transnationales

Die Echos der Maskierten

Seit 20 Jahren wird der Zapatismus weltweit positiv aufgegriffen

| Jens Kastner

Eine Buskarawane, die die zapatistische Bewegung im Süden Mexikos 2001 als "Marsch der Würde" durch 12 mexikanische Bundesstaaten organisierte, wurde mit den großen gewaltfreien Märschen der von Mahatma Gandhi und Martin Luther King angeführten Bewegungen verglichen. Man hat sie "postmoderne Guerilla", "Guerilla der Worte" und "Diskursguerilla" genannt, um sie von Che Guevaras Erben, den Guerilla-Bewegungen der späten 1960er und der 1970er Jahre in Lateinamerika abzugrenzen.

Der Sprecher der EZLN, Subcomandante Marcos, wurde trotzdem als neuer Che gefeiert, bevor er selbst sich wie einst der Befreiungsheld und Posterrevolutionär aufs Motorrad schwang, als „Delegierter Null“ 2006 die als Alternative zum Präsidentschaftswahlkampf gedachte „Andere Kampagne“ anführte und dann in der Versenkung verschwand.

Für das Schweigen seitdem wurden sie, die Wortgewaltigen, mit Häme überschüttet, weil damit politische Ratlosigkeit assoziiert wurde.

Als dann Ende 2012, das Datum, zu dem ihre Vorfahren angeblich das Ende der Welt vorhergesagt hatten, rund 40.000 Maskierte in einem Schweigemarsch die Faust ballten, schwiegen wiederum die vormals Hämischen. Das Spiel mit solchen Widersprüchen ist Teil des zapatistischen Spiels.

Rassismus, Armut und Neoliberalismus, die drei wesentlichen Großanlässe für das Entstehen der Bewegung, sind nach wie vor virulent. In Mexiko und weltweit. Aber die Effekte und die Wirkungsweisen von sozialen Bewegungen lassen sich ohnehin nicht am Schrumpfen ihrer Entstehungsursachen ablesen.

Ein Indikatorenfeld könnte das angedeutete sein: Motivationen erzeugen, historische Parallelen anbieten oder gerade ausschließen, dort Spuren hinterlassen, wo es niemand für möglich gehalten hatte. Auf einer CD der Goldenen Zitronen etwa, im Bildrepertoire eines Stadtblattreporters, eigentlich überhaupt in Köpfen und Begehrensvorräten westlich zivilisierter Menschen. Denn was haben wir schon mit den Lebensrealitäten indigener Bevölkerungsgruppen im südlichsten und ärmsten Bundesstaat Mexikos gemeinsam, ja selbst mit ihren Kämpfen, dass wir uns mit ihnen beschäftigen?

Wie kam es, dass Leute, die ihre Gesichter mit pasamontañas, dem mexikanischen Skimützenpendant, und Tüchern verdeckten, um endlich gesehen zu werden, auch gesehen wurden?

Die Kämpfe der südmexikanischen Landbevölkerung sind auf ein Echo gestoßen, das enorm war. Etwas mehr als drei Jahre vor Beginn des Aufstands war die Sandinistische Revolution abgewählt worden, der Ostblock – für viele Linke wenn auch kein Gegenmodell, so doch ein machtpolitisch gern gesehenes Korrektiv gegenüber der kapitalistischen Expansion – war zusammengebrochen und George Bush senior hatte die Neue Weltordnung verkündet. In Mexiko regierte seit 1929 dieselbe Partei, seit den 40er Jahren unter dem schönen Namen Institutionell Revolutionäre Partei (PRI). Die politischen Rahmenbedingungen erklären zumindest die Überraschung, die die indigen geprägte Bewegung am 1. Januar 1994 auslöste. Die eigenen Inhalte, das basisdemokratische, auf Zuhören basierende Politikmodell und der Kampf gegen den Neoliberalismus waren die Schlüssel für die große Anschlussfähigkeit. Und nicht zuletzt die Formen, eine ungewohnt poetische Sprache in den Verlautbarungen und eine extrem einfallsreiche Kampagnenpolitik (Konvent, Marsch, Verhandlung, Intergalaktische Treffen, Befragung, Buskarawane, Festival u.v.a.), machen die Begeisterung nachvollziehbar.

Für die globalisierungskritischen Bewegungen wurde der Zapatismus zu einer – wenn auch, wegen seiner Fundamentalopposition gegenüber dem staatspolitischen System umstrittenen – zentralen Bezugsgröße. Wegen der offensiven Suche nach Alternativen zur kapitalistischen „Modernisierung“.

Auch wenn die „dritte Schulter“, wie Subcomandante Marcos die transnationale Unterstützung nannte, in den letzten Jahren merklich schwächelt und auf ihr nicht mehr allzu viel ruht: Jenseits von konjunkturellen Tiefs revolutionsromantischer wie journalistischer Logiken sind die Zapatistas nach wie vor eine wichtige Konstante in den Kämpfen gegen rassistische Ausgrenzung, gegen die Diskriminierung von Frauen aber auch gegen infrastrukturelle Großprojekte und Umweltzerstörung.

Es gab Solidaritätsgruppen und es gibt Kooperativen, die fair gehandelten, ökologischen Kaffee aus den zapatistischen Gebieten vertreiben. Und es gab und gibt auch zahlreiche Protestbewegungen, die zapatistische Forderungen und Konzepte aufgriffen und in ihren eigenen Kämpfen nutzten, die Tute Bianche in Italien zum Beispiel. Selbst bei Studierendenprotesten in Frankreich, Deutschland oder Österreich tauchten zapatistische Parolen auf.

Und dann das intellektuelle Feld: Hier wurde konzeptuell vermittelt, warum die Frage der Landverteilung, die Frage nach Autonomie und kulturellen Rechten, die Frage der Bildung verarmter Bevölkerungsteile und die Frage politischer Organisierung und Repräsentation nicht nur im mexikanischen Bundesstaat Chiapas zu stellen sind. Auch in Mexiko leben mittlerweile drei Viertel der Bevölkerung in Städten, auch aus deren objektiven Lage ergeben sich nicht notwendiger Weise Gemeinsamkeiten mit ihren bäuerlichen Landsleuten. Und dennoch geht es um universelle Fragen.

Die Feministin Silvia Federici etwa beschrieb den zapatistischen Widerstand gegen die Aufhebung der verfassungsmäßigen Garantie von Gemeindeland als Auftakt für eine Auseinandersetzung um „commons“ (in etwa: „das, was allen gehört“) in der radikalen Linken.

Der Literaturwissenschaftler und Theoretiker der Dekolonisierung, Walter Mignolo, bescheinigte den Zapatistas einen „epistemischen Bruch“, d.h. einen grundsätzlichen Wandel herbeigeführt zu haben in der Art und Weise, wie Politik zu denken ist. Michael Hardt und Antonio Negri, die Autoren der viel diskutierten Bücher „Empire“ und „Multitude“ haben die zapatistische Praxis als Beispiel für ihr Konzept der (nicht-staatlichen) „konstituierenden Macht“ aufgeführt.

Und der marxistische Philosoph Étienne Balibar beschrieb die zapatistischen Forderungen als prototypisch für jene nach dem „Recht auf Rechte“, das Marginalisierte in aller Welt mehr und mehr formulieren würden. In Philosophie, Politikwissenschaft, Soziologie, soziale Bewegungsforschung und andere Wissensproduktionen, das soll damit gesagt sein, intervenierten die Zapatistas also nicht nur als (passiv beforschter) Gegenstand, sondern auch als Inhalte generierende Kraft. Das ist nur ein kleiner, eben vermittelnder Teil zapatistischer Politik und wie er zu den Kräften steht, die in Chiapas Hunderttausende jenseits staatlicher Strukturen mit Nahrung, Bildung, Infrastruktur versorgen, die Frage soll an dieser Stelle gar nicht aufgeworfen werden.

Schließlich, vor lauter Faszination dürfen natürlich auch die potenziellen Sackgassen und Fallstricke nicht vergessen werden, die bei voll gegen das staatspolitische System ausgerichteten Strategien immer lauern. Weniger als Vereinnahmung also Regionalismus oder gar Isolation.

Aber das sind beileibe nicht die Probleme, an die anlässlich des zwanzigsten Jahrestages des Aufstands, der auf Anraten der Chase Manhattan Bank sofort hätte vernichtet werden sollen und der seitdem von einem Drittel der mexikanischen Bundesarmee umstellt ist, zu gemahnen ist. Ich denke, man kann sicher sein, dass eine politische Beschwörungsformel von hier aus – von den zapatistischen Gebieten in Mexiko und in aller Welt – auch in den kommenden Jahren tagtäglich umgesetzt wird: „¡La lucha sigue!“, „Der Kampf geht weiter!“ Und das ist, solange es Armut, Rassismus und Neoliberalismus gibt, gut so.

Jens Kastner