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„Incredible India!“

| Horst Blume

Elina Fleig, Madhuresh Kumar, Jürgen Weber (Hg.): Speak up! Sozialer Aufbruch und Widerstand in Indien. Assoziation A, Berlin/Hamburg 2013, 320 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-86241-323-9

„Unglaubliches Indien!“ – Dieser Werbespruch sollte viele TouristInnen nach Indien locken. Inzwischen erhielt er jedoch aufgrund der zahlreichen Vergewaltigungen von Frauen in der internationalen Wahrnehmung zu Recht eine ganz andere Bedeutung. Immer mehr Augen richten sich irritiert auf Indien.

Das Buch „Speak Up!“ greift das Thema Frauenunterdrückung ebenfalls auf und beschreibt und analysiert zusätzlich in insgesamt 34 unterschiedlichen Beiträgen, gegen welche vielfältigen Formen von Gewalt sich in Indien die Menschen wehren müssen.

Eines der größten Probleme, unter denen die Mehrheit der InderInnen zu leiden hat, ist der systematisch betriebene Landraub. Internationale Konzerne plündern mit Hilfe des Staates rücksichtslos die Bodenschätze und nehmen für ihre Schmutzindustrien immer mehr Flächen in Anspruch. Das Buch macht in mehreren Beiträgen deutlich, unter welch miserablen Bedingungen die 21 Millionen Binnenflüchtlinge leben müssen.

Etwa 70 Prozent der indischen Bevölkerung lebt auch heute noch in ländlichen Gebieten mit gemeinschaftlicher Land- und Waldbewirtschaftung und hat meist keine Besitzurkunden.

Mit den seit zwanzig Jahren verstärkt stattfindenden Enteignungen werden die Lebensgrundlagen von mehreren hundert Millionen Menschen zerstört.

40 Prozent der InderInnen hungern, 50 Prozent der Kinder sind unterernährt

Brutal geführte Verteilungs- und Verdrängungskämpfe um Land und Nahrungsmittel sind praktisch in jedem Winkel Indiens die Folge.

Da die kleinbäuerlichen ProduzentInnen die horrenden Preise für Pestizide, Düngemittel und Hybridsaatgut nicht bezahlen können, befinden sie sich oft in einer ausweglosen Schuldenfalle. Eine halbe Millionen Menschen haben sich in den letzten zehn Jahren das Leben genommen. Es ist die größte Suizidwelle in der Geschichte der Menschheit!

Die AutorInnen des Buches betonen, dass mehrere hundert Millionen Adivasis („UreinwohnerInnen“) und Dalits („Unberührbare“) die Hauptleittragenden der aktuellen industriell-kapitalistischen Modernisierungsoffensive sind. Aufgrund des rigiden Kastensystems und des überheblichen Hindunationalismus stehen sie zusätzlich noch auf der untersten Stufe der hierachisch zerklüfteten Gesellschaft. Sie bekommen vor Gerichten in der Regel nicht nur kein Recht, sondern unglaubliche 27,2 Millionen Verfahren wurden nicht einmal abschließend bearbeitet und verliefen deswegen im Sande (Stand Mai 2012).

Angesichts dieser Zustände ist es umso erstaunlicher, wie viele InderInnen auf den verschiedensten Ebenen kreativ, energisch und unter Einsatz ihres Lebens Widerstand leisten.

Über sie berichtet dieses Buch. Oft kommen Betroffene oder die SprecherInnen der Bewegungen zu Wort, die die Lage illusionslos analysieren und hieraus die nächsten Schritte und Ziele ableiten.

Im südindischen Bundesstaat Karnataka bestehen schon seit Jahrzenten untereinander vernetzte „Dorfrepubliken“. Sie praktizieren Direkte Demokratie durch Dorfversammlungen und agieren wirtschaftlich und politisch weitgehend autonom. Das soziale Leben entwickelt sich völlig anders, als in Indien üblich. Es wird kastenübergreifend geheiratet, ohne teure Priester und ohne religiöse Zeremonien, die den Familien einen riesigen Schuldenberg bescheren würden. Sie nennen es „einfaches, von Selbstachtung geprägtes Heiraten“.

Nicht zu kurz kommen in „Speak Up!“ die Probleme in den industriellen Ballungsräumen, die Fabrikkämpfe und die Bewegung gegen Häuserräumungen.

Wie unbeschreiblich die Not ist, wird in dem Bericht aus der Metropole Mumbai deutlich, in dem über den erbitterten Widerstand gegen die profitorientierten und mit brutaler Gewalt durchgeführten Zwangsräumungen von Slums berichtet wird.

Unkonventionelle Aktionen wie partizipative eigene Datenerhebungen in Slums, die Einrichtung wirkungsvoller mündlicher Beschwerdeformen für AnalphabetInnen sowie Straßentheater gehören zum kreativen Widerstandsrepertoire.

Bemerkenswert sind die Berichte über schlechte Erfahrungen der Bewegungen mit sozialistischen, kommunistischen oder ausgewiesenen Dalit-Parteien.

Ob in Bengalen die KommunistInnen oder in Uttar Pradesh die Dalit-Partei BSP – sie alle gingen mit Regierungsmacht ausgestattet mit äußerster Härte gegen genau diejenigen Bewegungen vor, aus denen sie einst entstanden sind.

Da „Speak Up!“ nach dem spektakulären Vergewaltigungsfall am 16. Dezember 2012 fertiggestellt wurde, beschäftigt sich ein Beitrag ausführlich mit dem Thema Hintergründe der sexuellen Gewalt gegen Frauen. Die indische Frauenbewegung wehrt sich ebenfalls gegen die in Indien tief verwurzelte angeblich wohlmeinende Ideologie des maskulinen Beschützerverhaltens. Denn hier wird die Frau zum „Vermögenswert“ degradiert, der für den zukünftigen „Besitzer“ sexuell unangetastet erhalten und dem Ehemann übergeben werden muss.

Auch die staatlichen PR-Kampagnen verstärken bestehende patriarchalische Sichtweisen: Im Gegensatz zum Täter (kein richtiger Mann) wird der Beschützer (wahrer Mann) zum Vorbild erhoben, indem er der Frau hilft und damit ihren „Wert“ erhält.

Das Buch ist ansprechend mit 40 Schwarzweißfotos aufgemacht. Der Atomkraftteil hätte ausführlicher sein können.

Der wichtige AKW-Standort Jaitapur fehlt leider ganz. Einige erläuternde Sätze zu den zahlreichen AutorInnen wären ebenfalls hilfreich gewesen.

Ansonsten hinterlässt dieses Buch einen tiefen Eindruck, mit welchem Mut und welcher Verzweiflung eine Milliarde InderInnen um ihr Überleben kämpfen müssen, während sich rund hundert Millionen Mittel- und OberschichtlerInnen hauptsächlich für Machterhalt, Reichtum, Konsum und Bollywood interessieren. Unglaubliches Indien!