"Die griechische Polizei konnte der griechischen Gesellschaft ein weiteres öffentliches Gebäude zurückgeben - und zwar, ich betone, ein Krankenhaus - das in der Hand von Hausbesetzern war", so der rechte Hardliner und Minister für öffentliche Ordnung, Níkos Déndias, am 30. August 2013, nach der Räumung des seit 2008 von AnarchistInnen besetzten Zentrums Antibíosi in Ioánnina. Mit unverhohlenem Stolz fuhr er fort: "Recht und Ordnung sind weder eine Regierungsagenda noch eine politische Parole, Recht und Ordnung sind die verfassungsmäßige Verpflichtung und das Anrecht eines jeden Griechen."
Begünstigt durch die Urlaubszeit und den Rückgang der antagonistischen Kämpfe während der heißen Sommermonate, waren die für die brutale Durchsetzung des Sparkurses verantwortlichen Kräfte zuletzt überaus umtriebig. Innerhalb von zwei Monaten wurden in Igoumenítsa, Pátras, Mesolóngi, Ioánnina und Thessaloníki insgesamt neun besetzte Häuser und Zentren geräumt, ohne dass die Bewegung zu großen Gegenmobilisierungen und erfolgreichen Aktionen in der Lage gewesen wäre.
Die Regierung aus konservativer Néa Dimokratía (ND) und sozialdemokratischer Pasok ist angesichts des wirtschaftlichen Desasters zur Überzeugung gelangt, dass ihre einzige Chance weitere Sparmaßnahmen voranzutreiben und politisch zu überleben im Frontalangriff auf widerständige Strukturen und der ständigen Steigerung der Repression besteht.
„Uneinsichtige“, verkündete Ministerpräsident Antónis Samarás, seien offenkundig „Überreste einer gescheiterten Vergangenheit“ und würden dementsprechend behandelt.
Die gnadenlose Repressionspolitik des Staates bekommt nicht nur die anarchistische Bewegung als Hauptfeind im Inneren zu spüren. Schon Anfang des Sommers war es zur Polizeioperation „Thétis“ mit Massenverhaftungen und Misshandlungen von Drogenabhängigen und Obdachlosen in Athen gekommen. Da deren dauerhafte Internierung für den bankrotten griechischen Staat wohl zu kostspielig wäre, wurden sie nach einigen Stunden mitten in der Nacht rund 20 Kilometer außerhalb Athens ausgesetzt. Von ähnlichen Razzien und Polizeimisshandlungen waren Obdachlose und die Transvestitenszene in Thessaloníki betroffen. Kurzfristig festgenommen wurden darüber hinaus griechenlandweit mehrere Kriegsdienstverweigerer, die zum Teil seit Ende der 1980er Jahre für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung kämpfen und nun erneute Prozesse zu erwarten haben. Schließlich kam es Mitte September 2013 zu polizeilichen Hetzjagden auf Prostituierte des Straßenstrichs in Pátras und der Erstürmung von Romasiedlungen am Rande der Stadt.
Schon Mitte August war den im zynisch „Gästezentrum“ genannten Flüchtlingsknast von Amygdaléza inhaftierten MigrantInnen eröffnet worden, dass ihre Internierung von 12 auf 18 Monate verlängert werde. Obwohl die ausbrechende Revolte durch den massiven Einsatz von Tränengas, Blendschockgranaten, Knüppeln und laut Augenzeugen auch scharfer Munition schnell niedergeschlagen wurde, brannten einige der Knastcontainer ab, mehreren Flüchtlingen gelang es zu entkommen. Außer indymedia athen und der genossenschaftlichen Tageszeitung „Efimerída ton Sintaktón, die ausführlich berichteten, herrschte in den folgenden Tagen ohrenbetäubendes Schweigen in der griechischen Öffentlichkeit.
Als AnarchistInnen zur Solidaritätsbekundung beim Prozess gegen die übel zugerichteten Migranten erschienen, wurde ihre Kundgebung auf Anordnung der Staatsanwaltschaft mit Tränengas und Polizeiknüppeln zerschlagen.
In Amygdaléza sind mehrere Tausend Flüchtlinge, deren einziges Vergehen ihre nicht vorhandene Aufenthaltserlaubnis ist, unter menschenunwürdigen Bedingungen inhaftiert. Das Lager wird von der EU finanziert.
Schuldenschnitt oder Staatsbankrott
Durch das Spardiktat der letzten Jahre ist die Lage großer Teile der Bevölkerung immer auswegloser. Nach Lohn- und Rentenkürzungen von 40 %, einer Arbeitslosenquote die 30 % und bei Jugendlichen unter 25 Jahren 65 % beträgt, höheren Steuern, gestiegenen Lebenshaltungskosten sowie einem desaströsen Niedergang des Bildungs- und des Gesundheitssystems ist der Traum der Teilhabe am Reichtum Europas inzwischen einem Albtraum gewichen. Fast 5000 GriechInnen haben in den letzten zweieinhalb Jahren Suizid aus Verzweiflung begangen, über 300.000 meist junge Menschen wegen Perspektivlosigkeit das Land verlassen. Und auch der griechische Staat ist nach wie vor pleite. Die Staatsschulden sind auf über 190 % des Bruttoinlandsprodukts gewachsen, das erneut um 6,5 Prozent geschrumpft ist. Das sechste Jahr in Folge. Mittlerweile gelten 30 % der Immobilienkredite als notleidend, was in absehbarer Zukunft zu Bankenpleiten führen könnte. Die Regierung plant deshalb die Rücknahme eines Notgesetzes, das in solchen Fällen bisher die Enteignung von Häusern verbietet. Eine Enteignungswelle wie in Spanien wäre dann vorprogrammiert, wodurch die Räumungswelle besetzter Häuser aus der Perspektive der herrschenden Eliten eine besondere Bedeutung erhält. Mit derselben Logik treibt die Regierung die Kostensenkung im Gesundheitswesen voran und schließt überall im Land Krankenhäuser und Gesundheitszentren.
Ein Ergebnis dieser Politik ist die Anfang September schriftlich verschickte Aufforderung des Zentrums für Bluttransfusionen an alle Krankenhäuser, die PatientInnen darüber zu informieren, dass es die erforderlichen Kontrollen der Blutkonserven aufgrund der Mittelkürzungen einstellen müsse. Transfusionen seien ab jetzt nur noch „auf eigene Gefahr“ der PatientInnen möglich.
Nicht nur die Allianz der radikalen Linken (Syriza), mit 26,9 % größte Oppositionspartei im Parlament und Hoffnungsträger vieler Linker, hält einen erneuten Schuldenschnitt für unumgänglich. Eine Forderung freilich, die vor den Bundestagswahlen am 22. September nicht nur in Deutschland mit aller Macht unterdrückt wurde. Nicht zufällig reiste die Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF erst zwei Tage nach der Bundestagswahl zu erneuten Kontrollen der „Fortschritte“ nach Athen.
Allgemeine Verelendung oder allgemeiner Aufstand
Ob die in Wahlumfragen mittlerweile vor ND rangierende Syriza überhaupt an die Macht will, ist indes zweifelhaft. Die Chance zum Sturz der Regierung bestand unter anderem im Mai, als Regierungschef Samarás per Notstandsdekret einen Streik der LehrerInnen noch vor dessen Beginn für illegal erklärte und die Zwangsrekrutierung anordnete. Statt in der Gesellschaft trotzdem für den Streik zu mobilisieren, sorgten auch die Gewerkschaftsfunktionäre von Syriza dafür, dass der Ausstand der streikwilligen LehrerInnen in letzter Minute abgeblasen wurde. Inzwischen – die Regierung verfügt nach der autoritären Abschaltung der staatlichen Rundfunk- und Fernsehanstalt im Juni und dem Ausstieg der Demkratischen Linken (Dimar) aus der Koalition, nur noch über 153 der 300 Sitze im Parlament – gleicht sich das Syriza-Wirtschaftsprogramm langsam dem der Regierung an. Kein Ton mehr über die „Rücknahme der Lohn- und Rentenkürzungen“ oder der „harten Neuverhandlungen mit der Troika“.
Giorgos Stathákis, wirtschaftspolitischer Sprecher der Partei tut alles um ehemalige Pasok-WählerInnen, die immerhin dreiviertel des Syriza-Ergebnisses der letzten Wahl ausmachen, nicht zu verschrecken.
So erklärte er jüngst, man wolle die Löhne, Renten und Staatsausgaben auf jetzigem Niveau einfrieren, die Banken rekapitalisieren und ausländische Investoren anlocken. Was sich nicht nach einem Ende des griechischen Albtraums anhört, sondern eher wie die Kopie der Pasok-Verlautbarungen.
Andere gesellschaftliche Gruppen scheinen hingegen bereit für neue Offensiven. Die ca. 2600 entlassenen Angestellten der aufgelösten staatlichen Rundfunkanstalt ERT halten auch drei Monate nach dem Abschalten der Sender die Anstalten besetzt und produzieren ihr tägliches Piratenprogram.
Die Dachgewerkschaft der Staatsbediensteten ADEDY rief aus Protest gegen Entlassungen im öffentlichen Dienst zum zweitägigen Generalstreik am 18./19. September auf. Seit dem 16. September sind es erneut die LehrerInnen, die mit aufeinander folgenden fünftägigen Streiks – also de facto per Dauerstreik – die reaktionäre Bildungsreform, Lehrerentlassungen und weitere Schulschließungen verhindern wollen.
Das fälschlicherweise von der Wochenzeitung Jungle World schon beerdigte, als „von der Regierung geschlossen“ gemeldete indymedia athen, ruft Eltern und SchülerInnen gewohnt kämpferisch dazu auf die LehrerInnen zu unterstützen, den reaktionären „Klassencharakter“ des Bildungsgesetzes zu erkennen und es zu Fall zu bringen. Am ersten Tag des Streiks betrug die Streikbeteiligung zwischen 90 und 100 %, Zehntausende demonstrierten in ganz Griechenland und erste Schulen wurden von den SchülerInnen besetzt. Und nicht zuletzt die HausbesetzerInnenszene hat ihren Sommerurlaub beendet.
Seit Anfang September schwappt eine Welle von Solidaritätsaktionen für die geräumten und bedrohten besetzten Häuser über griechische Städte, Inseln und Dörfer. Lokale Radio- und Fernsehsender in Pátras, Igoumenítsa und Ioánnina wurden stundenweise besetzt um eigene Inhalte zu senden, Demonstrationen, Kundgebungen und Motorradkorsos finden täglich statt.
In Ioánnina wurde eine private Feier des Landrats mit der herrschenden Wirtschafts- und Politikerclique der Stadt in einem Nobelhotel von DemonstrantInnen gestürmt, in Pátras die Sitzung des Stadtparlaments. AnarchistInnen in Iráklion auf Kreta und Ioánnina besetzten aus Protest gegen die Räumungen die Rathäuser und in Igoumenítsa wurde Anfang September eins der drei geräumten Gebäude der Stadt erfolgreich wieder besetzt. Ein während der Besetzung des lokalen Fernsehsenders in Ioánnina ausgestrahlter Film der Antibíosi-AktivistInnen macht deutlich was Déndias unter der „Rückgabe von Gebäuden an die Gesellschaft“ versteht.
Der 15minütige Film ist auf youtube (1) zu sehen und zeigt den Zustand des ehemaligen Krankenhauses bei der Besetzung 2008 nach 15 Jahren staatlichen Leerstandes, die Massen hochgiftiger Arzneimittel und radioaktiver Substanzen, die ohne jegliche Sicherheitsvorkehrung vor sich hin rotteten, und die Verwandlung des Gebäudes in ein lebendiges politisches Zentrum.
Die AktivistInnen haben den Kampf ums Antibíosi-Zentrum gerade erst begonnen.