Bernd Drücke (Hg.): Anarchismus Hoch 2. Soziale Bewegung, Utopie, Realität, Zukunft. Interviews und Gespräche, Karin Kramer Verlag, Berlin 2014, 240 Seiten, 24 Abbildungen, 18 Euro, ISBN 978-3-87956-375-3
Bernd Drücke (Hg.): ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert. Interviews und Gespräche, Karin Kramer Verlag, Berlin, überarbeitete Neuauflage, voraussichtlich Oktober 2014, 280 Seiten, 55 Abbildungen, 19,80 Euro, ISBN 978-3-87956-307-1
Anarchismus bedeutet Vielfalt, ist bunt, lebendig, grenzt sich selbst nicht ein, sucht sich Aktionsfelder und findet sie überall. Schlicht deshalb, weil sich Herrschaft, Hierarchien, Machtverhältnisse, Ausbeutung aller Art, Ungleichheit aller Art und Ungerechtigkeit überall finden lassen. Insofern erfindet sich die anarchistische Bewegung immer wieder neu.
Ganz in diesem Sinne „funktionieren“ die beiden „ja! Anarchismus“-Bände, die Bernd Drücke verantwortet: indem er Personen interviewt, die unterschiedlicher kaum sein können, die sich verschiedenste Betätigungsfelder ausgesucht haben und doch alle im anarchistischen Sinn unterwegs sind. Auf diese Weise gelingt es dem Graswurzelrevolution-Redakteur diesen „vielfältigen Anarchismus“ fassbarer und für Außenstehende begreifbarer zu machen.
Weil jede der interviewten Personen gleichzeitig für ihren jeweils gewählten Ansatz einsteht, wird für die LeserInnen gleichzeitig deutlich, dass es hier nicht um eine Beliebigkeit der Themen geht, sondern dass diese Themenfelder „gelebt“ werden und dass diesen Handlungen eine gemeinsame Haltung zugrunde liegt, die diese unterschiedlichen Betätigungsfelder verbindet.
Darüber hinaus wird verständlich, dass die Personen sich mit dem was sie tun charakterisieren lassen und dass dieses Tun zu einem wesentlichen Teil ihrer unverwechselbaren Identität geworden ist, die sie durch das Leben und seine Anforderungen trägt.
Nun sind AnarchistInnen immer auch schnell zu Recht skeptisch, wenn es um „Personenkult“ geht. In den Szenediskussionen wird da jedoch oftmals allzu schnell „gebrandmarkt“, ohne dass in Frage steht, dass auch die anarchistische Bewegung ihre „Helden“ verehrt, – allerdings in der Regel erst dann, wenn sie tot sind.
Um Personen geht es in den beiden Bänden, in der Gefahr des Personenkults steht die Auswahl „Anarchismus Hoch 2“ aber auf Grund der Vielzahl von Personen und deren Verschiedenheit sicherlich nicht.
Wir finden den Liedermacher Konstantin Wecker, den Comiczeichner Gerhard Seyfried, die Zeichnerin Ziska Riemann, die anarchafeministische Bloggerin Antje Schrupp, den Soziologen Luz Kerkeling, den emeritierten Politikprofessor Wolf-Dieter Narr, die französische Kletteraktivistin Cécile Lecomte, den russischen Anarchismusforscher Vadim Damier, den ehemaligen DDR-Bürgerrechtler und Umweltblätter-Redakteur Wolfgang Rüddenklau, den Libertad-Verleger Jochen Schmück, den Umweltaktivisten und Arzt Michael Wilk, die Umweltaktivistin Franziska Wittig, den ehemaligen „Projekt A“-Kommunarden Bernd Elsner sowie die österreichischen Anarchisten Gabriel Kuhn und Sebastian Kalicha.
Allen gemeinsam ist, dass ihr politisches Engagement ihr Leben prägt; oftmals gehören Sie nicht zu den „Siegern“, so wurde die Startbahn West gebaut, das Projekt A scheiterte und die Castoren erreichten letztlich ihren Bestimmungsort. Und dennoch veränderten und verändern die Aktionen die Gesellschaft und bringen Diskussionen in Gang, die den Mainstream progressiv beeinflussen. In diesem Sinne passt für viele der Satz, mit dem ein Nachruf auf Augustin Souchy begann „Viel erstrebt, wenig erreicht“ – eine ehrliche Bilanz. Und doch haben alle immens viel bewegt und werden dies weiterhin tun; sie stehen mit ihrer Person dafür ein. Sie leben vor, dass mensch auch in einer neoliberalen, globalisierten, kapitalistischen Welt viele Handlungsmöglichkeiten hat, um wirkungsvoll einzugreifen und dass dieses Tun nicht umsonst ist. In diesem Sinne wäre zu wünschen, dass „Anarchismus Hoch 3“ nicht der letzte geplante Band der Reihe werden möge!
Vielleicht haben diese Bände am Ende sogar eine Innenwirkung auf die anarchistische Bewegung? Etwa indem wir erkennen, dass in der Akzeptanz und Wertschätzung der Vielfalt und der gegenseitigen Unterstützung, aber nicht im Kampf um den „richtigen“ Weg, unsere eigentliche Stärke liegt!