Am 17. Februar 2014 kam ich in Kiew mit dem Nachtzug an. Ich sollte nur wenige Stunden bleiben und dann weiter in die Hauptstadt der autonomen Republik Krim Simferopol fahren. Gerade war es ruhig auf dem Majdan. Im Januar waren die Proteste eskaliert, ich kannte die Bilder aus dem Fernsehen und der Zeitung. Es gab bereits vier Tote, das ganze Land war erschüttert worden.
Jetzt war von Janukowytsch ein Kompromiss angeboten worden. Wenn der Majdan und die große Einkaufsstraße Chreschtschatyk geräumt werden würden, würden die Gefangenen freigelassen werden, die im Zuge der Proteste inhaftiert worden waren.
Ich konnte ohne Probleme über den Majdan laufen. Die Barrikaden standen noch, niemand dachte daran sie abzubauen.
Überall waren Ukraine- und Europafahnen. An den Ecken gab es VoKüs und heißen Tee, der über Feuertonnen zubereitet wurde. Auf der Straße gab es Stände, bei denen Sturmmasken, Magneten, die den „Euromajdan“ abbildeten und T-Shirts, mit Klassenkämpferisch bedruckt, verkauft wurden.
Männer in Militäruniform hackten Holz oder bewachten maskiert und mit Schlagstöcken bewaffnet die Durchgänge der Barrikaden. Passant_innen, die ihre Einkäufe erledigten, vermischten sich mit Protestkämpfer_innen, die neues Baumaterial ins Camp schafften.
Machno
An einem Stand kaufte ich mir ein T-Shirt, auf dem Nestor Machno abgebildet war. Der anarchistische Freiheitskämpfer, der Anfang des 20. Jahrhunderts während der Oktoberrevolution die schwarze Armee anführte, wird von den Protestierenden als Held gesehen.
In einem Camp auf dem Chreschtschatyk waren verschiedene Poster aufgehängt worden. Einige mit antifaschistischen Sprüchen, alle mit den Nationalfarben, auf einem ein Baby mit der Überschrift „Sohn der Anarchie“.
Freudig überrascht darüber betrat ich das Camp, war dann jedoch enttäuscht über das Gespräch, das ich dort mit einem jungen Mann führte. Er konnte mir keine Auskunft über anarchistische Bewegungen auf dem Majdan geben, die Bilder seien von einer ihm unbekannten Künstlerin.
Schon zehn Tage später sollte ich wieder auf dem Majdan stehen. Dann würde die Stimmung eine ganz andere sein. Ich war aus Deutschland aufgebrochen, um für sechs Wochen Deutsch in Simferopol zu unterrichten. Seit Wochen verfolgte ich die Entwicklungen in Kiew, aber auch in anderen Teilen der Ukraine. Ich wusste, dass die Lage auf der Krim ruhig war, da hier die Mehrheit der Bevölkerung sich als russisch identifiziert und Janukowytsch unterstützte, der eine enge Partnerschaft mit dem russischen Kreml pflegte.
Dennoch war ich verwundert über die riesigen „Stop Majdan“ Plakate, als ich am nächsten Tag mit dem Nachtzug in Simferopol ankam. Bereits an diesem Tag begannen die Proteste in Kiew von Neuem, diesmal wurde noch härter durchgegriffen, scharf geschossen, es gab blutige Kämpfe. Fassungslos schauten alle nach Kiew, eine meiner Studentinnen konnte nicht mehr schlafen, ihr Vater war auf den Majdan gefahren, um dort zu kämpfen.
Die Bibliothekarin erzählte mir, dass das alles Terroristen in Kiew seien, Provokateure, die Angst und Schrecken verbreiten wollten und nun hätten wegen ihnen Menschen sterben müssen- Sie schimpfte erzürnt. Ich bekam eine besorgte Mail nach der anderen, ob es mir gut ginge, ob es in Simferopol auch zu Protesten käme. „Mir geht es gut“, sagte ich, alle sind besorgt, haben Angst vor weiteren gewalttätigen Auseinandersetzungen, aber in Simferopol geht der Alltag weiter.
Unsicherheit
Die Unsicherheit wurde zum ständigen Begleiter, genauso wie der online Live-ticker. Es gab Gerüchte, dass die staatlichen Banken schließen würden, die Schlangen vor den Bankautomaten wurden immer länger, alle hoben aus Angst vor der Inflation Geld ab, solange es noch ging. Ein Student erzählte, dass das Internet und das Handynetz abgeschaltet werden sollten.
Die Rezeptionistin in meinem Wohnheim beruhigte mich, ich solle keine Panik kriegen, das wäre alles nicht so dramatisch, ich solle in die Stadt fahren und mich vergnügen.
Am Samstag, dem 22. Februar, machte ich eine Wanderung auf einem Berg bei Jalta. Janukowytschs Flucht war Dauerthema. Bei jeder Verschnaufpause brach eine Diskussion aus, die Smartphones waren ständig in Benutzung. Es hieß Tymoschenko würde frei kommen, vielleicht Präsidentin werden.
Bei einem Restaurant gerieten meine Studentin und ein älterer Herr aneinander, er verstand die Krim als russisch, sie fühlte sich als Ukrainerin.
Auf dem Rückweg nach Simferopol dann die Nachricht: Janukowytsch war abgesetzt worden. Die Begeisterung hielt sich in Grenzen, war doch allen klar, dass damit noch lange nicht die Konflikte gelöst waren.
Am Sonntag gab es in der Innenstadt Simferopols die ersten großen Proteste. Vor der Leninstatue hatten sich viele Tartar_innen versammelt, sie verkündeten ihre Unterstützung für die neue Regierung in Kiew, die Stimmung war ausgelassen.
Vor dem Parlament versammelten sich einige wenige Protestierende, die gegen die Regierung in Kiew waren. Sie hatten die rot-weiß-blaue Fahne der Krim dabei, die sich von der russischen nur dadurch unterscheidet, dass der weiße Streifen breiter ist.
Am nächsten Tag erzählten mir meine Student_innen, dass ursprünglich die Leninstatue abgerissen werden sollte, einige von der Kommunistischen Partei waren aber da gewesen, um das zu verhindern.
Plötzlich wurden die Forderungen, die vorher nur unterschwellig wahrzunehmen waren, immer lauter. Die Krim solle zu Russland gehören. Natürlich gab es viele Gegenstimmen.
Die Krimtartar_innen waren in der Geschichte der Krim vielfach von Russland deportiert und unterdrückt worden, sie gingen auf die Straße, um ihr Zugehörigkeitsgefühl zur Ukraine zu zeigen. Am Mittwoch kam es bei den Protesten vor dem Parlament zu handgreiflichen Auseinandersetzungen.
Ich war mit Bekannten in der Stadt, beobachtete, wie auf der einen Seite „Russland, Russland“ gerufen wurde, auf der anderen „Wir sind die Ukraine“. Flaschen flogen, Fahnen wurden runter gerissen und die Menge drängte und quetschte sich in den Innenhof des Parlaments. Dabei starben zwei Menschen, viele wurden verletzt. Die Stimmung war angespannt, feindselig.
Dann ging alles plötzlich ganz schnell
In der Nacht wurde das Parlament gestürmt. Meine Studentin rief mich am Morgen an und sagte, ich solle nicht in die Stadt fahren, ich solle sie in ihrem Wohnheim treffen.
Dort berichtete sie mir, dass viele der Studierenden die Uni verlassen und zu ihren Eltern fahren. Die Angst war groß, dass es zu blutigen Ausschreitungen in der Stadt kommen könnte. Sie nahm mich mit in das Dorf ihrer Eltern, etwa 100 Kilometer entfernt von Simferopol.
Als ich dort war, stellte sich heraus, dass die Familie mit den rechts-nationalistischen Parteien sympathisierte. Der Vater, der auf dem Majdan gewesen war, begrüßte seine Freund_innen am Telefon mit „Ehre der Ukraine“, am anderen Ende der Leitung wurde mit „Ehre den Helden“ geantwortet.
Da saß ich nun in einem 8.000 Einwohner_innen Städtchen in einem Haushalt, der die ultrarechte Partei Prawyj Sektor und Swoboda, die Partnerpartei der NPD, unterstützte. Die darauf folgenden vier Tage waren ein Nervenkrieg. Jeder Tag begann mit einer neuen schlechten Nachricht. Ukrainische Militärstützpunkte wurden gestürmt, der Flugraum gesperrt. Freitagnacht hieß es, dass russische Soldaten in Simferopol gelandet waren, wir konnten nicht schlafen, trafen uns nachts, um gemeinsam Nachrichten zu lesen. Der Fernseher lief den ganzen Tag. Darüber konnten die Regierungsbildung in Kiew beobachten, Aufnahmen aus Donezk und Charkiw, wo Protestierende ebenfalls versuchten die Regierungsgebäude zu stürmen. Dann ständig Bilder von Panzern auf der Krim, auf den Straßen nach Sewastopol waren schon seit Anfang der Woche Kontrollen von bewaffneten Unbekannten eingerichtet worden, die Stadt war praktisch in der Hand von prorussischen Oppositionellen.
Diese bewaffneten Unbekannten waren überall. In dem Parlament in Simferopol, auf der Zugangsstraße zum Festland, im Flughafen, in den Militärstützpunkten. Alle vermuteten, dass es sich um russische Soldaten handelte.
Die Stimmung im Haus war bedrückt, der Freund meiner Studentin war beim Militär in Sewastopol und rief sie in regelmäßigen Abständen an, um ihr von den neusten Entwicklungen zu berichten. Ihm wurden Waffen gegeben und er musste Patrouille laufen. In den Bergen um Jalta, wo wir noch vor weniger als einer Woche eine Wanderung gemachten hatten, waren nun russische Soldaten stationiert.
Am Sonntag schließlich beschloss ich zurück nach Simferopol zu fahren.
In Simferopol traf ich einen Freund aus Deutschland, der gerade bei Freund_innen zu Besuch war. Wir überlegten gemeinsam abzureisen. Wir fühlten uns gelähmt, hilflos, ausgeliefert. Bis spät in die Nacht schauten wir Nachrichten, lasen in dem sozialen Netzwerk vkontakte die Newsfeeds aller möglichen Nachrichtenkanäle.
Ich entschied mich am nächsten Morgen abzureisen. Zu sehr nahm mich die Unsicherheit mit. Täglich bekam ich besorgte Anrufe aus Deutschland, ständig war ich am bangen, dass alle Möglichkeiten von der Krim abzureisen gesperrt werden würden, ständig wurde über die Möglichkeit eines Krieges gesprochen.
Am 3. März nahm ich den Nachtzug zurück nach Kiew, vier Wochen früher als ich es eigentlich geplant hatte.
Es war ein sonniger Tag, die Innenstadt Simferopols war belebt, nur ein paar Straßen gesperrt, ein hupender Autokonvoi mit russischer Fahne fuhr an mir vorbei. Viele Bewohner_innen der Krim begrüßten die russischen Soldaten mit Freude, warteten auf das Referendum, das auf das Datum der Parlamentswahl im Mai gesetzt worden war. In der Stadt gab es keine Proteste der Tartar_innen und pro-ukrainischer Bewohner_innen mehr. Die Angst war zu groß geworden.
In Kiew verbrachte ich noch einmal wenige Stunden auf dem Majdan. Die Stimmung war bedrückend. Der Nebel schob sich zwischen den Häuserfassaden hindurch. Der Boden war schwarz von Ruß und Schlamm, überall türmten sich Blumenberge. Weinende Menschen knieten vor den Bildern der ermordeten nieder. Selbsternannte Armeeeinheiten marschierten über den Platz, „Ehre der Ukraine, Ehre den Helden“ schallte es über alle hinweg.
Im Hintergrund ein Bild Stepan Banderas, ein Nationalist, der mit den Nazis kollaboriert hatte, hier glorifiziert zum Helden.
In den letzten Wochen hatte der Prawyj Sektor großen Zulauf bekommen, er hat eine der wichtigen Kontrollpositionen auf dem Majdan übernommen.
Linke Gruppen waren von dem Majdan vertrieben worden, sogar die kommunistische Partei konnte in Kiew nur noch im Untergrund arbeiten. Berichte von Übergriffen auf Synagogen und Juden mehrten sich, jüdische Gemeinden forderten ihre Mitglieder auf, im Haus zu bleiben. Nationalismus, Fremdenhass und Antisemitismus waren sicherlich nicht erst mit den Protesten entstanden, kamen nun aber unverhüllt zum Vorschein. Mir war unheimlich zumute. Ich fühlte mich unsicher und machtlos und stieg in den Zug zurück nach Berlin.
Innerhalb der zehn Tage, die ich auf der Krim verbrachte; war diese in die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit gerückt. Die Menschen dort verharrten in Sorge, viele wären gerne so wie ich abgereist, wenn sie gekonnt hätten, viele wollten bleiben und Teil Russlands werden.
Niemand wusste mehr, was geglaubt werden konnte. Die Ungewissheit machte alle unruhig, jeden Moment könnte es zu einem Schuss kommen, einer Explosion, und ein Krieg wäre ausgebrochen. Auch wenn ich nun wieder in Deutschland bin, die Angst und Fassungslosigkeit bleibt.