Wo immer Georges Brassens, der anarchistische Revolutionär des französischen Chansons mit dem wuchtigen Schnauzbart, im Paris der frühen fünfziger Jahre seine frechen Lieder sang, folgte ihm ein Schatten: ein hagerer junger Mann mit leicht südländischem Aussehen und einem Lächeln, das hundert Zähne zeigte. Nur, dass er sich offenbar selten getraute, zu lächeln. Meist saß er da, in der letzten Reihe, hielt die Hände fest im Schoß gefaltet und wandte den Blick nicht von der Bühne, auf der Brassens schwitzte und rackerte.
Eines Abends, es war nach einem Auftritt in einem der heruntergekommenen Café-Concert auf der Rive Droite, dem rechten Ufer der Seine, fasste sich der Schatten ein Herz. Er drängelte sich zur Bühne und überreichte Brassens – wie er später sagte „mit zitternden Händen“ – die Texte einiger Chansons, die er selbst geschrieben hatte.
Ob er sie sich vielleicht einmal ansehen wolle? Brassens stellte die Gitarre beiseite, griff sich die Blätter und legte die Stirn in Falten. Eine Weile sagte niemand ein Wort. Dann hob er den Kopf, gab die Blätter zurück und stellte knapp fest: „C’est de qualité“. „Das ist gut, das hat Qualität“. Der junge Mann war Georges Moustaki.
„C’est de qualité“.
Mehr bräuchte man eigentlich nicht zu sagen über die Kunst des französischen Chansonniers Moustaki, der am 23. Mai 2013 im Alter von 79 Jahren in Nizza gestorben ist. Aber selbst der Urheber dieses treffenden Urteils wollte es nicht bei bloß vier Worten belassen. 1954 sprach Brassens noch einmal über seinen jungen, zu diesem Zeitpunkt noch unbekannten Kollegen: „Es gibt noch Poeten. Aber sie verstecken sich, hier und da zwischen zwei Steinen oder in einem Nadelöhr. Man hetzt sie pausenlos. Erboste Väter: ‚Man muss voran kommen. Sein Brot verdienen. Was werden die Leute sagen!‘. Sie sterben fast alle sehr jung, diese Poeten, und der Mensch überlebt sie, wie man erzählt. Aber natürlich, ein kleiner Teil entgeht dem Massaker. Und dann feiert man sie wie einen nationalen Triumph. Man hätschelt sie, man nennt sie ‚verehrter Meister‘ – und meint das auch noch ernst! Aber als sie noch nicht so viel hermachten, schlug man ihnen die Tür vor der Nase zu. Moustaki ist einer von ihnen. Er schreibt seine Chansons zwischen den Zeilen. Er hätte genauso gut Unfug nuscheln und ihn vom lyrischen Pöbel singen lassen können. Aber er hat den steilen Weg gewählt. Den Weg ins Nichts. Er vertraut dem Publikum. Er wird seine Belohnung erhalten. Es wird eine Zeit kommen, da werden die Hunde ihre Schwänze genauso brauchen wie George Moustaki, den unverwüstlichen Poeten. Und die, die heute so eifrig bereit sind, ihn zu beißen, werden ihm morgen mit der Hand durch die Haare streichen, sofern noch welche da sind“.
Seine Visitenkarte, hat Moustaki einmal gesagt, sei im Grunde eine Karte der Welt
Am 3. Mai 1934 wurde er als Sohn griechisch-französischer Eltern im ägyptischen Alexandria geboren. Er behielt bis zuletzt die griechische Staatsangehörigkeit. Die Badewanne des kleinen Georges war in der Tat das Mittelmeer. 1951, mit gerade einmal 17 Jahren, ging er nach Paris. Und wiederum vier Jahre, nachdem Brassens die Öffentlichkeit so nachdrücklich auf den jungen Künstler aufmerksam gemacht hatte, kam der Erfolg. Er kam in Gestalt eines Liedes von Moustaki, das eine andere Stimme sang: die Stimme Edith Piafs. „Ich habe ein Jahr lang mit dieser Frau gelebt“, erinnerte sich Moustaki: „Ein Jahr, in dem das Außergewöhnliche alltäglich für uns war. Ein Jahr voll irrsinnigen Lachens, irrsinnigen Lebens, Musik, Stürmen und Leidenschaft. Sie war 42 Jahre alt, ich 24. Wir hatten nicht genug Zeit, um unsere Gegensätze zu überwinden. Aber jedesmal, wenn ich ‚Milord‘ höre, oder eines der anderen Chansons, die ich für sie geschrieben habe, wird mir klar, dass ich einen kleinen Schimmer der Flamme geerbt habe, die sie verzehrt hat“. Denn eigentlich hatte Moustaki gar nichts von jenem selbstzerstörerischen Feuer der Piaf, bei der man vor allem in ihren letzten Jahren meinte, mit jedem neuen Lied sänge sie sich zu Tode. Als er, im Alter von 35 Jahren, zum ersten Mal seit den Fünfzigern wieder ans Mikrophon trat, um seine eigenen Chansons zu singen, war seine Stimme ruhig, dunkel, warm, beinahe zärtlich. Er selber nannte sich spöttisch einen „Chanteur de Charme“, einen singenden Herzensbrecher.
Dabei war er meilenweit entfernt von jenem „lyrischen Pöbel“, den Brassens so verachtete: jenem gleichförmigen, industriell nach Schablone gefertigten Geschluchze und Geschnulze, das damals wie heute im französischen Rundfunk den Äther verstopft.
Moustakis beste Chansons – „Ma liberté“ [‚Meine Freiheit‘], „Ma solitude“ [‚Meine Einsamkeit‘], „La dame guitare“ [‚Die Dame Gitarre‘], „Où mênent ces routes devant moi?“ [‚Wohin führen diese Straßen vor mir?‘] und viele andere – erreichen eine poetische Tiefe, die in der populären Kultur wahrlich nicht alltäglich ist. Er war ein solider Gitarrist und ein sehr fähiger Songschreiber, er arbeitete mit Komponisten wie Theodorakis und Piazzola zusammen, aber die eigentliche Musik lag in seinen Worten. Er war, wie Brassens früh erkannt hatte, ein Poet, ein Wortfinder, ein Mensch, der die Welt ein bisschen schöner machen konnte, als sie war. Dabei war Moustaki alles andere als ein eskapistischer Träumer. Seine erfolgreichste Zeit hatte er in den politisch turbulenten sechziger und siebziger Jahren.
Aber selbst, wo seine Chansons offen politisch wurden, etwa in „Portugal“, in dem er die Nelkenrevolution von 1974 besang, oder in „Nous sommes deux“ [‚Wir sind zwei‘], einer Kampfeshymne gegen die Juntadiktatur in Griechenland aus der Feder von Mikis Theodorakis, stets war da diese unerschütterliche Freundlichkeit, diese Liebe zum Wort, zur Sonne und zum Leben. Für Parolen war Moustaki die Sprache zu schade. Seine Zuhörerinnen und Zuhörer dankten es ihm. Für sein Chanson „Hiroshima“, ein Friedenslied, bei dem man auch heute nicht rot zu werden braucht, wenn man es singt, wurde er zum Ehrenbürger der Stadt ernannt.
In anarchistischen Kreisen sollte sein „Marsch für Sacco und Vanzetti“ bekannt sein, die er auf Bitten von Joan Baez gemeinsam mit dem Filmmusikkomponisten Ennio Morricone („Spiel mir das Lied von Tod“) für einen Film über das Schicksal der beiden Anarchisten schrieb. Dass Baez später behauptete, sie habe das Lied alleine geschrieben und man bis heute in den credits ihrer Schallplatten die Namen Moustaki und Morricone vergeblich sucht, gehört zu den vielen unschönen Erfahrungen, die Moustaki im Laufe seines Künstlerlebens mit dem internationalen Musikgeschäft machen musste: „Als man meine singende Ausländervisage entdeckte“, erzählte er rückblickend, „haben sich die Star-Fabrikanten und ihre Komplizen in den Massenmedien die Lefzen geleckt. So etwas hatte man noch nicht: ein Sänger mit grauem Bart, ein Greis von 35 Jahren, ein nahezu stimmloser Bariton, ein ‚Comebacker‘ aus den Fünfzigern, der eine Art verspätetes Bohèmeleben führte und mit dem Motorrad herumfuhr…“
Aber wie viele Businessleute sich im Laufe seiner Karriere auch an ihn hängen mochten: an der Qualität seiner Arbeit änderten sie nichts.
Der Mitschnitt eines Auftritts im legendären Pariser Konzertsaal „Bobino“ (der heute nicht mehr existiert) von 1970 machte ihn endgültig zum internationalen Star. Wo seine Studioaufnahmen manchmal zu glatt und sauber daherkommen, hat diese Aufnahme Kanten: Es wird gelacht, dazwischengerufen, man hört die Bühnenbretter knarren, und die Instrumente klingen wie Instrumente, nicht wie aneinandergereihte Bites und Bits. Das Album mit dem auffälligen, schwarz-roten Cover lag auch in Deutschland in so mancher WG auf dem Plattenteller, und an den Lagerfeuer Europas schruppten aufstrebende Liedermacherinnen und Liedermacher tapfer „Ma liberté“ und „Le temps de vivre“ [‚Die Zeit zu leben‘], bis sie gefragt wurden, ob sie nicht ‚mal ‚was anderes spielen könnten…
Georges Moustaki blieb bis ins hohe Alter, was man im Englischen einen „working musician“ nennt: ein Musiker, der arbeitet. Gewiss, weil er nicht mehr gut hörte, mischten die Toningenieure seine Stimme bei Live-Auftritten schließlich so laut, dass man selber einen Hörsturz riskierte. Und nicht alle seine späteren Alben sollten im Plattenschrank allzu nahe an die Höhepunkte seines Schaffens aus den sechziger und siebziger Jahren herangerückt werden.
Aber gleichviel: Georges Moustaki hat einen festen Platz in der Geschichte des französischen Chansons, neben den anderen Großen des Fachs wie Brassens, Brel oder Ferré. Und seine Wirkung beschränkt sich nicht auf Frankreich. Kurz vor seinem Tod feierte er noch mit einer katalanischen Sängerin die Übersetzung seiner berühmtesten Lieder ins Katalanische. Er war ein Botschafter des Wortes und der Musik rund um den Globus, in Japan, Indien, Brasilien, in den USA und Afrika. Er sang auf Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Englisch (reichlich fürchterlich!) und Griechisch. Seine Chansons haben Tränen getrocknet, Mut gemacht, den Zorn über das Unrecht geschürt und die Freude am Leben vergrößert. Ihr Schöpfer wird uns fehlen. Sehr sogar.