schwerpunkt: wahlnachlese

Ich bin nicht frei, ich kann nur wählen … (I)

I. Vermutungen über die Verluste der Grünen

| David Schuster

Nach einem so oft als langweilig kritisierten Wahlkampf wurde ein spannender "Endspurt" nicht nur herbeigeredet: Wird die AfD in den Bundestag einziehen, kommt die FDP wieder ins Parlament? Der Sieg Merkels war sicherlich absehbar, dennoch liegen die Gründe dieses Sieges nicht (nur) auf der Hand. Besonders das schlechte Abschneiden der "Grünen", die vor einiger Zeit noch mit einem möglichen Erfolg um die 20 % gehandelt worden waren, wird nun für Diskussionen sorgen. Aber: Ströbele hat in Kreuzberg/Friedrichshain seinen Wahlkreis mit etwa 40% der Erststimmen erneut gewonnen. Auch hier hat die Partei jedoch Zweitstimmen verloren. Wir wollen versuchen, einige Aspekte aufzunehmen.

„Seit langer, langer Zeit die beste Gelegenheit, aus Deutschland ein besseres Land zu machen“, propagierte kurz vor den Wahlen Ulrike Winkelmann in der taz – dank der guten Konjunkturdaten, des Booms der deutschen Wirtschaft. (1)

Hier zeigt sich schon das ganze Dilemma sozialdemokratisch-grüner Reformpolitik seit eh und je: Sie kann nur verteilen, was die kapitalistische Ökonomie hergibt, deshalb ist sie auf Gedeih und Verderb an die kapitalistische Entwicklungslogik („Wachstum“!) gebunden; um den sozialen Frieden zu wahren, kann nur aus den Zuwächsen verteilt werden: Man kann den Unterklassen mehr zubilligen, ohne es den gut Verdienenden wegzunehmen – soweit die Konjunktur es zulässt.

Verschämt muss auch Ulrike Winkelmann dann anmerken, dass das „in Teilen und unfairer weise zu Lasten Südeuropas geht“. Es gibt die Verlierer, also möglichst immer außerhalb der Landesgrenzen: Auch schwer zu verstehen, wie das mit einer Politik der europäischen Einigung und gar weltweiter Friedenspolitik vereinbar sein soll.

So sind schon im ersten Ansatz unlösbare Widersprüche der reformistischen Politik erkennbar, die sie noch immer nach dem Muster „gelöst“ hat: Das eine ist unsere Programmatik, das andere ist Realpolitik. Und die Programmatik reicht kaum über den Wahltag hinaus, wird aber vor Wahlen immer neu aktiviert, mit Hinweis auf die widrigen Bedingungen bei den früheren Versuchen. Und noch jedes Mal kommen die bösen Umstände den guten Absichten in die Quere.

Das ist eigentlich das, worauf man tatsächlich wetten kann: Auch nach dieser Wahl drängen sich die nicht thematisierten und zum Teil unlösbaren Probleme wieder in den Vordergrund: Die ungelöste Schulden- und Finanzkrise weltweit, aber auch die Zukunftsprobleme um Klimawandel, Rohstoffkriege, Fluchtbewegungen, die mörderische Lebensbedingungen hervorbringen …

Aber Ulrike Winkelmann tritt – wie die Grünen – auch für reale Umverteilungen von den „Besserverdienenden“ zu den vom Ausschluss Bedrohten ein:

„Wenn es einen deutschen Hang zum Leistungsstolz gibt, dann sollen die stolzen Leistungsträger gern beweisen, wozu sie wirklich fähig sind. Wer den Titel nicht braucht, wird von selbst wissen, was wir brauchen: Ein Bildungssystem, das Leistung und nicht Herkunft belohnt, Kommunen, die Kindergärten, Schulen, Schwimmbäder und Parks in benutzbarem Zustand unterhalten können. Eine Ökologisierung von Industrie und Verbrauch. Ein Gesundheitssystem, das die Kränksten und nicht die Privatversicherten am besten versorgt. Ein Arbeitsmarkt, auf dem fair bezahlt wird.

Dieses Wochenende ist die Gelegenheit, Menschen ins Amt zu wählen, die dann hauptberuflich dafür zuständig sind, sich um all das zu kümmern. Also, bitte.“ Bitte? Die Forderungen wurden so zum Teil seit Anfang der 60er Jahre gestellt („deutsche Bildungskatastrophe“), und einige der angesprochenen Probleme haben offenbar alle „mehr Demokratie wagen“-Rhetorik unbeschadet überstanden (Kehrseite waren schon damals Berufsverbote und eine enorme bürokratische Aufblähung des Staatsapparats, Ausdehnung und Zentralisierung der Kompetenzen von Sicherheitsapparaten, Rüstungsexporte „um Arbeitsplätze zu sichern“, die sozialdemokratischen Betriebsräte der Werften! …).

Vor allem ist der Dreh- und Angelpunkt solcher Hoffnungen und Programme: Der Staat, der durch Steuereinnahmen in die Lage versetzt werden soll, die idealen Zwecke der ReformerInnen (und diese selbst! Die Chiffre „hauptberuflich dafür zuständig“ lässt die Kinderaugen leuchten wie unter einem Weihnachtsbaum) zu fördern. Dafür aber müssen die Steuereinnahmen sprudeln, das wiederum hängt an der Ökonomie, Stupid!

So ist schon hier das Ende wie bei Schröder absehbar, und Hollande wird in Frankreich den gleichen Kurs fahren. Darüber hinaus sollten die Etatisten sich einmal fragen, was noch alles mit der Wahl dieses angeblichen Mittels Staat mitgewählt (Autoritarismus, Hierarchie, verdummende Propaganda, um die Staatstätigkeit zu „verankern“ und für „Akzeptanz“ zu sorgen, alles wieder für darauf spezialisierte „Leistungsträger“ hochattraktiv und lukrativ) und was ausgeschlossen wird.

Rot-Grün wollte Ernst machen

Nun kann eine solche Programmatik – und die Grünen mussten es erleben – bei WählerInnen schon gar nicht fruchten, deren gesamte politische und soziale Sozialisation im Kern darin bestand, das eigene Interesse für sakrosankt zu halten. Schon in den 70er Jahren klärten Marx-Lektürekurse sie auf, dass alles gut sozialistisch enden könnte, wenn nur die Menschen nicht gegen ihre Interessen handelten, dann kam die Phase von ABM-Beschäftigung, wo das Hauptaugenmerk darauf gerichtet war „sich nicht unter Wert zu verkaufen“ (soviel Werttheorie hatten sie noch in Erinnerung, aber es blieb auch noch etwas für die folgenden LebensabschnittsgefährtInnen), dann die Phase der Selbstaufblähung zum Leistungsträger mit dem Gestus „Dafür habe ich nicht Jahre studiert“. Schließlich die feste Stelle, Etablierung, öffentliche Präsentation des Ego (bis jetzt zu Facebook, Twitter etc.), vielleicht sogar – doch, das geht wieder – Hausangestellte, hatten die alten Sozialisten auch schon. Und wer es zu etwas gebracht hat, sei es durch Erbe, Netzwerken, brave Parteiarbeit, Denunziation der Konkurrenz … wird das noch stets der eigenen „Leistung“ zuschreiben, stolz darauf sein (denn andere haben es ja zu nichts gebracht, Minderleister!).

In diesen Milieus musste die grüne Programmatik ein gewisses Unwohlsein auslösen, zumal alle hier aus langer Erfahrung wissen, dass es nach den Wahlen immer anders, und eher schlimmer kommt. Gut, dass es da den „Veggie-Day“ („ob man das staatlich verordnen sollte?“) und die Debatte um die Päderasten bei den Grünen und die Partei-Programmatik vor 1989 gab („Jetzt, wo ich selber Kinder habe“), das schaffte Distanz mit Selbstachtung, ohne dass man sich für Ehegattensplitting („Hallo! Wofür haben wir denn geheiratet?!“) und die eigenen Einkünfte („Jetzt kein Sozialneid, bitte!“) stark machen musste.

Aber das ist noch nicht entscheidend. Das Interesse an der Aufrechterhaltung des Profitsystems liegt noch auf einer tieferen Ebene. Die Verinnerlichung der kapitalistischen Logik: Wenn es General Motors gut geht, geht es Amerika gut, wenn die Wirtschaft boomt entstehen neue Arbeitsplätze, Lebenschancen … kurz: Die Standortlogik, das Wissen, dass tatsächlich aller Wohlstand aufgehängt ist an der Verwertung des Kapitals – macht es tatsächlich „alternativlos“ die entsprechenden Bedingungen für profitable Investitionen herzustellen und macht alles verdächtig, was diese Bedingungen gefährdet: „Das Kapital ist ein scheues Reh“, also sollte nicht politisch etwas gefordert oder getan werden, was die Voraussetzungen der Politik unmöglich macht. Diese Logik ist inzwischen auch bei vielen WählerInnen angekommen, nicht zuletzt durch die rot-grüne Bundesregierung und deren Hartz-Reformen. Deshalb ist es auch ein Missverständnis der Grünen-Spitze wenn man nur ein Kommunikationsproblem darin sieht, dass die WählerInnen nicht begreifen wollen, dass 90% von ihnen ja entlastet werden. Aber die anderen 10% „Leistungsträger“, nennen wir sie wieder einmal „Die Wirtschaft“ würden eine Vermögensabgabe und eine höhere Einkommensteuer sehr wohl übel nehmen – und das kann die Umverteilungslogik empfindlich schwächen, weil etwa sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze gerade verloren gehen …

Damit wir uns nicht missverstehen: Die kapitalistische Logik soll gebrochen werden, das gelingt aber nicht, wenn man behauptet, die politischen Maßnahmen oder ökonomische Kämpfe blieben ohne Auswirkungen. Es gelingt auch nicht mit Parlamentsmehrheiten. Die Krise hat auch einen subjektiven Anteil, durch soziale Kämpfe können die Verwertungsbedingungen des Kapitals verschlechtert werden, das bleibt nicht ohne Reaktionen. Diese muss man erkennen, sich dagegen organisieren. Eine Politik, die die WählerInnen einlullt mit Behauptungen wie schon seit Jahren gehört – „Geld ist genug da, es ist nur falsch verteilt“ – betreibt Augenwischerei. Und sie überzeugt nicht einmal.

„Aber auf einen Stinkefinger mehr oder weniger wird es bei der bevorstehenden Wahl nicht ankommen.“ (2)

Von wegen!

Natürlich war der „Stinkefinger“ eine kühl kalkulierte Geste, bewusst zum Abdruck freigegeben, um einige zaudernde SozialdemokratInnen, die Steinbrück als 25.000-Euro-Redner der Stadtwerke Bochum oder Sparkassenvorstand einer Landesbank mit innerer Distanz betrachteten, mit dem nötigen „Stallgeruch“ oder (für unsere Werbefuzzis) „Street Credibility“ mobil zu machen.

Dass allein der Stinkefinger vielleicht sogar Unterschicht-NichtwählerInnen (die Wahlforschung hat festgestellt, dass 20% der häufigen NichtwählerInnen ein Nettoeinkommen von weniger als 1000 Euro monatlich erhalten) noch mobilisieren werde, denen diese schöne Geste eine ganze Sarrazin-Mahlzeit ersetzen könnte: „Na, der hat’s denen ja mal richtig gezeigt. Starke Geste, es geht doch! Heut‘ lassen wir die Küche kalt, da gehen wir ins Wahllokal“ (so der Grundgedanke der dritten Generation sozialdemokratischer WahlstrategInnen).

(1) taz vom 21./22.September, S. 5: KönigInnen von Deutschland

(2) Rothschild, Thomas: Viel Lärm um einen Finger, in: Kontext: Die Internetzeitung aus Stuttgart S. 4, ein recht skurriler Text über Symbolik, der mir den Gedanken nahe legt, dass Steinbrücks "Stinkefinger" eine Art Gesslerhut sein mag, den wir nach gewonnener Wahl dann kollektiv zu verehren hätten, wie auch folgende Passage zeigt: "Beim Kruzifix ist immerhin noch die Erinnerung an den Menschen aufbewahrt, vor dem die Gläubigen niederknieen und den sie anbeten. Der Hut, die Fahne haben nichts mehr mit Menschen zu tun. Irgendwo dazwischen liegt der Stinkefinger: Er kann, muß aber nicht an den Phallus erinnern ..." Zwischen Hut und Fahne liegt der Stinkefinger, ganz meine Meinung.