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Mord an Neonazis in Athen

| Ralf Dreis, Thessaloníki

Zwei Mitglieder der neofaschistischen Partei Chrysí Avgí (XA, Goldene Morgenröte) sind am Abend des 1. November 2013 vor einem Büro der Partei im Athener Stadtteil Néo Iráklio durch Schüsse getötet worden.

Zwei Personen waren auf einem Motorrad vorgefahren, hatten es abgestellt, und sich zu Fuß den vier vor dem Eingang des Gebäudes postierten Männern genähert. Einer der Täter, die laut Augenzeugen Helme und Handschuhe trugen, feuerte ohne Vorwarnung auf die Neonazis.

Der 22-jährige Manólis Kapelónis und der 27-jährige Giorgos Fountoúlis wurden tödlich in Kopf und Brust getroffen, ein drittes Parteimitglied schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert. Laut Polizeiangaben benutzte der Täter eine halbautomatische Pistole der Marke Zastava. Sein Vorgehen erinnere an einen Profikiller.

„Es war ein sozusagen professionell verübter Anschlag“, sagte ein Polizeioffizier auf der Pressekonferenz. Der Täter habe die Schusstechnik „double tab“ oder „controlled pair“ angewendet, wobei innerhalb von Sekundenbruchteilen zwei aufeinander folgende Schüsse abgegeben werden.

Auf Überwachungsvideos ist zu sehen, wie der Schütze innerhalb von sieben Sekunden kaltblütig 13 Schüsse abgibt, sich ruhig abwendet und zum Motorrad zurückgeht. Nach Angaben der genossenschaftlichen Tageszeitung Efimerída ton sintaktón vom 4. November wird die Schusstechnik vor allem von speziell ausgebildeten Einheiten der Polizei, der Armee und der Geheimdienste angewandt. Von Stadtguerillaorganisationen in Griechenland sei sie noch nicht benutzt worden.

Auch zwei Wochen nach der Tat gibt es keinerlei Hinweise auf die Täter und ihre Motive. Die ballistische Untersuchung hat ergeben, dass die Tatwaffe noch nie bei einem Anschlag oder Raubüberfall benutzt wurde, auch ein Bekennerschreiben liegt bislang nicht vor.

Trotzdem geht die Polizei von einem „terroristischen Anschlag“ aus dem linksradikalen Spektrum als Rache für die Ermordung von Pávlos Fýssas aus. In der Nacht des 18. September hatte ein Mitglied von XA den antifaschistischen HipHop-Musiker mit Messerstichen getötet. Seitdem ermittelt die Staatsanwaltschaft u.a. wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung gegen XA. Parteiführer Nikólaos Michaloliákos und zwei weitere Parlamentarier sitzen in Untersuchungshaft, drei andere wurden gegen Auflagen aus der Haft entlassen. Gegen insgesamt zehn XA-Abgeordnete wird ermittelt, die staatliche Finanzierung der Partei ist derzeit ausgesetzt. (siehe GWR 383)

Provokation, Berechnung oder Dummheit

Alle griechischen Parteien und verschiedene linke, linksradikale und anarchistische Organisationen verurteilten aus unterschiedlichen Gründen den Anschlag. Als „objektiv provokatorisch“ bezeichneten Sprecher der Linksallianz Syriza das Attentat, welches XA helfe, „sich als Opfer darzustellen“.

„Das Aroma der Provokation“ verströmt der Mord laut KKE, deren Pressesprecher Giánnis Giókas betonte: „Der Angriff erfolgt in einer Periode, in der auf vielfältige Art versucht wird den Widerstand unseres Volkes aufzubauen“. Der Syspírosi anarxikón (sinngemäß: anarchistische Versammlung, existiert seit den 1990ern, gibt die Monatszeitung Diadromí eleftherías heraus) fällt es schwer, „in dieser Aktion irgendeine befreiende Essenz“ zu entdecken.

Sollte trotzdem demnächst eine „inhaltsschwere Erklärung“ erscheinen und „im Namen des Volkes, der Linken, des Kommunismus, der Revolution, der Gegenmacht oder gar der Anarchie die Verantwortung übernehmen“, ändere dies nichts daran, dass die Aktion „einfach als dreiste Tat im Rahmen der Herrschaftslogik und dementsprechender Ziele charakterisiert werden“ könne.

Nach Ansicht vieler GenossInnen, aber auch von PolitikerInnen und Massenmedien, könnte ein Ziel der Täter die Destabilisierung des Landes sein.

„Zwölf Kugeln gegen die Demokratie“, titelte die konservative Athener Tageszeitung Ta Néa. „Nach dem Mord an Fýssas war ich besorgt, jetzt habe ich Angst“, zitierte die Efimerída ton sintaktón einen namentlich nicht genannten Mitarbeiter von Ministerpräsident Antónis Samarás. Tatsächlich heizt der Doppelmord das überaus aufgeladene Klima im Griechenland der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise gefährlich an, was für die Theorie der beabsichtigten Destabilisierung des sowieso durch und durch verfaulten und kurz vor dem Einsturz stehenden politischen Systems spricht. Und es dringlicher denn je machen sollte, die Frage nach dem Woher der Krise zu stellen. Einer Krise, die so tiefgreifend ist, dass jede Verlängerung in die Katastrophe führen kann, da trotz öffentlicher Dementis inzwischen in Teilen der Bevölkerung eine bürgerkriegsähnliche Stimmung herrscht, die jeden Moment explodieren kann.

XA versucht sich derweil als Opfer zu inszenieren und gleichzeitig die eigene Klientel bei der Stange zu halten. So veröffentlichte die Partei ein Foto der beiden Erschossenen in martialischer Pose, in schwarzen T-Shirts mit dem Aufdruck: „Nicht schuldig… im Sinne der Anklage.“ Eine Formel, die von NS-Kriegsverbrechern während der Nürnberger Prozesse verwendete wurde. In Trauerfeiern wurden die beiden als Mitglieder der so genannten Sturmbataillone von XA geehrt.

Strategie der Spannung

Aus einem besonderen Blickwinkel betrachtet Dimítris Psarrás den Fall. Der Journalist verweist in der Efimerida ton sintaktón vom 5. November auf die im Italien der 1970er Jahre von staatlichen Strukturen angewandte Strategie der Spannung und zieht Vergleiche zum heutigen Griechenland.

Der Mordanschlag erlaube es XA „unabhängig von der Identität und den Zielen der Angreifer, sich vom Täter zum Opfer zu wandeln“. In Italien hatten „faschistische Organisationen unter Anleitung des westlichen Geheimdienstnetzes Gladio“ brutale Bombenanschläge mit hunderten von Toten verübt. Ziel dieser Anschläge war die Kriminalisierung der damals starken revolutionären Linken, das Heraufbeschwören einer militanten Konfrontation zwischen „den Extremen“, das Verbreiten von Angst und Schrecken und das „rettende Eingreifen des tiefen italienischen Staates“, also bestimmter „Strukturen von Armee, Polizei und Justiz, um diesen Bürgerkrieg niederer Intensität zu bekämpfen und einen unter totaler Kontrolle stehenden Notstandsstaat aus der Taufe zu heben“. Überschneidungen mit der jetzigen Situation in Griechenland sind nicht zu übersehen. Den direkten Zusammenhang sieht Psarrás, da „die ersten politischen Erfahrungen der Führungsspitze von XA“, aus den 70er Jahren stammen, deren „anfängliche Parteikader“ nach dem Sturz der Militärdiktatur 1974 „in blutige Bombenanschläge in Athen verwickelt waren, bei denen auch Mitglieder der faschistischen italienischen Ordine Nuovo ihre Finger im Spiel hatten“. Auch XA-Parteigründer Michaloliákos war als Mitglied einer terroristischen Vereinigung angeklagt, wurde letztendlich jedoch nur wegen des Besitzes von Sprengstoff verurteilt.

Die sich „seit zwei Jahren kontinuierlich steigernde“ – staatlicherseits geduldete, wenn nicht geförderte – „Gewalt der faschistischen Sturmbataillone gegen Linke, Antiautoritäre, AnarchistInnen und vor allem MigrantInnen“, hatte zum einen das Ziel die Macht der Straße zu erobern und andererseits „die Angegriffenen zur Gegenwehr mit gleichen Mitteln zu provozieren“. Die so aufgezwungene „Strategie der Spannung auf Griechisch“, führe zu einem „unerklärten Bürgerkrieg niederer Intensität“, der laut Ilías Panagiótaros – einem der angeklagten XA-Parlamentarier – im BBC-Interview vom 17.10.2012 „gegen Migranten und Anarchisten längst Realität“ sei.

Da Regierung und Justiz nach dem Mord an Fýssas gezwungen waren, gegen Teile von XA und der Polizei als Mitglieder einer „kriminellen Bande“ vorzugehen, fällt Syriza, als auf dem Boden der Verfassung stehende Partei als Gegenpart der „Theorie der Extreme“ momentan aus. Andere, abseits von Parteien und staatlichen Gewerkschaften gegen die kapitalistische Diktatur kämpfende Organisationen, werden noch verschärfter zum Ziel staatlicher Repression.

Zwei Wochen nach dem Mord ist im Übrigen klar, dass die Frage nach dem Warum der Krise und ihrer gesellschaftlichen Folgen nicht gestellt werden wird. Die erneut zur Kontrolle in Athen weilende Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF duldet „kein Nachlassen der Sparanstrengungen“.

Im Gegenteil, Poul Thomson, der IWF-Vertreter, stellte Wirtschaftsminister Giánnis Stournáras sichtlich genervt vor der Öffentlichkeit bloß: „Tut nicht ständig so als würde es keine neuen Sparmaßnahmen geben, ihr werdet sie am Ende verabschieden müssen.“

Auch in Berlin sieht Regierungssprecher Seibert „keinerlei Zusammenhang“ zwischen dem wirtschaftlichen Zusammenbruch Griechenlands und den Morden.

Die Regierung aus Néa Dimokratía und Pasok ist längst wieder auf Repressionskurs.

Beginn der endgültigen Zerschlagung?

Acht Hundertschaften Bereitschaftspolizei stürmten am 7.11. frühmorgens um 4 Uhr 30 das „Radiomégaro“, das zentrale Gebäude der ehemals öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt ERT in Athen. Seit fünf Monaten hatten die TechnikerInnen und JournalistInnen des am 11. Juni putschartig geschlossenen Senders von dort rund um die Uhr ein vollwertiges, selbstverwaltetes, widerständiges Radio- und Fernsehprogramm ausgestrahlt.

Etwa 200 ehemalige Angestellte und solidarische Menschen wurden aus dem Gebäude gejagt, davor Protestierende gewaltsam, unter Einsatz von Tränengas, vertrieben. Tausende demonstrierten am Abend gegen die Räumung, Syriza verurteilte sie als „Vollendung einer putschartigen Aktion“ und warf der Regierung vor, sich bei der Wahl zwischen „Demokratie und Einhaltung der Gläubigermemoranden“ erneut für letztere entschieden zu haben.

Die KKE erklärte, „die Umsetzung des Dogmas von Recht und Ordnung“ zeige, dass „die arbeiter- und volksfeindliche Politik mit der Verschärfung von Willkür und Repression Hand in Hand gehen“.

Die selbstverwaltete ERT war in den letzten Monaten zum Bezugspunkt für oppositionelle Gruppen und sich dem Spardiktat widersetzende Organisationen geworden. Die Schließung des Senders hatte im Juni zur Besetzung der ERT-Sendegebäude im ganzen Land durch die über Nacht gefeuerten ca. 2700 Angestellten geführt.

Das selbstverwaltete Piratenprogramm erzielte Einschaltquoten von denen der ehemalige Staatssender nur träumen konnte. Die im ganzen Land weiterhin besetzten regionalen ERT-Sendegebäude führen ihr Radioprogram ungebrochen fort, das kämpferische „freie ERT-Fernsehen“ wird nun in Thessaloníki produziert und ist unter www.ertopen.com im Internet zu empfangen. Trotz polizeilicher Räumungsandrohung sendete ERT während der Feierlichkeiten vom 15. bis 17. November zum Gedenken an die Niederschlagung des so genannten Studentenaufstands 1973, beschützt von tausenden Menschen, darüber hinaus live aus dem Polytechnikum in Athen.

Die „Helden von Ierissós“

Nach viereinhalb Monaten Untersuchungshaft wurden die letzten beiden Inhaftierten des Widerstands gegen den Goldabbau auf Chalkidikí aus der Haft entlassen. Zum Empfang in der Freiheit läuteten die Glocken ihres Heimatdorfes Ierissós. Insgesamt laufen fast 300 Verfahren gegen EinwohnerInnen der widerständigen Dörfer der Region. Allein 35 Menschen werden als angebliche Mitglieder einer kriminellen Vereinigung verfolgt.

Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ist schon seit langem im Widerstand gegen den geplanten Goldabbau des Griechisch-Kanadischen Konsortiums Eldorado Gold. Durch ein im Rahmen der kapitalistischen Krisenverwaltung eingeführtes Fast-Track-Investment-Gesetz, sollen Investitionen multinationaler Konzerne gefördert werden. Mitspracherechte der Bevölkerung und Umweltschutzbestimmungen wurden schlicht abgeschafft.

Laut Aussagen des Netzwerks SOS-Chalkidikí zahlt Eldorado Gold per Regierungsbeschluss weder Steuern, noch muss das Unternehmen für die durch den Goldabbau zu erwartenden Umweltschäden haften.

Die Regierung will „die Investition um jeden Preis“ schützen. In einer zweiten Phase soll auch im nordgriechischen Kilkís und in der Nähe der türkischen Grenze bei Alexandroúpolis Gold gefördert werden.

Im Rahmen eines weltweiten Aktionstages gegen den Goldabbau auf Chalkidikí fanden am 9. November in über 20 griechischen Städten Aktionen statt. In Thessaloníki demonstrierten 15.000 Menschen. In Deutschland fanden Aktionen u.a. in Berlin und Frankfurt statt, in Düsseldorf besetzten AktivistInnen das griechische Konsulat.

Nachtrag

Mitten im Endproduktionsstress dieser GWR tauchte am Abend des 16.11. das auf einem USB-Stick gespeicherte 18-seitige Bekennerschreiben zum Mord an den zwei Neonazis in Athen auf. Die bisher nicht in Erscheinung getretene Organisation "Maxómenes Laikés Epanastatikés Dynámies" (Kämpfende Revolutionäre Volkskräfte), bezeichnet darin die Erschießung der Nazis als "Strafaktion für den Mord an Pávlos Fýssas" und "widmet" sie dem "erniedrigten Proletariat aus Afrika und Asien und jedem herabgewürdigten Migranten, der ständiges Ziel rassistischer Angriffe" ist.

RD