Bei der Beschäftigung mit Anarchie kommen wir um das Thema Freiheit nicht herum, schnell lesen wir von Herrschaftsfreiheit, geht es um "freie gegenseitige Vereinbarungen" (Pjotr Kropotkin), eine freie Gesellschaft mit freien Menschen. Freiheit ist ein wichtiger Teil der anarchistischen Utopie. Allerdings findet selten eine genauere Beschäftigung damit statt, was unter dem Freiheitsbegriff verstanden wird. Woran ließe sich konkret erkennen, dass Freiheit da ist? Wie ist sie erfahrbar und was macht sie aus?
Oft wird der Begriff Freiheit im Sinn von Freiheit von Unterdrückung, Herrschaft etc. verwendet. Der Aspekt Freiheit zu im Sinne von z.B. Freiheit lernen zu können, Vereinbarungen treffen zu können, kommt allerdings auch vor. Diese Bedeutungen werden aber meines Wissens nicht weiter thematisiert, sondern ergeben sich aus dem jeweiligen Zusammenhang.
Noch viel weniger wird darüber nachgedacht, an welchem Freiheitsbegriff wir uns (als Anarchist*innen) eigentlich orientieren – nämlich oftmals an einem der durch männliche, westliche Philosophie geprägt ist: Freiheit = Unabhängigkeit oder es geht „nur“ um die Abwesenheit von Zwängen. Warum eigentlich?
Wenn wir als kleine Kommune allerdings Infoveranstaltungen zum Kommuneleben anbieten und auch in vielen Gesprächen mit Interessierten, wird die Frage nach Freiheit und oft im selben Atemzug die Angst vor Abhängigkeit sehr schnell geäußert: „In der Kommune, darf ich da noch frei entscheiden, was ich mir für ein Fahrrad kaufe?“, oder „Kommune, das ist nichts für mich, ich bin da so abhängig von den anderen – ich bin mehr für freie Entscheidungen, wo mir Niemand reinredet.“
Sobald der Versuch gestartet wird, Anarchie konkret im Alltag auszuprobieren, und das ist für mich der Hauptmotivationsgrund Kommune zu leben, muss auch die Frage nach Freiheit und Abhängigkeit – nach Individuum und Gruppe im echten Leben und immer wieder neu beantwortet werden.
Auf der Suche nach der Freiheit bin ich unter anderem bei Antje Schrupp (vgl. auch GWR 379) fündig geworden und ihre Gedanken und die der anderen Frauen vom Projekt „ABC des guten Lebens“ (1) haben folgende Gedankenstränge und Weiterspinnereien geprägt und inspiriert.
Die oben ausgeführte Gleichsetzung von Freiheit mit Unabhängigkeit reicht da in unserer Praxis bei weitem nicht aus. Diese eingeschränkte Sichtweise, lässt meiner Meinung nach wichtige Aspekte des Menschseins außer Acht:
Welcher Mensch ist schon unabhängig und vor allem von was?
Ist das überhaupt ein erstrebenswertes Ziel? Unabhängig sein von der Zuwendung und Solidarität anderer Menschen? Unabhängig von Anerkennung und Wertschätzung? Davon, dass andere Menschen für mich Dinge produzieren oder von gesundheitlicher Versorgung?
Davon, dass andere sich um einen kümmern, essen anbauen, ernten und zubereiten?
Auch die Abwesenheit von Zwängen als Beschreibung von Freiheit finde ich nicht ausreichend. Wer sich z.B. für ein Leben mit Kindern entschieden hat, kann die Verantwortung des Kümmerns und Sorgens nicht einfach wieder abgeben, wenn es zu viel wird. Es gibt dann gewisse Notwendigkeiten und somit Handlungszwänge.
Da das Menschsein immer auch bedeutet in Beziehungen eingebunden zu sein, gibt es immer auch irgendwelche Abhängigkeiten und Bedingungen.
Frei sein bedeutet gerade nicht, dass ich immer tun und lassen kann was ich will, denn das wäre eine Illusion. Es bedeutet, dass ich mich bewusst entscheide, welche Abhängigkeiten ich bereit bin einzugehen, und darin, dass ich die Modalitäten dieser Abhängigkeit jeweils mitbestimme: „Menschen sind abhängig und frei zugleich“ (vgl. ABC, S. 59/60).
Mit der Entscheidung in einer Kommune zu leben, versuche ich mich in den Gang der Welt einzubringen, versuche meine Freiheit zu nutzen, um das zu tun, was ich für richtig halte: meiner Utopie eines guten Lebens für alle ein Stück weit näher zu kommen.
In einer Kommune wähle ich, anders als bei einer Familie, in die ich z.B. hineingeboren werde, die Menschen mit denen ich alltäglich in engere Beziehung treten möchte frei aus. Mit all den dazugehörenden Konflikten und auch mit den Notwendigkeiten, die sich in der jeweiligen Konstellation und aus den vorangegangenen Entscheidungen ergeben. Dieses Beziehungsnetz kann u.a. meinen Handlungsspielraum im Kapitalismus vergrößern, so dass ich z.B. weniger abhängig von Arbeitgebern, der Herkunftsfamilie, der romantischen Zweierbeziehung oder den Kinderbertreuungsmöglichkeiten der staatlichen Institutionen bin. Und mehr abhängig von den Menschen, mit denen ich meinen Alltag, mein Geld und meinen Besitz teile, denen ich vertraue und die solidarisch mit mir sind. Dies ist, finde ich, eine gute Voraussetzung mich weiterhin politisch einzumischen. Zeit, Kraft und Geld über zu haben um mich zu engagieren.
Eine freie Gesellschaft kann nur von freien Menschen organisiert werden, die sich möglichst unabhängig von den gängigen staatlichen und hierarchischen Institutionen, (Rollen-)Vorstellungen und Werten machen und sich so den Raum schaffen, diese nicht mehr anerkennen zu müssen ohne ganz allein dazu stehen.
Wenn ich z.B. in einer solidarischen Ökonomie versorgt bin, kann ich ganz anders gegenüber Arbeitsamt oder ähnlichem auftreten – ich bin dann von angedrohten Sanktionen nicht mehr existentiell betroffen, ich habe vielleicht mehr Kraft meine Rechte und die anderer durchzusetzen, auch wenn es dann länger dauern sollte, bis das Geld fließt. Oder ich kann der Arbeitgeberin /dem Arbeitgeber oder den Auftraggebern gegenüber viel gelassener meine Forderungen stellen, als wenn ich Alleinverdienerin wäre. Wenn ich erschöpft bin, kann ich mein Kind zu anderen vertrauten Bezugspersonen schicken, auch wenn der Kindergarten nur bis mittags geöffnet hat. Und vieles mehr ist möglich.
Durch das Anerkennen der unterschiedlichen und unterschiedlich verteilten Abhängigkeiten, zwischen unterschiedlichen Menschen in der Gemeinschaft ist es, glaube ich, weniger wahrscheinlich, dass sich diese Abhängigkeiten mit Macht und Herrschaft koppeln, wie es sonst oft passiert.
Kommune ist eine Möglichkeit, ein Versuch solch einen freien Ort zu schaffen. Das bedeutet allerdings nicht, dass ich in einer Kommune nur die Dinge tun muss, die ich freiwillig übernehmen will und zu denen ich gerade Lust habe.
Die Freiheit entsteht in der Aushandlung des für das Funktionieren der Gemeinschaft Notwendigen, der Anerkennung der gegenseitigen Abhängigkeit und der Übernahme von Verantwortung und dazu gehört auch das Austragen der entstehenden Konflikte. Das könnte dann im Zweifelsfall auch die Diskussion um die Anschaffung eines neuen Fahrrades sein (zumeist aber eher nicht ;-) ). Kommune stellt im besten Fall die Basis dafür dar, über das bereits Bestehende hinaus zu gehen, einen Schritt weiter in Richtung Utopie.
Ich möchte nicht behaupten, dass Kommune die einzig sinnvolle Weise wäre diese Freiheiten zu bekommen und sich so „gut versorgt“ in einen Kampf gegen ungerechte Verhältnisse und Diskriminierungen mit voller Kraft einmischen zu können. Ich denke allerdings, dass durch verbindliche Beziehungen zu anderen und durch persönliche Begegnungen immer wieder Orte der Freiheit entstehen. Und was ist Anarchie anderes, als viele organisierte und vernetzte Orte der Freiheit.
(1) Vgl. ABC des guten Lebens, Hg.: U. Knecht, C. Krüger, D. Markert, M. Moser, A.-C Mulder, I. Praetorius, C. Roth, A. Schrupp, A. Trenkwalder-Egger, Christel Götter Verlag, 2012, http://abcdesgutenlebens.wordpress.com/
Kontakt & Infos
PS: Wir suchen noch Mitstreiter*innen, Infos und Kontakt: www.hof-rossee.de