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Reflexionen der Schwarzen Flamme

| Torsten Bewernitz

Lucien van der Walt / Michael Schmidt: Schwarze Flamme. Revolutionäre Klassenpolitik im Anarchismus und Syndikalismus. Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Andreas Förster und Holger Marcks. Deutsche Erstausgabe, Großformat, Edition Nautilus, Hamburg 2013, 560 Seiten, 39,90 Euro, ISBN 978-3-89401-783-5

„Schwarze Flamme“ ist eine politische Intervention: In einem gesamtgesellschaftlichen Rahmen interveniert das Buch gegen das Aufkommen der sogenannten „Libertarians“, die den Anarchismus für kapitalistische Denkweisen in Anspruch nehmen.

Die Hauptthese der Südafrikaner Lucien van der Walt und Michael Schmidt ist, dass es keinen Sinn mache, einen Sozialanarchismus oder auch kommunistischen Anarchismus neben andere Anarchismen zu stellen, da der Anarchismus als soziale Bewegung immer Bestandteil einer sozialistischen, klassenkämpferischen Arbeiterbewegung war. Sie richtet sich gegen den Extrem-Neoliberalismus.

Auch in der linken anarchistischen Subkultur ist das ein Aufreger, denn entsprechend dieser Hauptthese klammern die beiden Autoren einige „anarchistische Klassiker“ aus, namentlich Pierre-Joseph Proudhon, Max Stirner, William Godwin, Benjamin Tucker und Lew Tolstoi.

Man sollte diese These nicht überbewerten, denn sie bedeutet nicht, dass diese Denker keinen Einfluss auf den Anarchismus gehabt hätten. Sie waren lediglich nicht Bestandteil einer dezidiert anarchistischen Bewegung.

Der Einfluss Proudhons wird explizit benannt (S.217, S.233) und dem Einfluss Stirnerschen Denkens ein Unterkapitel gewidmet (S.300 – 304). Dass bestimmte Denkweisen den Anarchismus beeinflussen, macht aber aus den Denkern selber noch keine Anarchisten, sonst, so die Autoren, müsste auch Karl Marx mit genannt werden: „Es wäre, wenn man diese Definition verwendet, nur allzu logisch, auch den klassischen Marxismus in die anarchistische Kategorie mit einzubeziehen, in Anbetracht dessen, dass das endgültige Ziel dieser Lehre eine nichtstaatliche Gesellschaft ohne Entfremdung und Zwang ist“ (S.61).

Aber auch das tun die Autoren nicht, denn „Schwarze Flamme“ ist genauso eine Intervention gegen eine marxistisch geprägte Geschichtsauffassung, die den Anarchismus als marginale Strömung der Arbeiterbewegung darstellt. Diese These sei nur haltbar, wenn man von einem Eurozentrismus und einem „methodologischen Nationalismus“ (1) ausgehe: Betrachtet man die afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Arbeiterbewegungen mit, dann muss man feststellen, dass der Anarchismus bis zur russischen Oktoberrevolution 1917 die globale Hegemonie innerhalb der Arbeiterbewegung hatte und Europa – insbesondere die deutsche Sozialdemokratie – eher die Ausnahme ist. (2)

Selbst für die USA kann man bis zur Zeit der „red scare“ 1917 – 1920 noch den Einfluss der Industrial Workers of the World (IWW) als relevanteste Organisation der nordamerikanischen Arbeiterbewegung konstatieren. Damit wenden sich die Autoren vor allem gegen die These des „spanischen Exzeptionalismus“, nach der der Anarchismus nur in der Spanischen Revolution 1936/37 einen Masseneinfluss entwickelt hätte (S.339 – 343). Im Gegenteil ist ihre Kernthese:

„Die Geschichte der Arbeiterbewegung und der Linken in vielen Teilen der Welt kann nicht verstanden werden, wenn deren anarchistische und syndikalistische Strömungen ignoriert oder als unbedeutend behandelt werden“ (S.343).

Alternativ zur bisherigen Teilung in verschiedene Anarchismen teilen die Autoren die „broad anarchist tradition“ (die Übersetzer haben den Begriff im englischen Original beibehalten) in zwei Strömungen, den „Massenanarchismus“ und den „aufständischen“ oder „insurrektionalistischen Anarchismus“.

Diese Auffassung der anarchistischen Tradition hat eine weitere Implikation, die offenbar auch die Autoren eigentlich nicht mittragen wollen: Nimmt man die These genau, dass der Anarchismus eine materialistisch-sozialistische Klassenkampfbewegung ist, dann muss man konstatieren, dass es heute keine anarchistische Bewegung mehr gibt. Denn der nach 1968 entstandene „Neo-Anarchismus“ hat mit dieser Tradition sicherlich nicht mehr zu tun als Stirnerscher Individualismus oder Proudhonscher Mutualismus. Die andere Variante wäre, die Breite der antikapitalistischen Bewegungen in den Anarchismus einzugemeinden.

Occupy, das Ya-Basta-Netzwerk, Interventionistische Linke, selbst Teile von attac wären dann ebenso Teil der „broad anarchist tradition“ wie wildcat, Kosmoprolet oder auch labournet. Das entspricht durchaus der Argumentationsweise Lucien van der Walts und Michael Schmidts, die ähnlich den DeLeonismus, die marxistische Variante des Syndikalismus mit Betonung der Notwendigkeit einer revolutionären Partei, in die anarchistische Tradition eingemeinden.

Syndikalismus ist für die Autoren entsprechend der vorherigen Anarchismus-Definition keine eigene Theorie, sondern lediglich anarchistische Strategie.

Konkret unterscheiden sie drei syndikalistische Strategien, die es zu diskutieren und evtl. auch zu überdenken gilt: Die erste, heute übliche, Variante benennen sie als Gewerkschaftsdualismus: Man gründet eine eigene, anarchosyndikalistische Richtungsgewerkschaft.

Die Nachteile dieses Vorgehens liegen auf der Hand: Erstens kommt man kaum um das Problem herum, dass eine Gewerkschaft – auch und gerade eine syndikalistische – dazu da sein soll, ArbeiterInnen als solche zu organisieren, man aber mit der dezidierten Richtungsbenennung eigentlich nur GesinnungsgenossInnen erreicht.

Damit einher geht zweitens das Problem, dass die syndikalistische Gewerkschaft marginal bleiben muss, solange keine gesellschaftliche Umbruchsituation in Sicht ist. Eine solche Organisation ist den Autoren „keine Gewerkschaft […], sondern eine strikt anarchistische oder syndikalistische politische Organisation, die sich als Gewerkschaft verkleidet“ (S.305).

Drittens neigt eine solche Organisation zu einem gewissen Purismus, z.B. in den Fragen der Betriebsratsarbeit, der Tarifverträge oder auch der Frage nach bezahlten FunktionärInnen. Die Schlüsse, die die beiden Autoren ziehen, sind (obwohl nicht neu) für den aktuellen Anarchosyndikalismus hierzulande ein Affront: „Für eine große und erfolgreiche syndikalistische Gewerkschaft ist es […] unumgänglich, zumindest ein paar bezahlte Funktionäre zu haben“ (S.236). Und: „Auch eine syndikalistische Gewerkschaft […] muss in einer vorrevolutionären Zeit zahlreiche Kompromisse mit der herrschenden Klasse schließen […]“ (S.274).

Fast alle erfolgreichen syndikalistischen Gewerkschaften waren aber umgewandelte „normale“ Gewerkschaften, die daher auch als Einheitsgewerkschaften fungierten – die deutsche FVdG/FAUD war hier eine Ausnahme. Die häufigere syndikalistische Strategie war also das Engagement in bestehenden Gewerkschaften mit der Strategie, diese „umzukrempeln“.

„Gewerkschaftsdualismus“, also die eigene Gründung einer zweiten Gewerkschaft, „ist jedenfalls kein notwendiges Merkmal des Syndikalismus“ (S.283), betonen die Autoren.

Wo diese Strategie nicht angewendet wurde, lag dies meist daran, dass man die bestehenden Gewerkschaften für nicht reformierbar gehalten hat und hält. Als dritte syndikalistische Strategie benennen die Autoren einen „autonomen Syndikalismus“, „die Bildung unabhängiger Basisbewegungen innerhalb bestehender Gewerkschaften“ (S.292), also z.B. Betriebsgruppen, Workers Centers, proletarische Stadtteilgruppen, die sich unabhängig von den Gewerkschaften engagieren.

Ein Massenanarchismus, der sich meist in einer syndikalistischen Strategie ausdrückt, ist also durchaus offen für verschiedene Organisationsmodelle.

Eine Diskussion über diese drei Organisationsmodelle impliziert einen weiteren Aspekt, den die Autoren stark machen: In der Tradition von Bakunins Geheimbünden, dem Text „Organisationsplattform der Allgemeinen Anarchistischen Union“ russischer Exilanarchisten (1926) und der FAI in Spanien plädieren sie für die Existenz anarchistischer, politischer Organisationen, die im Sinne des Anarchismus Einfluss auf die Massenorganisationen ausüben – sie plädieren also für einen Organisationsdualismus, der dem Dualismus von (politischer) Partei und (sozialer) Gewerkschaft nicht allzu fern ist. Diese Organisationen sollen die „militante Minderheit bewusster Aktivisten“ (S.333) sammeln und „revolutionäres Bewusstsein erzeugen“ (S.320).

Letzte Formulierung ist nahe an der Leninschen Unterschätzung der arbeitenden Klasse, die gesamte Argumentation legt undemokratische Strategien nahe. Allerdings: In gewissem Sinne ist dieser autoritär erscheinende Vorschlag Alltag anarchistischer Organisierung.

Man mag in einer spezifisch anarchosyndikalistischen Gruppe darauf verzichten, in einer Massenorganisation würde man sich recht schnell nach spezifischen Interessen und Vorlieben zusammentun. Dann gilt es aber, gerade unter AnarchistInnen, hier die demokratische Kontrolle aufrechtzuerhalten. Dafür halte ich den Vorschlag der Autoren für ungeeignet.

Dennoch:

In diesen Aspekten liegt die eigentliche Bedeutung, aber auch Kontroversität von „Schwarze Flamme“. Lucien van der Walt und Michael Schmidt kommt das Verdienst zu, eine solche Strategiedebatte angeregt zu haben. Es liegt an uns, sie zu führen.