In gewisser Weise scheint der mutmaßliche Einsatz von Giftgas in Vororten von Damaksus am 21. August 2013 das Beste zu sein, was der Regierung Assad passieren konnte. Denn plötzlich wird sie international wieder als Regierung anerkannt.
Der Präsident, dessen Rücktritt etwa die Bundesregierung bereits im Mai 2011 gefordert hatte – während ihre Verbündeten mit einer ähnlichen Begründung Libyen mit dem Ziel eines Regime Change bombardierten – beantragte den Beitritt Syriens zur Chemiewaffenkonvention, der von den Vertretern Russlands, den maßgeblichen NATO-Staaten und dem UN-Generalsekretärs begrüßt wurde.
Gut zwei Jahre zuvor hatte u.a. die Bundesregierung die diplomatischen Kontakte zur syrischen Regierung fast vollständig eingefroren, später gemeinsam mit der EU und den „Freunden Syriens“, die Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte als „legitime Vertreter der Bestrebungen des syrischen Volkes“ anerkannt.
Zwei Jahre lang hatte die Bundesregierung nichts dagegen einzuwenden, dass ihre Partnerstaaten Waffen an die Opposition lieferten und hat sie auch selbst ihre Hilfslieferungen lieber (streng genommen) illegal und humanitäre Prinzipien verletzend über von den Rebellen besetzte Grenzposten in die von Rebellen gehaltenen Gebiete geliefert, als mit der syrischen Regierung zusammenarbeiten bzw. ihre Hoheit über das syrische Territorium anzuerkennen. Im Rahmen der EU hat sie noch im Mai 2013 mitgetragen, dass das EU-Waffenembargo gegen Syrien nicht verlängert wird, weil u.a. Frankreich und Großbritannien die Rebellen auch offen und mit schwererem militärischen Gerät unterstützen wollten.
Am 10. September 2013 hingegen, knapp drei Wochen nach dem mutmaßlichen Giftgasangriff, begrüßte die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton die Vorschläge, die syrischen Chemiewaffenbestände unter internationale Kontrolle zu stellen, und bot hierbei die Hilfe der EU an. Weiter heißt es in der entsprechenden Pressemitteilung: „Wir erwarten von den syrischen Autoritäten, volle Verantwortung dafür zu übernehmen, dass ihre chemischen Waffen bis zu ihrer von unabhängiger Seite bestätigten Zerstörung sicher aufbewahrt werden und nicht in die Hände anderer staatlicher oder nicht-staatlicher Akteure geraten“.
Das kann geradezu als Aufforderung verstanden werden, unter dem Vorwand, Chemiewaffen zu sichern, noch offensiver gegen die bewaffnete Opposition vorzugehen und die vollständige Herrschaft über das syrische Territorium wieder herzustellen.
Die Medien zogen schnell nach: Assad ließ nicht mehr „sein Volk bombardieren“ oder setzte die „Luftwaffe gegen die eigene Bevölkerung“ ein sondern führte nur noch die „Luftschläge gegen bewaffnete Milizen“ fort, er war nun nicht mehr „Machthaber“, sondern wieder „Präsident“.
Was passiert war, ist bekannt
Am Morgen des 21. August 2013 wurden mehrere Vororte von Damaskus mit Granaten beschossen. Kurz darauf machten schreckliche Videos mit dutzenden Leichen ohne sichtbare Verletzungen und von Sterbenden mit Vergiftungserscheinungen die Runde.
Sie sollten aus Orten stammen, die nur wenige Kilometer von dem Hotel entfernt liegen, in dem UN-Inspektoren untergebracht waren, die drei frühere mutmaßliche Einsätze von Giftgas untersuchen sollten.
Die USA, Großbritannien, Frankreich und Israel zeigten sich davon überzeugt, dass Assad oder zumindest sein Regime hinter dem Einsatz standen, behaupteten zunächst auch über Beweise, später nur noch über starke Hinweise hierfür zu verfügen.
Obama ließ öffentlich militärische Optionen ausarbeiten und verlegte zusätzliche Truppen, insbesondere Kriegsschiffe, in die Region, Frankreich und Großbritannien sowie mehrere Golfmonarchien kündigten ihre Unterstützung für Militärschläge an. Sowohl innenpolitisch wie in der internationalen Öffentlichkeit wuchs der Druck, die von Obama gezogenen „Roten Linien“ durchzusetzen und militärisch zu intervenieren, zugleich zeigten jedoch Umfragen in den beteiligten NATO-Staaten eine deutliche Mehrheit gegen Militärschläge an. Vor allem aber machten China und Russland klar, dass sie einem Mandat hierfür nicht zustimmen würden. Aus den Reihen wichtiger Verbündeter – in diesem Falle auch der im Wahlkampf befindlichen deutschen Bundesregierung – kamen Signale, dass man sich zwar peripher an einem solchen Krieg beteiligen, ihn aber nicht voller Inbrunst gutheißen würde.
Das erste Zurückrudern mit der Behauptung, man wolle militärisch nicht den Sturz des Assad-Regimes durchsetzen, sondern dieses nur durch Luftschläge „bestrafen“, bestärkte international Zweifel an Sinn und Zweck der Intervention.
Für einen entschiedeneren Rückzug von der vorherigen Festlegung auf Militärschläge nutzte zunächst der britische Premierminister Cameron, später auch Obama die Parlamente: Indem sie diese befragten (was beide nicht hätten tun müssen) schufen sie sich eine Möglichkeit, den bevorstehenden neuen Krieg erst einmal aufzuschieben, ohne vollständig das Gesicht zu verlieren.
Was für Gründe hatte dieses Vorgehen, die wachsende Skepsis auch innerhalb der strategischen Gemeinschaft und unter den Kriegsbefürwortern?
Der wichtigste Grund dürfte darin bestehen, dass nach den Debakeln in Afghanistan und dem Irak eine langfristige Besatzung mit Bodentruppen vermieden werden soll und es unter den bewaffneten syrischen Kräften keine „natürlichen Verbündeten des Westens“ (Süddeutsche Zeitung) gab, denen man die flankierenden Offensiven am Boden hätte überlassen können. Hinzu kommt ein offensichtlich immenser Respekt vor der syrischen Luftverteidigung, die mit russischer Hilfe noch während des Bürgerkrieges massiv ausgebaut wurde. Die großzügig an die interessierte Öffentlichkeit lancierten vermeintlichen Angriffspläne schienen sich allesamt daran die Zähne auszubeißen, wie mit Cruise Missiles und Drohnen alleine die hinter dicht bebauten Küsten verteilte Luftverteidigung ausgeschaltet werden könnte, bevor bemannte Kampfflugzeuge mit schwereren Geschützen die eigentlichen Ziele ins Visier nehmen könnten. Zunehmend wurde in der Debatte außerdem das immense Eskalationspotential anerkannt, wenn sich etwa mögliche Gegenschläge – vielleicht gar nicht unter Kontrolle oder Zustimmung des Assad-Regimes – gegen Israel gerichtet und damit womöglich den Krieg gegen den Iran ausgelöst (oder besser: offen eskalieren lassen) hätten. An dieser Stelle kam dann sicherlich auch der Aspekt der innenpolitischen und Internationalen Legitimität ins Spiel: Nicht dass die NATO-Staaten grundsätzlich Hemmungen hätten, einen völkerrechtswidrigen Krieg auch gegen den Willen einer Mehrheit ihrer Bevölkerung zu führen, aber dazu braucht es dann doch klare strategische Ziele (wie bei der Zerschlagung Jugoslawiens im Kontext der NATO-Osterweiterung) und ein gewisses Maß an Geschlossenheit. Alleine mit den Golfmonarchien ohne klares Ziel einen völkerrechtswidrigen Krieg zu führen, der Gefahr läuft, in eine Art Dritten Weltkrieg auszuarten, das wollten sich auch die USA unter dem Friedensnobelpreisträger Obama nicht mehr wirklich leisten.
An dieser Stelle kamen dann die vermeintlich flapsige Aussage des US-Außenministers in London, man könne auf die Luftschläge verzichten, wenn Syrien seine Chemiewaffen abgibt, und die daraufhin von Russland ins Spiel gebrachte Verhandlungslösung gerade recht. Sie gibt allen Beteiligten Zeit, ihre Ausgangslage zu verbessern. Assad kann die vielleicht nur kurze Phase internationaler Anerkennung nutzen, um gegenüber den Rebellen militärisch weiter Boden zu gewinnen. Die USA nutzen die Zeit offenbar, um in Syrien und den Nachbarstaaten jene Milizen auf- und auszubauen, die sie für den Fall tatsächlicher Luftschläge am Boden brauchen und vermutlich auch an der Konstruktion neuer Legitimationsfiguren hierfür.
Und die Bundesregierung braucht sich nicht mitten im Wahlkampf hinter einen Krieg zu stellen, den sie zumindest zu diesem Zeitpunkt und unter den gegebenen Umständen gar nicht will. Deshalb hat sie sich vermutlich auch so schnell und entschieden hinter die Verhandlungslösung in Sachen Chemiewaffen gestellt. Am feinsten heraus scheint gegenwärtig die russische Diplomatie, nachdem sie über zwei Jahre der Kumpanei mit Assad und einer Blockade im Sicherheitsrat bezichtigt wurde und nun als Vermittler auftritt.
Mit Syrien und der Lage der Menschen dort hat das alles so wenig zu tun, wie die internationale Politik bezüglich Syriens von Anfang an mit Demokratie und Menschenrechten zu tun hatte. Es waren lange die unterschiedlichen Projektionen auf das verworrene Konglomerat der syrischen Oppositionsgruppen als „Revolutionäre“, „Menschenrechtsaktivisten“, „Befreiungskämpfer“, „Milizen“, „Söldner“, „Djihadisten“ und „Terroristen“, in denen sich die politischen und internationalen Auseinandersetzungen ausgedrückt, während sie in Syrien selbst die Militarisierung, die Barbarisierung und das Blutvergießen vorangetrieben haben.
Es sollte außer Frage stehen, dass etwa im Falle Deutschlands die Rücktrittsforderungen an Assad, die Anerkennung der Opposition, die Förderung von Gesprächskreisen zum „Day After“ und die Gründung einer Arbeitsgruppe „Wirtschaftlicher Aufbau und Entwicklung“ mit Vertretern der Opposition (noch vor der Eskalation zum Bürgerkrieg), die Diskussionen um eine militärische Intervention zugunsten der Rebellen bei ausbleibender Verurteilung terroristischer Akte und Massaker gegen die Regierung und ihre „Anhänger“, die Duldung der Aufrüstung und die geheimdienstliche Unterstützung des militarisierten Aufstandes usw. vor dem Hintergrund des Regime Change in Libyen zumindest dazu beigetragen haben, dass die Opposition nicht nur zu den Waffen gegriffen hat, sondern in der Hoffnung, zukünftig selbst die Macht im Staate zu übernehmen, auch in Gebiete vorgestoßen ist, deren Bevölkerung mehrheitlich hinter Assad standen oder zumindest mit dem Aufstand nicht sympathisierten. Die unterschiedlichen Projektionen auf den „Widerstand“ sind nun vorübergehend nicht minder irreführende aber dennoch ehrlicheren Personalisierungen gewichen: Obamas „Glaubwürdigkeit“ steht auf dem Spiel, er dürfe „keine Schwäche zeigen“, Cameron sei vom Parlament „gedemütigt“ worden und Merkel habe sich „blamiert“, als sie beim G20-Treffen in St. Petersburg nicht sofort eine Erklärung unterzeichnet hat, mit der sie sich und damit (im Verbund mit Frankreich, Großbritannien und Italien) gleich die ganze EU hinter eine US-Militärintervention gestellt hat.
Das Gerede vom „starken Mann“ verschleiert ebenso wie die Projektionen auf die „Revolutionären“ die zugrundeliegenden Dynamiken internationaler Politik. Die Politik der NATO-Staaten hat sich im Kontext von Ideologien der „humanitären Intervention“ und der „Schutzverantwortung“ zunehmend auf die experimentelle Destabilisierung von politischen Gefügen ausgerichtet, die sich in ihrer Wirtschafts- oder ihrer Bündnispolitik als unzuverlässig erweisen.
In Syrien, das als enger Partner des Iran gilt, wurden die aufkeimenden Proteste im Zuge der Ereignisse 2011 in Tunesien und Ägypten entsprechend als Möglichkeit wahrgenommen, ein unliebsames Regime zu destabilisieren und zu ersetzen – ganz anders als die Proteste etwa in Bahrain, die von einer schiitischen Bevölkerungsmehrheit getragen waren und damit im Verdacht standen, iranischen Interessen Vorschub zu leisten.
Aus keinem NATO-Staat kam hier die Aufforderung nach einem Rücktritt des Königs, Deutschland hielt an seinen umstrittenen Waffenlieferungen an die Staaten des Golf-Kooperationsrates fest. Es ist bemerkenswert und bedenklich, dass sich zivilgesellschaftliche Netzwerke wie „adopt a revolution“ und sogar linksradikale Strukturen aus dem IL-Spektrum diesen doppelten Standards anpassen (vgl. dazu GWR 369).
Zugleich (und vielleicht deshalb) gibt es jedoch auch entgegengesetzte Tendenzen innerhalb der Linken, die dazu tendieren, Assad zu glorifizieren und die russische Außenpolitik zu feiern. Es hat einen wahren Kern, dass die russische Diplomatie gegenwärtig und in Bezug auf Syrien den Vorrang der Diplomatie vor der Kriegführung, das Völkerrecht und das Souveränitätsprinzip verteidigt.
Auch das allerdings geschieht vor dem Hintergrund geopolitischer Interessen, ungeklärter Territorialkonflikte und hat nichts mit den Interessen der syrischen Bevölkerung zu tun. Im Gegenteil: Russland bietet sich damit als Partner – vor allem in Sachen Luftverteidigung und Propaganda – gerade besonders repressiven Regimen an, um sie vor einem von außen geförderten „Regime Change“ zu bewahren.
Es ergibt sich somit eine Konstellation zwischen experimenteller Destabilisierung unerwünschter Regime durch die NATO-Staaten und der Verteidigung autoritärer Systeme durch China und Russland.
Jede Revolte droht, dazwischen erstickt und zerrieben zu werden und muss neue Wege suchen – die Zapatistas in Mexiko haben womöglich Antworten, die syrische Exil-Opposition und andere „Befreiungsbewegungen“, die sich auf Luftunterstützung der NATO verlassen, scheinen keine zu haben.
Anmerkungen
Christoph Marischka ist Mitarbeiter der Tübinger Informationsstelle Militarisierung.
Terminhinweis
Kongress der Informationsstelle Militarisierung e.V.
16./17.11.2013
Schlatterhaus
Österbergstr. 2
Tübingen
www.imi-online.de