Im von deutschen Truppen besetzten Italien ermordeten am 24. März 1944 SS-Soldaten 335 Menschen in der Nähe von Rom. Dies geschah als "Vergeltung" für einen Anschlag der antifaschistischen Widerstandsbewegung gegen die Wehrmacht, bei dem 33 deutsche Soldaten ums Leben kamen.
Der SS-Mann Erich Priebke war zusammen mit seinem Vorgesetzten Herbert Kappler an diesem Massaker in den Ardeatinischen Höhlen bei Rom direkt beteiligt, hakte die Liste der aus einem Gefängnis ausgesuchten Opfer ab und erschoss selbst zwei Gefangene. Durch einen „Zählfehler“ wurden fünf Menschen „zu viel“ ermordet, als die von Hitler geforderten 330. Unter den Opfern befanden sich 75 Personen jüdischen Glaubens.
Dieses Massaker erwähnten die deutschen Medien durchaus mehr oder weniger ausführlich, als Priebke am 13. Oktober 2013 in Italien starb. Es dominierte jedoch in der anschließenden öffentlichen Diskussion die Frage: Wohin mit der Leiche, damit es keinen Wallfahrtsort für Neofaschisten gibt?
Über die systematisch verhinderte Aufarbeitung des Verbrechens während der letzten Jahrzehnte durch Justiz, Behörden und Politik wurde wenig gesagt. Die Kumpanei von alten Nazi-Kameraden und BürokratInnen in diesen Strukturen war kein Thema mehr. Jetzt endlich konnte ein Schlussstrich unter die „unselige Vergangenheit“ gezogen werden. – Es hat ja lange genug gedauert, denn Priebke wurde 100 Jahre alt und machte immer wieder durch zusätzliche Skandale auf sich aufmerksam. Er störte seit 1945 ganze 68 Jahre lang die Ruhe, die viele so gerne gehabt hätten.
Erinnern wir uns
Dass Priebke von der Katholischen Kirche zeitweilig in Südtirol versteckt wurde und dann mit vom Vatikan ausgestatteten Papieren 1948 nach Argentinien fliehen konnte, verwundert nicht wirklich. Diese „Rattenlinie“ in Richtung Lateinamerika ist inzwischen hinlänglich bekannt. In Argentinien konnten sich Adolf Eichmann, Josef Mengele und zahlreiche andere Nazi-Größen verstecken. Zusammen mit geflüchteten (Nuklear-) Wissenschaftlern und anderen Fachleuten machten sie sich oft im diktatorischen argentinischen Regime nützlich.
Die Jahre in Argentinien
Priebke baute sich im Kurort (und Nuklearforschungszentrum) Bariloche, 1800 Kilometer von Buenos Aires entfernt, nach 1948 eine bieder-bürgerliche Existenz als Delikatessenhändler, Metzger und Wurstfabrikant auf und arbeitete sich innerhalb der deutschen Exilgemeinde zu einem geachteten Repräsentanten hoch. Er versteckte sich nicht.
Bald wurde er zum Vorsitzenden des Deutsch-Argentinischen Schul- und Kulturvereins gewählt (1). Er stand mit vollem Namen im Telefonbuch und schrieb sogar jährliche Rechenschaftsberichte des Vereins im nazifeindlich eingestellten Argentinischen Tageblatt.
Die deutsche Schule und Begegnungsstätte in Bariloche wurde von der Bundesregierung subventioniert. Aus seiner rechtsradikalen Gesinnung machte Priebke in seiner Funktion als Vorsitzender keinen Hehl. Er sorgte dafür, dass missliebige DirektorInnen und LehrerInnen, die die faschistische Vergangenheit kritisch aufarbeiten wollten, aus dieser Schule hinausgedrängt wurden. Bücher von Heinrich Böll hatten keine Chance, in die Schulbibliothek aufgenommen zu werden. Böll wurde von ihm und seinem Umfeld als „kommunistischer Schmierfink“ denunziert (2).
Die Vergangenheit von Priebke war in Bariloche bestens bekannt. „‚Ich hol’noch schnell Schinken beim Nazi‘, pflegten die Hausfrauen hier früher ihren Weg zur Metzgerei anzukündigen“ (3).
Als honoriger Bürger arbeitete er mit den deutschen Behörden in Argentinien Hand in Hand zusammen. „In der deutschen Botschaft in Buenos Aires war er seit über 40 Jahren bekannt, anstandslos wurde sein Paß erneuert, und bei manchen Veranstaltungen vertrat der alte Herr auch schon mal den Konsul. Unser Mann in Bariloche“ (4).
Mit dem deutschen Pass machte Priebke dann Urlaub – in Italien, seiner alten „Wirkungsstätte“ (5)! Er traf sich dort auch mit anderen ehemaligen SS-Angehörigen (6). Als ob nichts gewesen wäre.
BRD-Behörden sabotierten Strafverfolgung
In der BRD wurde nach 1945 eine besondere Behörde geschaffen, um NS-Kriegsverbrechen zu ahnden: Die „Zentralstelle im Lande NRW für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen“ in Dortmund. Diese „bearbeitete“ den Fall Priebke in den Jahren 1963 bis 1971 allerdings auf ihre ganz eigene Weise.
Die ebenfalls in Dortmund vorliegenden italienischen Justizdokumente, die Priebkes Vorgesetzten Herbert Kappler des Mordes schwer belasteten, wurden nicht übersetzt und verschwanden in der Ablage.
Sie hätten auch bei Priebke den Vorwurf des Mordes gerechtfertigt. Priebkes Tat wurde von der Zentralstelle 1971 lediglich als Totschlag gewertet und damit als verjährt angesehen. Im Amtsdeutsch hieß dies: „nicht auszuschließende Verfolgungsverjährung“ (7).
Erst 1996 kam ans Licht, dass viele der zur Verfolgung von NS-Verbrechen angesetzten Staatsanwälte in NRW früher selbst der NSDAP oder den ihr angeschlossenen Organisationen angehörten. Der im Fall Priebke von 1964 bis 1973 zuständige Generalstaatsanwalt war vor 1945 selbst Mitglied der NSDAP, der SA, des NS-Studentenbundes und des NSRB (8).
Die Zentrale der Landesjustizverwaltung in Ludwigsburg zählte bundesweit 88.274 eingestellte Verfahren gegen NaziverbrecherInnen und nur 6.482 abgeschlossene Fälle (9). In einem Bericht über die Zentralstelle in Dortmund verkaufte 2007 die Historikerin Edith Raim wie zum Hohn diese Vorgänge auch noch als „Erfolgsgeschichte“: „Nie zuvor hat sich eine Nation so lange mit solchen Verbrechen auseinandergesetzt“ (10). Und der Dortmunder Nazi-Chefankläger Oberstaatsanwalt Ulrich Maaß sekundierte wörtlich: „Man hofft auf einen Zufallstreffer“!
Nach der Einstellung des Verfahrens 1971 in Dortmund nutzte Priebke eifrig die Gelegenheit, problemlos mehrmals in der BRD Urlaub zu machen. – In Italien hingegen erging es seinem ehemaligen Vorgesetzten Herbert Kappler nicht so gut. Dieser wurde 1948 zu lebenslänglicher Haft verurteilt, die er in der Festung Gaeta verbüßte.
Kapplers Sozialdemokratische FürsprecherIn den folgenden Jahrzehnten konnte Kappler immerhin der Fürsprache und Fürsorge von prominenten SozialdemokratInnen sicher sein.
Bundespräsident Heinemann und die Kanzler Brandt und Schmidt setzten sich in Gnadengesuchen bei der italienischen Regierung für ihn ein.
Als er 1977 an Krebs erkrankte, wurde Kappler in das römische Militärkrankenhaus Celio verlegt und von Carabinieris bewacht. Seine Ehefrau, die er 1972 im Gefängnis geheiratet hatte und die sich unermüdlich für seine Freilassung einsetzte, besuchte ihn „zwei Dutzend“ mal per Flugreise. Diese Flüge wurden aus Mitteln beglichen, die „dem Deutschen Roten Kreuz aus dem Haushalt des Bundesinnenministeriums zur Verfügung gestellt worden sind“ bekundete das DRK (11). Dies geschah unter einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung.
Frau Kappler war selbst Mitglied der SPD und arbeitete mit dem SPD-MDB Adolf Scheu zusammen. Dieser war Mitglied eines interfraktionellen Ausschusses des Bundestags, der sich für die Freilassung von deutschen KriegsverbrecherInnen einsetzte. Als der kranke Herbert Kappler unter dubiosen und bis heute letztlich ungeklärten Umständen mit Hilfe seiner Frau aus dem Krankenhaus in die Bundesrepublik Deutschland flüchten konnte, war Scheu wenige Tage vorher in Italien.
In Zeiten der RAF-Terrorismushysterie hätte ein Schwerkranker ohne maßgebliche amtliche Unterstützung nicht unbehelligt und unerkannt die lange Reise über zwei Grenzen hinweg schaffen können. Ein Sturm der Entrüstung brach in weiten Teilen der Bevölkerung Italiens los, denn das antifaschistische Erbe der Resistenza war zu dieser Zeit noch recht lebendig. „Dies führte damals kurzfristig zu einer Verstimmung in den diplomatischen Beziehungen“ (12) zwischen Italien und der BRD, schrieb Henning Klüver in der Süddeutschen Zeitung.
Kappler konnte in Deutschland bleiben und wurde nicht wieder an Italien ausgeliefert. Er starb einige Monate später am 9. 2. 1978 in Soltau.
Weit weg von diesen Turbulenzen feierte Priebke in Bariloche mit seinen GesinnungsgenossInnen weiterhin an den entsprechenden Jahrestagen Hitlers Geburtstag oder organisierte 1989 nach dem Fall der Berliner Mauer eine „Freiheitsparty“.
Priebke wieder in Italien
Seine eigene Bewegungsfreiheit wurde 1994 zeitweilig eingeschränkt, nachdem ein bekannter US-Fernsehmoderator ihn in Bariloche aufstöberte und seine Vergangenheit medienwirksam aufdeckte.
Priebke, inzwischen unter Hausarrest, zeigte in seinen Interviews mit großen Zeitungen keinerlei Reue und betonte immer wieder, dass er sich belästigt fühlte.
1995 wurde er nach Italien ausgeliefert und 1996 von einem Militärgericht (!), das mildernde Umstände geltend machte und das Verbrechen als verjährt einordnete, freigesprochen. Im früheren jüdischen Ghetto in Rom kam es zu erregten Aufläufen und Wutausbrüchen, viele Menschen weinten auch (13).
Ein paar Tage später fand in Rom eine Demonstration gegen dieses Skandalurteil mit über 20.000 TeilnehmerInnen statt. Die gesamte Politprominenz vom Ministerpräsidenten bis hin zu den Rechten war dort anwesend (14).
Drei Monate später wurde der Freispruch vom Kassationsgerichtshof aufgehoben und Priebke bekam nach mehreren weiteren juristischen Verfahren letztendlich 1998 Lebenslänglich. Bemerkenswert ist, dass während dieser Prozessphase ausgerechnet die BRD, die 1971 den Fall Priebke zu den Akten legte, nun ein Auslieferungsbegehren für Priebke aussprach (15).
Priebke ein „Ersatzschurke“?
Auch in Italien wollte Priebke nicht zugestehen, welche Schuld er durch seine Beteiligung an dem Massaker auf sich geladen hatte und heizte die Atmosphäre durch ein Interview mit der Tageszeitung „IL Messaggero“ 1997 weiter an: „Statt einem alten Soldaten dafür zu danken, daß er im Krieg seine Pflicht getan hat, haben sie mir den Paß weggenommen und mir einen Haftbefehl geschickt“ (16).
Obendrein wurde auch in einigen BRD-Medien der Eindruck erweckt, dass das neue angeblich „zu harte“ Lebenslänglich-Urteil ein Racheakt italienischer Behörden für das von der BRD begünstigte Entkommen von Kappler aus dem italienischen Militärhospital zwanzig Jahre zuvor gewesen sei. Priebke sei als „Ersatz-Schurke“ für den entkommenen Kappler von italienischen Behörden zu sehr in die Mangel genommen worden. Genau diese Sichtweise konnte der ehemalige Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Rom, Carlos Widmann, in seinem siebenseitigen Artikel „Justizfarce um einen Ersatzschurken“ in „Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“ ausbreiten. Diese Zeitschrift ist übrigens seit ihrer Übernahme durch die Friedrich-Ebert-Stiftung das Theorieorgan im Umfeld der SPD!
Nach seiner Verurteilung wurde Priebkes Haft in einen komfortablen Hausarrest mit zeitweise täglichem Freigang umgewandelt. Er konnte bei seinem Anwalt arbeiten, einen kritischen Filmproduzenten (17) und die Tochter eines seiner Opfer verklagen (18), zum Einkaufsbummel in die römische Innenstadt fahren (19) und nebenbei Urlaub am Lago Maggiore machen (20).
Teile der NPD brachten ihn 2003 als möglichen Kandidaten für das Amt des deutschen Bundespräsidenten ins Gespräch (21). Seit vielen Jahren wird Priebke von der Rechten als unbeugsamer Held und Patriot verehrt. Zu seinem 99. Geburtstag veranstalteten sie in seinem Geburtsort Hennigsdorf (Brandenburg) einen nächtlichen Fackelaufmarsch mit Pappmasken mit dem Gesicht Priebkes (22).
Ein Jahr später starb Priebke im Alter von hundert Jahren und wurde an einem unbekannten Ort begraben. Die schreckliche deutsche Normalität setzt sich ab jetzt ohne ihn fort.
(1) Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Nr. 12, 1997
(2) Neues Deutschland, 9.11.2006
(3) "Freitag", Nr. 27, 1.7.1994
(4) Siehe 1
(5) Westfälischer Anzeiger, 2. 8. 1996
(6) FAZ, 4. 9. 1995
(7) Landtag intern (NRW), 10.9.1996
(8) Neues Deutschland, 24.8.1996
(9) Junge Welt 25.5.1999
(10) Westfälischer Anzeiger, 27.6.2007
(11) Konkret, Nr. 10, 1977
(12) Süddeutsche Zeitung, 30.11.1995
(13) TAZ, 3.8.1996
(14) TAZ, 7.8.1996
(15) Westfälischer Anzeiger, 3.8.1996
(16) Die Zeit, 30.6.1997
(17) TAZ, 18.10.2003
(18) TAZ, 1.6.2001
(19) Neues Deutschland, 7.10.2010
(20) Neues Deutschland, 13.8.2005
(21) Die Zeit, 7.6.2010
(22) Neues Deutschland, 31.7.2012