAB aktiv.

Der AAB war insofern bemerkenswert, als er sogar eine betriebliche Verankerung bei der Deutschen Reichsbahn hatte, und das hieß eben in einem DDR-Betrieb. Die hatten da auch die Zeitschrift Der Drachen herausgegeben, sich für Lohnforderungen eingesetzt und für Unruhe gesorgt. Das war so extrem, dass sogar die Stasi, wie wir erst nach der Wende erfahren haben, auch einen Spitzel bei uns eingeschleust hatte, der aus West-Berlin berichtet hat.

Da sind vielleicht im AAB auch die Anfänge zu sehen für das, was ich dann später gemacht habe, eben den Verlag. Beim AAB gab es eine Broschürenreihe. Als ich den Libertad Verlag mit meinen Brüdern, Rolf und einigen anderen Ex-AABlern gegründet habe, haben wir auch wieder mit Broschüren angefangen, nämlich den ziemlich populären Anarchistischen Texten, die zum Teil in einer hohen Auflage erschienen sind, also in 3, 4, 5 Auflagen bis zu 8.000 Exemplare.

Bernd Drücke: Den Verlag machst Du seit 1976. Zwanzig Jahre später hast Du mit Günter Hoerig das Projekt DadA – Datenbank des deutschsprachigen Anarchismus gegründet. Kannst Du dazu etwas erzählen?

Jochen Schmück: Das DadA-Projekt ist eigentlich ein Nebenprodukt meines Studiums gewesen. Nachdem ich die Lehre beendet hatte, durch die Welt gereist bin und Anarchisten besucht habe, habe ich meine Mittlere Reife und dann das Abi auf dem Zweiten Bildungsweg nachgemacht, dann angefangen zu studieren: Publizistik, Kommunikationswissenschaften, Geschichte und Politologie an der FU Berlin. In meinem Studium habe ich auch versucht, gerade weil ich den Verlag hatte, ein paar Themen abzudecken, die für den Verlag interessant sein konnten und die mich persönlich interessiert haben. Ich habe mich mit der anarchistischen Presse beschäftigt, von ihren Anfängen um 1790 in Deutschland bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, und habe eine Magisterarbeit zum Thema geschrieben.

Darin war auch eine Bibliografie der anarchistischen Presse, die war das Fundament für die um 1986 entstehende Datenbank des deutschsprachigen Anarchismus.

Ich habe Günter Hoerig kennengelernt. Er lebte in Köln, kam aber ursprünglich aus Leipzig. Er hatte sich auf einer anderen Ebene auch mit der anarchistischen Presse beschäftigt, aber eher mit der der Gegenwart. Weil er Bibliothekar war, hatte er von den bibliografischen Methoden mehr Ahnung als ich. Ich war auf der historischen Schiene besser bewandert. Dann haben wir uns zusammengetan und zunächst offline das Projekt entwickelt. Wenn man etwas über die Datenbank wissen wollte, musste man uns anschreiben oder anrufen.

Dann kam das Internet immer stärker auf, und DadA war früh online, weil mich auch das Internet sehr früh als anarchisches Medium interessiert hat. Um 1996 sind wir online mit unserer Datenbank gegangen.

Wenn man heute etwas zu anarchistischen Themen im Internet sucht, landet man früher oder später auf irgendeiner Seite der DadA-Dokumentation. Dazu ist noch eine Literaturdokumentation gekommen. Vor etwa 10, 12 Jahren hat sich das Ganze noch einmal erweitert, das Projekt DadAWeb ist da entstanden, in dem Sinne, dass wir auch das Lexikon der Anarchie mit aufgenommen haben. Das war zuerst ein Print-Projekt, eine größere Blattsammlung, die Hans-Jürgen Degen entwickelt hatte, mit renommierten Autoren. Viele, die von bestimmten Themen Ahnung hatten, haben beim Lexikon der Anarchie mitgearbeitet, und arbeiten heute noch mit. Diese lose Blattsammlung ließ sich aber schlecht realisieren, war sehr arbeitsaufwendig, weil immer, wenn Änderungen auftauchten, Ergänzungslieferungen zu bestehenden Beiträgen verschickt werden mussten. Jeder, der mal so eine lose Blattsammlung erarbeitet hat und das Einsortieren von Updates kennt, weiß, wie ätzend das ist. Da hat sich das Internet angeboten, und das DadAWeb existierte schon als Projekt. Seither ist es um diesen Bereich erweitert.

Bernd Drücke: Und das nennt sich dann DadAWeb 3.0?

Jochen Schmück: Ne, DadAWeb 3.0 ist eher noch geplant. In dem Sinne, dass wir es schaffen wollen, dass aus der Datenbank des deutschsprachigen Anarchismus eine Datenbank wird, die wirklich jeder auch aktiv nutzen kann. Bisher sind wir allerdings immer an der technischen Realisierung gescheitert. Es soll aber mal in die Richtung gehen, dass auch die User selbst Daten eingeben und pflegen. Meine Vorstellung ist, dass jeder Titel quasi eine Homepage zu dem Titel ist, auf der sich die Leute über die Inhalte des Titels austauschen können, auf der aber auch Angebote gemacht werden können, also ein Marktplatz existiert, wo Leute ihre gebrauchten Bücher verkaufen können, dass da Interaktion angesagt ist, über die reinen Daten hinaus.

Bernd Drücke: Das DadAWeb ist in erster Linie ein Projekt, das den historischen Anarchismus beleuchtet. Wie würdest Du den Gegenwartsanarchismus einschätzen oder beschreiben?

Jochen Schmück: Differenziert. Es gibt im Gegenwartsanarchismus Strömungen, die ich sehr sympathisch finde, weil sie offen sind und auch neue gesellschaftliche Veränderungen aufnehmen. Es gibt aber auch einen Bereich des Anarchismus, der mich eher abtörnt, der schon zu einer Art politischer Sekte verkommen ist, der aus sich selbst zitiert, der an den alten traditionellen klassenkämpferischen Konzepten festhält und sich eigentlich ein Getto eingerichtet hat, sich teilweise darin erschöpft, dass sich die Leute gegenseitig fertig machen. Das ist häufig eben nicht sympathisch, wenn man sich bestimmte anarchistische Foren anschaut…

Bernd Drücke: Du meinst jetzt Anarchopedia und Syndikalismus.tk?

Jochen Schmück: Ja, genau. Das kann man beim Namen nennen. Ich denke, das törnt Leute eher ab, die sich noch nicht so eingehend mit Anarchismus beschäftigt haben. Wenn ich jung und unbescholten wäre und noch keine Ahnung vom Anarchismus hätte, spräche mich so etwas nicht an. Und schon gar nicht den übrigen Teil der Bevölkerung. Da geht es mir ähnlich wie Horst Stowasser, der spätestens seit dem Projekt A, das er initiiert hat, immer wieder versucht hat, aus diesem anarchistischen Getto auszubrechen und Fuß zu fassen in der Wirklichkeit. Seine Einschätzung teile ich.

Ich kann nicht behaupten, dass mich der Anarchismus noch so vom Hocker haut, wie damals, als ich jung und rebellisch und selber revolutionshungrig war, als ich es noch toll fand, als Streetfighter durch Berlin zu laufen. Irgendwann ist man älter. Ich bin inzwischen 60, da taugt man nicht mehr als Streetfighter. Mir geht es eher um die gelebte Anarchie. Vor ungefähr 10 Jahren hatte ich mich im Zuge des Konfliktes mit Anarchopedia zunehmend mit der gelebten Anarchie beschäftigt. Da ist die Idee entstanden mit Anarchie 3.0. Das ist quasi mein Lieblingsprojekt, weil mir aufgefallen ist, dass es über den politischen Anarchismus hinaus viele Beispiele für gelebte Anarchie gibt. Als ich damals damit angefangen habe, für mich den Anarchismus zu hinterfragen, bin ich erst einmal bei den Konzepten der Nachkriegsanarchisten gelandet, also Rudolf Rocker oder Helmut Rüdiger, die aus den Lehren der Spanischen Revolution und auch der Russischen Revolution so etwas wie eine Revision der Ideen der anarchistischen Konzepte entwickeln wollten und einen libertären Revisionismus entwickelt haben.

Das war eine ganze Zeit lang für mich attraktiv, weil das klassenkämpferische Modell aus meiner Sicht nicht mehr Erfolg versprechend war. Die Ideen der libertären Revisionisten basierten darauf, dass man irgendwo irgendwann mal ja sagt zu der Gesellschaft, in der man lebt, und versucht, diese zu verändern, nicht nur über eine Revolution, die man ansteuert und wo man alles in die Zukunft verlagert, sondern dass man schon im Hier und Jetzt aktiv wird.

Dabei habe ich entdeckt, dass es viel mehr Beispiele für praktizierte Herrschaftslosigkeit außerhalb des Anarchismus gibt. Deswegen habe ich auch vorhin zwischen Anarchie und Anarchismus getrennt.

Ich bin in meinem Revisionismus immer weiter gegangen und habe mich gefragt, welche Beispiele es denn für gelebte Anarchie gibt. Da entdeckt man bald, wenn man sich mit anthropologischen und ethnologischen Fragestellungen beschäftigt, dass Anarchie das älteste und erfolgreichste Gesellschaftsmodell der Menschheit ist. Den Staat gibt es noch nicht so lange, höchstens seit 6.000 Jahren; davor gab es die gelebte Anarchie. Wenn man sich anschaut, dass es noch wenige überlebende staatenlose Völker gibt, als Beispiel könnte man die Pygmäen erwähnen, merkt man, dass gelebte Anarchie nicht nur möglich ist, sondern auch ein sehr attraktives, realisierbares Lebensmodell ist, in dem die Leute glücklich sind, in dem sie frei sind, individualistisch, ich rede jetzt speziell von den Pygmäen. Das haut einen vom Hocker, wenn man merkt, welche Methoden der Konfliktlösung sie haben. Das sind funktionierende Modelle.

Darauf basierend bin ich dazu gekommen, dass es Anarchie schon immer gegeben hat. Sie steckt in jedem von uns, jeder ist, wenn man so will, von seinem menschlichen Erbe her, im Grunde Anarchist. Gerade, wenn man sich Krisenzeiten anschaut, nehmen wir mal die Krise des DDR-Regimes im Zuge der friedlichen Revolution, da hat man schnell gemerkt, wenn das nicht mehr mit Herrschaft und Autorität und Bossen klappt, dann gehen die Menschen zu anarchischen Systemen über. Das war gerade damals in diesem „wunderbaren Jahr der Anarchie“ in der DDR so. Da gab es 1989/90 zwischen dem Fall des DDR-Systems und der Wiedervereinigung und Übernahme durch das BRD-System dieses politische Vakuum, in dem sich die Leute teilweise gezwungenermaßen, weil die Dinge ja irgendwie weitergehen mussten, selbst organisiert haben. Es gibt Aussagen von ehemaligen DDR-Oppositionellen, die rückblickend sagen, dass alle ausgesprochen machtmuffelig gewesen seien. Keiner hätte Lust gehabt, Macht auszuüben, irgendwie den Chef zu spielen. Das ging bis hin zur herrschenden Klasse, die sich einfach verkrümelt hat und auch keine Verantwortung mehr übernehmen wollte. Das war zum Teil erstaunlich, was sich da in der DDR an Selbstorganisation getan hat. Für mich ein Beispiel, dass das Anarchische im Menschen drinsteckt und immer wieder zum Vorschein kommt.

Ein anderes Beispiel sind Naturkatastrophen, wo sich Menschen immer wieder selbst organisieren. Da ist man schnell beim Modell der Herrschaftslosigkeit, weil das eben auch ganz gut funktioniert.

Das geht auch darüber hinaus. Ich habe bereits die Neuen Medien angesprochen, dass das Internet per se ein anarchisches Medium ist. Wenn man jetzt z.B. das Modell des Wikis nimmt. Bekannt ist vor allem Wikipedia, aber Wikipedia ist nicht das Wiki-Modell, es gibt eine Menge Wikis, das DadAWeb ist auch ein Wiki. Es ist für Wikis typisch, dass es keine festen Herrschaftsfunktionen gibt, sondern eher kollektive Abstimmungen. Texte werden gemeinsam erarbeitet. Wichtig sind die Methoden der Konfliktlösung, die in Wikis gut geregelt sind. Da kommen Modelle zum Greifen, die man von den frühen staatenlosen Völkern kennt, eher soziale Ächtung und solche Geschichten, weil eine reale Macht ja gar nicht existiert. Die meisten Wikis arbeiten auf freiwilliger Basis. Da müssen sich die Menschen miteinander arrangieren. Da kommen die klassischen Modelle der staatenlosen Völker zum Tragen. Das fand ich verblüffend.

Bernd Drücke: In den letzten Jahren hat sich viel ins Internet verlagert. Früher gab es viele anarchistische Printmedien, heute nur noch wenige. Wie siehst Du die Perspektiven anarchistischer Zeitschriften? Z.B. der anarchosyndikalistischen Direkten Aktion oder der Graswurzelrevolution? Siehst Du da eine Zukunft, oder eher die Gefahr, dass die Printmedien verschwinden werden?

Jochen Schmück: Ich bin gelernter Kupferdrucker und damit jemand aus der Schwarzen Zunft. Und irgendwie hängt mein Herz an den gedruckten Werken. Aber ich muss zugeben, dass ich da skeptisch bin. Man merkt, dass die eBook-Reader immer perfekter werden. Das weißt Du ja sicher am besten, wie aufwendig es ist, eine gedruckte Zeitung zu machen, auch kostenaufwendig. Es ist auch nicht sehr ökologisch, soviel Papier zu verbraten. Von daher denke ich, dass sich das sehr ändern wird. Digitale Produkte bieten mehr Möglichkeiten. Allein, wenn Du überlegst, dass es im Internet die Links gibt, auch beim DadAWeb. Wir können auch im Lexikon der Anarchie Sachen machen, die in dem Printprodukt nicht möglich wären. Da gab es dann in der gedruckten Version immer so kleine Pfeile, wenn z.B. in einem Beitrag über Pjotr Kropotkin Michail Bakunin auftauchte, dann war da so ein Pfeil, und dann wusste man, aha, schau nach bei Bakunin, dann hat man geblättert. In der digitalen Ausgabe klickt man darauf und ist, zack, bei Bakunin.

Ein bisschen was weint in mir, wenn ich sehe, wie diese alte Buchkultur untergeht. Ich kann mich noch daran erinnern, mit welcher Liebe die Altanarchisten an ihren Büchern gehangen haben. Um ein Beispiel zu nehmen: Ich kannte in meiner Jugend ziemlich gut Fritz Scherer. Er war ein alter Anarchosyndikalist und kannte Erich Mühsam noch persönlich. Er hatte mir vermittelt, was für eine Buchkultur diese alte anarchistische Bewegung hatte. Die haben sich das zum Teil vom Munde abgespart.

Beim Libertad Verlag habe ich auch versucht, das, was eigentlich anachronistisch war, wiederzubeleben. Die Buchreihe Archiv für Sozial- und Kulturgeschichte ist in Hardcover eingebunden und damit deutlich haltbarer als diese Paperback-Bücher. Das habe ich auch gemacht, weil ich an dieser Buchkultur hänge. Realistischer weise denke ich, dass es ein Auslaufmodell ist.

Bernd Drücke: Es ist schön, wenn man ein gutes Buch in der Hand hat oder eine Zeitung; das ist anders, als wenn du alles am Computer oder auf dem I-Phone liest. Ich hoffe, dass sich die Print-Lesekultur noch lange halten wird. Aber die Perspektiven sind ungünstig. Das Zeitungssterben ist ein schlechtes Omen. Auch die Auflagenrückgänge vieler Zeitungen. Bei der Graswurzelrevolution ist das noch ein bisschen anders. Der GWR-Handverkauf ist zwar deutlich zurückgegangen, aber die Zahl der Abos steigt. Das läuft gegen den Trend und hängt sicher damit zusammen, dass es nicht mehr so viele Alternativen gibt. Es gibt eben nur noch wenige anarchistische Zeitschriften.

Jochen Schmück: Das stimmt.

Bernd Drücke: Dann konzentriert sich das auf die noch existenten, die vielleicht qualitativ ein relativ hohes Niveau haben. Aber die vergleichsweise positive Aboentwicklung der GWR oder auch die Bestseller des US-Anarchisten David Graeber, sind auch Indikatoren dafür, dass anarchistisches Gedankengut attraktiv ist. Auch in der Blockupy- und Occupy-Bewegung, da gibt es viele libertäre Ideen, die sich in Handlungsweisen widerspiegeln können.

Jochen Schmück: Das sehe ich genauso. Das ist der springende Punkt, dass der Anarchismus gar nicht so erfolglos gewesen ist. Realpolitisch betrachtet war er vielleicht nicht so erfolgreich. Aber erstens waren die Anarchisten sowieso nie realpolitisch ausgerichtet. Und zweitens stand schon bei den alten Anarchisten die Aufklärung im Vordergrund.

Ich finde es schade, dass so wenig in der anarchistischen Bewegung wahrgenommen wird, wie erfolgreich sie kulturell war, wie sehr libertäres Ideengut in alle möglichen Bereiche eingesickert ist, sei es die Psychologie, sei es die Pädagogik. Jetzt nicht im politischen Sinne, dass man sagen kann, hier haben wir eine große Revolution gemacht, und hier haben wir irgendwie die herrschende Klasse beseitigt, und das war jetzt unser Erfolg, sondern es war ein stilles Aufnehmen in der Gesellschaft. Da denke ich, dass der Anarchismus recht erfolgreich gewesen ist.

Du erwähntest die Occupy-Bewegung, das konnte man in den USA gut beobachten, wie so frühere anarchistische Tendenzen als Methoden aufgenommen worden sind, ohne dass es sich anarchistisch genannt hat, ohne dass es als anarchistisch deklariert wurde, aber einen anarchistischen Charakter hatte.

Das meinte ich auch, als ich sagte, dass es viel mehr gelebte Anarchie gibt, als man denkt.

Das ist das, was mich weiterhin beschäftigt, worauf ich mich neben meiner Verlagsarbeit konzentriere. Ich betreibe noch alibro als Spezialbuchhandlung für Anarchie und Anarchismus. Ich muss auch von irgendetwas leben, weil ich von all diesen Projekten noch nie gelebt habe, weder vom Libertad Verlag noch von alibro. Ich habe diese politische Arbeit immer quasi ehrenamtlich gemacht, wollte davon auch nie leben, um nicht Marktzwängen ausgesetzt zu sein. Beruflich betreibe ich heute eine Internetagentur. Das lässt mir leider nicht so viel Zeit, wie ich gerne hätte, um mich mehr in mein Projekt Anarchie 3.0 hineinknien zu können. Aber ich habe da einen Blog. Wer Anarchie 3.0 (4) im Internet sucht, findet das auch, und dann kann man sehen, womit ich mich beschäftige.

Da habe ich auch so witzige Sachen entdeckt wie dieses Orpheus Orchester in den USA, die aus der dortigen Studentenbewegung kommen und das Anarchistische aufgenommen haben in dem Sinne, dass sie den Dirigenten abgeschafft haben, was für ein Kammerorchester eigentlich unvorstellbar war. Die zählen inzwischen zu den bekanntesten, weil auch qualitativ besten Kammerorchestern der Welt. Sie haben direkt eine ausgefeilte Methode entwickelt, wie sie nicht nur ein Konzert gestalten, sondern auch mit Konflikten umgehen. Letztlich geht es ja immer darum, wenn man nicht so ein herkömmliches Machtsystem hat, wo einer das Sagen hat, wie man auf herrschaftslose Art und Weise Konflikte löst.