Erstmals erreichte Block 1 des Atomkraftwerkes Kudankulam im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu am 13. Juli 2013 einen kritischen Zustand.
Die Reaktorleistung soll schrittweise auf 1000 Megawatt erhöht werden. Der zweite Reaktor soll nächstes Jahr hochgefahren werden. Die beiden Druckwasserreaktoren des Typs VVER-1000 wurden vom russischen Atomkonzern Rosatom geliefert. Über einen dritten und vierten Block wird derzeit verhandelt. Insgesamt sechs Reaktoren sind für Kudankulam geplant.
Die Menschen in der Region leisten bewusst gewaltfreien Widerstand gegen die Atomanlage. Seit zwei Jahren führen sie in dem Fischerort Idinthakarai einen Ketten-Hungerstreik durch, immer wieder ergänzt durch unbefristete Hungerstreiks und andere gewaltfreie Maßnahmen in der Tradition Gandhis.
Mit Straßenblockaden erreichten sie im Herbst 2011 einen Baustopp. Dieser wurde im März 2012 durch ein riesiges Polizeiaufgebot beendet. Idinthakarai, das Zentrum der Widerstandsbewegung mit mehr als 10.000 BewohnerInnen, wurde für einige Tage komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Ein freier Zugang dorthin ist auch heute noch nicht möglich. Fast alle Leute im Küstengebiet leben unter einfachsten Bedingungen: sauberes Trinkwasser ist nicht einfach und Strom nur für Einzelne verfügbar.
Ein Friedensforscher muss abtauchen
Trotz der Abriegelung des Gebietes um Idinthakarai konnten wir per E-Mail Dr. S.P. Udayakumar zur aktuellen Situation befragen. Er wurde 1959 in Nagercoil nahe Idinthakarai geboren und beendete sein erstes Studium an der Uni Kerala 1981. Später unterrichtete er jahrelang Englisch in Äthiopien und schloss 1996 sein Aufbaustudium an der Uni Hawaii mit einem Ph.D. der Politikwissenschaften ab. In mehreren Ländern dozierte er zu gewaltfreier Konfliktlösung, Friedensforschung und nachhaltiger Entwicklung. Udayakumar engagiert sich seit Ende der 1980er Jahre gegen Atomkraft und ist Sprecher der PMANE (People’s Movement Against Nuclear Energy).
2002 gründete er in seinem Geburtsort die „SACCER Matriculation School“, in der unterprivilegierte SchülerInnen nach ökologischen und pazifistischen Prinzipien auf die Hochschulen vorbereitet werden.
Diese Schule wurde seit 2011 mehrfach von Unbekannten verwüstet. Konkrete Drohungen gegen ihn als „ausländischen Agenten“ und seine Partnerin erhält er seit langem. Den Ort Idinthakarai konnte Udayakumar nun seit mehr als eineinhalb Jahren nicht mehr verlassen, denn außerhalb droht ihm sofortige Verhaftung und möglicherweise jahrzehntelange Haft.
Der PMANE-Sprecher teilt uns mit, dass Idinthakarai weiterhin nicht mit öffentlichen Bussen zu erreichen ist, der Ort aber mit Nahrung und dem Notwendigsten durch Sammeltaxis und Privatautos versorgt wird. Kinder laufen oft kilometerweit zu ihren Schulen. Zur Gesundheitsversorgung konnten wir nichts in Erfahrung bringen.
Am 1. Juli soll ein Fernsehteam der ARD versucht haben, über die widerständige Bevölkerung zu berichten, durfte aber nicht weiterfahren. Der Aktivist bestätigt uns, dass eine deutsche Journalistin aus dem Gebiet verjagt wurde, als sie sich bei der Polizeistation in Kudankulam anmeldete. Sie sei von Geheimdienst-Mitgliedern und der örtlichen Polizei „übel belästigt“ worden.
Repression gegen Anti-Atom-AktivistInnen
Bisher wurden bereits Zehntausende von AktivistInnen in und um Idinthakarai mit insgesamt 325 Gerichtsverfahren überzogen. Beschuldigungen wie „Krieg gegen den Staat“, „Aufrührertum“, „schwerer Landfriedensbruch“ usw. wurden gegen 227.000 Menschen erhoben. Die hohe Anzahl erklärt sich auch aus Anzeigen in der Form „Frau A., Herr B. und zweitausend weitere … werden beschuldigt…“.
In der Regel laufen also mehrere Verfahren gegen die oder den Einzelnen. Seit fast einem halben Jahr sitzt Herr Ganesan nun schon im Gefängnis. Er ist Mitglied des lokalen Organisationskomitees des gewaltfreien Widerstands, des „Struggle Committee“. Das oberste Gericht Indiens hatte in seinem Pro-Atom-Urteil im Mai 2013 eine Amnestie für die AtomkraftgegnerInnen gefordert. Die zuständige Regierung des Bundesstaates Tamil Nadu verweigert aber die Einstellung der Verfahren mit der Begründung, eine Amnestie sei nicht opportun, solange der Protest fortgesetzt würde und Hungerstreiks und Arbeitsniederlegungen nicht aufhörten. Die AktivistInnen erwarten in absehbarer Zeit keine Einstellung der Verfahren.
S.P. Udayakumar wird von den indischen Medien häufig als „Sektenführer“ oder „Kopf der Aufwiegler“ porträtiert. Rädelsführer würde er hierzulande genannt. Er betont aber, dass die Organisationsstrukturen der Widerstandsbewegung sehr demokratisch sind und alle Beteiligten gleichberechtigt Anteil haben. Zum „Struggle Committee“ gehören Delegierte der umliegenden Ortschaften, VertreterInnen des Aktionsbündnisses PMANE und auch katholische Priester. Das „Struggle Committee“ organisierte zahlreiche Streiks, Demonstrationen und Blockaden auf dem Land und wegen der Polizeipräsenz immer öfter auf dem Wasser.
Fischerfamilien verlieren ihre Lebensgrundlage
Zu den Risiken und Folgen des AKWs muss erwähnt werden, dass die russische Firma Zio Podolsk minderwertige Komponente geliefert hat. Der Chef-Einkäufer von Zio Podolsk wurde verhaftet, weil er minderwertigen Stahl eingekauft und die Preisdifferenz zum für den AKW-Bau notwendigen teuren Stahl eingesteckt hatte. Udayakumar ergänzt, dass auch minderwertige Kabel beim Bau verwendet wurden und dass es aufgrund von Schweißnähten in Bereichen, wo es diese nicht geben darf, zu Problemen am Reaktor-Druckbehälter kommen kann.
Beim Betrieb des Atomkraftwerkes werden tausende Tonnen erwärmtes und niedrig strahlendes Kühlwasser ins Meer gepumpt. Schon das wird Wachstum und Ernährung der Fische, der wichtigsten Lebensgrundlage der Menschen in der Region, massiv beeinträchtigen. Denn direkt neben dem AKW beginnen die Fischgründe. S.P. Udayakumar verweist darauf, dass in nächster Zukunft die Entsalzungsanlagen ihre Abfälle und Chemikalien in die See ablassen werden – der sichere Tod für die meisten Meereslebewesen vor Ort.
Nirgends in der Region haben AtomkraftgegnerInnen Zugang zu Strahlenmessgeräten.
Der Aktivist befürchtet sogar, dass unabhängige Strahlungsmessungen untersagt würden.
Dass der erste Block des Atomkraftwerkes wie angekündigt in wenigen Wochen ans Netz geht, glaubt fast niemand.
Ernsthafte Probleme bestünden weiter, auch wenn die staatliche Betreibergesellschaft alle Hebel in Bewegung setze. Zahlreiche Komponenten des zweiten Reaktors wurden als Ersatzteile für den für den ersten Block verwendet. Diese müssen nun wieder produziert und geliefert werden. Daher könne es Jahre, nicht Monate dauern, bis der zweite Reaktor erstmals Strom liefern werde – in die Städte und für die ferne Industrie.
Die Stimmung in der Bewegung ist weiterhin gut. Es herrscht Optimismus, dass die zusätzlichen vier Reaktoren gar nicht gebaut werden und die weitere Inbetriebnahme der beiden bestehenden verhindert werden kann. Der Widerstand gegen Atomkraft in Indien breitet sich weiter aus, in vielen Regionen bilden sich neue Gruppen.
Auch am geplanten AKW-Standort Jaitapur, an der Westküste im Bundesstaat Maharashtra, engagieren sich immer mehr Menschen gegen die Anlage des französischen Atommultis AREVA.
Seit fast 40 Jahren existiert eine Bewegung gegen die indischen Atombomben. Doch nun gibt es endlich auch eine starke Bewegung gegen Atomenergie, freut sich Udayakumar. Die Aktiven in Indien geben viel von dem, was sie erfahren können, über die Anti-Atombewegung in Deutschland weiter. Der geplante Atomausstieg des industriell und wissenschaftlich hoch entwickelten Deutschlands und die Entscheidung für erneuerbare Energiequellen habe Vorbildfunktion für andere Länder, meint der PMANE-Aktivist.
Dass aus Deutschland weiterhin Atomkraftwerke und Brennelemente exportiert werden, ist in Indien noch wenig bekannt. Die internationalen Atomgeschäfte der BRD finden auch hierzulande noch zu wenig Beachtung.
Infos zur Anti-Atom-Bewegung in Indien
auf Englisch: www.dianuke.org
auf Deutsch: www.indien.antiatom.net
GWR-Artikel zum Thema
Gewaltfrei gegen Atomkraftwerke in Indien, in: Graswurzelrevolution Nr. 373, November 2012
Repression gegen AKW-GegnerInnen, in: Graswurzlrevolution Nr. 375, Januar 2013