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Venezuela: Eine neue Autonomie sozialer Bewegungen?

| Andreas Speck

Als am 4. Februar 2014 in Venezuela, im Bundesstaat Táchira, nahe der Grenze mit Kolumbien, StudentInnen auf die Straße gingen, um gegen die sexuelle Belästigung einer Studentin zu demonstrieren, konnte noch niemand ahnen, dass dies der Beginn einer massiven Protestwelle sein würde. Doch die Verhaftung einiger StudentInnen während der Demonstration brachte eine Protestwelle ins Rollen, die auch heute noch andauert. Der folgende Artikel versucht, durch die Nebelschwaden der Propaganda aller Seiten, eine klare Sicht auf die Ereignisse zu bekommen. (GWR-Red.)

Die Proteste begannen im Februar 2014 als Reaktion auf die gesellschaftliche Unsicherheit in Venezuela. In den zweiten Januarhälfte wurden Raubüberfälle und gewaltsame Übergriffe in verschiedenen Universitäten des Landes beobachtet, und schließlich am 4. Februar 2014 die versuchte Vergewaltigung einer Studentin der Universidad de Los Andes (ULA) in Táchira (1).

Letzteres Ereignis brachte für die StudentInnen der ULA das Fass zum Überlaufen, und sie gingen auf die Straße, gemeinsam mit StudentInnen der Universidad Nacional Experimental de Táchira (UNE). Die Polizei schritt ein, und bei Auseinandersetzungen wurden nach verschiedenen Angaben vier bis sechs PolizistInnen verletzt, sowie zwei StudentInnen verhaftet (2).

Die Proteste weiteten sich landesweit aus, mit einem ersten Höhepunkt am 12. Februar, mit Demonstrationen in 18 Städten. Dabei kamen in Caracas drei DemonstrantInnen zu Tode – wofür die Regierung die DemonstrantInnen selbst verantwortlich macht. Doch Videos, die von der Tageszeitung Ultimas Noticias veröffentlicht werden, zeigen deutlich, dass es sich bei den Tätern um Polizisten handelt (3).

Auch wenn die venezolanische Regierung sowie die internationale Venezuela-Solidaritätsbewegung nicht müde werden, von gewaltsamen Demonstrationen zu reden, so beschreiben doch BeobachterInnen im Land die überwiegende Mehrheit der Proteste als „friedlich“.

Dabei soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass von allen Seiten auch Gewalt angewendet wurde und wird – einschließlich Schusswaffen, die auf allen Seiten zu Toten geführt haben.

Bis GWR-Redaktionsschluss (13. März) kam es in Venezuela bei Protesten und im Umfeld von Protestaktionen zu mehr als 20 Toten (4) und um die 1000 Verhaftungen (5), mit zahlreichen Berichten über Misshandlungen bis hin zur Folter. Es ist zu befürchten, dass diese Zahlen bis zur Auslieferung dieser GWR noch ansteigen werden.

Realität des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“

Um die Proteste zu verstehen, ist es notwendig, einen Blick auf die soziale Realität Venezuelas zu werfen. Hierbei sind insbesondere zwei Aspekte von besonderer Bedeutung: die wirtschaftliche Lage des Landes und die prekäre Sicherheitslage.

Venezuela ist einer der größten Öl-Exporteure der Welt (6), doch trotzdem ist Armut im Land weiterhin weit verbreitet. Der Preis, den Venezuela für sein Öl bekommen konnte, ist dabei in den letzten Jahren sinkend: 2012: 103,42 US$/barril, 2013: 99,49 US$/barril, Jan-15. März 2014: 96.54 (7).

Dabei liegt der Preis, den das Land im Durchschnitt für sein Öl bekommt, leicht unter dem OPEC-Preis. In den ersten Jahren der Regierung Chávez konnte diese ihre sozialen Programme (misiones) mittels der Einnahmen aus steigenden Ölpreisen finanzieren (2002: 24,36 US$ /barril, 2005: 50,64 US$/barril, 2008: 94,45 US$/barril, 2009: 61,06 US$/barril, 2010: 77,45 US$/barril, 2011: 104,46 US$/barril (8)).

Der Preisabfall der Jahre 2009 und 2010 führte dann aber zu einer massiven Wirtschaftskrise, die bis heute nicht überwunden ist. Damit einher ging ein massiver Anstieg der Auslandsverschuldung. Nach Angaben der Zentralbank stiegen diese von 35 Mrd. US$ im Jahr 2002 auf 110 Mrd. US$ im 3. Quartal 2013. Dabei ist ein massiver Anstieg in den Jahren des niedrigen Ölpreises sichtbar: 2008: 53 Mrd. US$, 2009: 70 Mrd. US$, 2010: 84 Mrd. US$ (9).

Auch wenn extreme Armut in Venezuela seit dem Machtantritt von Hugo Chávez im Jahr 1999 abgenommen hat, so liegt sie doch weiterhin bei um die 7% aller Haushalte. Als arm gelten etwas über 20% der Haushalte – eine Ziffer, die seit 1998 leicht abgenommen hat (10).

Die informelle Ökonomie ist für fast die Hälfte der Bevölkerung Grundlage des Überlebens. Mehr als 40% der ökonomisch aktiven Bevölkerung sind dies in der informellen Ökonomie (11). Der Mindestlohn liegt – nach einer 10%-Erhöhung im Januar – bei Bs 3270 (12) . Nach den Angaben desCentro de Documentación y Análisis Social der Federación Venezolana de Maestros (Cendas-FVM) liegt der Preis des Warenkorbs der Produkte des Grundbedarfs für einen Haushalt bei Bs 15.622 – es sind also 4.8 Mindestlöhne notwendig, nur um die Grundbedürfnisse zu befriedigen.

Auch wenn der Mindestlohn im Vergleich mit dem Vorjahr um 59,75% angestiegen ist, so lag doch selbst nach offiziellen Angaben die Inflationsrate bei 56,2 (13). Doch selbst nach offiziellen Angaben stiegen die Lebensmittelpreise im gleichen Zeitraum um 74.5% (14) Allein die Ausgaben für Lebensmittel eines Haushaltes verschlingen heute knapp Bs 9,000 – etwa 2,7 Mindestlöhne (15). Selbst mit den sogenannten „Cesta Tickets“ oder Lebensmitteltickets reduziert sich das nicht auf weniger als zwei Mindestlöhne. Von den ca. 60% der ökonomisch aktiven Bevölkerung, die im formalen Sektor beschäftigt sind, verdienen knapp drei-viertel bis zu zwei Mindestlöhnen (16).

Selbst wenn zwei Personen in einem Haushalt unter diesen Bedingungen arbeiten, reicht das Einkommen also nicht aus, um die Grundbedürfnisse zu befriedigen – es fehlt dann noch fast ein Mindestlohn, und das beinhaltet noch nicht die Ausgaben für die Wohnung.

Doch die Preise sind nur ein Aspekt. Die Versorgungslage ist ein anderer und erschwert ebenfalls das tägliche Leben.

Es fehlt an vielen Gütern des täglichen Bedarfs – Grundnahrungsmittel wie Milch, Mehl, Zucker, Maisöl, Huhn und Fleisch, und darüber hinaus Toilettenpapier. Bei allen diesen Produkten ist der Preis festgeschrieben – teilweise unter dem Produktionspreis – und das Land kann sich mit diesen Produkten nicht selbst versorgen, hängt also vom Import ab (17).

Diese Situation führt oft zu langen Schlangen, wenn die Produkte denn mal erhältlich sind, und zu Frustrationen. Dabei fehlen sie sowohl in den staatlichen als auch auf privaten Märkten.

Dabei schreibt die NGO Observatorio Venezolano de la Conflictividad Social: „Im Jahr 2013 fanden Proteste, mit denen das Recht auf Ernährung eingefordert wurde, über den gesamten Zeitraum im gesamten Land statt. Die Unterversorgung und der Mangel an Lebensmittelprodukten und Produkten persönlicher Hygiene zeigen wie die Pläne und Politik der Regierung für eine Unabhängigkeit und Lebensmittelsouveränität, wie sie von der nationalen Regierung vorgeschlagen wurden, unzulänglich waren.(18)

Zur schwierigen ökonomischen Situation gesellt sich die Sicherheitssituation hinzu. Die Kriminalitätsrate ist extrem hoch. Nach Angaben der NGO Observatorio Venezolano de Violencia (OVV) liegt die Zahl gewaltsamer Tode (ohne Unfalltote) bei 79 pro 100.000 EinwohnerInnen (19) – die höchste Quote Lateinamerikas. Damit liegt Venezuela weit über Kolumbien (2001: 63, 2011: 32) oder Brasilien (25) (20).

Nachdem das Innenministerium seit 2003 keine Statistiken mehr veröffentlicht hatte, zweifelt es jetzt die von OVV ermittelten Zahlen an und gibt die Quote mit 38 pro 100.000 EinwohnerInnen an. Und die Zahl gewaltsamer Tode ist nur die Spitze des Eisberges einer Gewalt- und Kriminalitätseskalation im Land in den letzten 15 Jahren: Diebstahl und Raubüberfälle gehören schon fast zum Alltag.

Die Regierung Maduro zweifelt zum einen die Zahlen an, muss aber andererseits auch zugeben, dass die Sicherheit im Lande ein Problem darstellt.

Nach Angaben von Innenminister Miguel Rodríguez Torres wurden in den letzten zwei Jahren 5.500 Schusswaffen von ZivilistInnen gestohlen.

Eine Parlamentskommission kam im Jahr 2009 zu der Einschätzung, dass sich zwischen 9.000 und 15.000 Schusswaffen – legal und illegal – in Händen der Zivilbevölkerung befinden würden – und das, obwohl seit 2004 der Import von Waffen durch Zivilpersonen verboten ist (21). Mit dem Anstieg der Zahl gewaltsamer Tode sank die Aufklärungsrate. Gab es 1998 für je 100 Todesfälle noch 118 Festnahmen, so sank diese Zahl bis zum Jahr 2006 auf 8 (!) (22) .

Roberto Briceño León, Direktor des OVV, erklärt diese Entwicklung so: „Es gab einen Willen, die moralische Basis der Gesellschaft zu zerstören, die gesetzlichen Grundlagen und die Institutionen, die diese Übereinkommen durchsetzen. (…) Sie waren sich dessen bewusst, was sie taten, um an der Macht zu bleiben, doch dachten sie nicht an die Auswirkungen dieser Aktionen(23).

Diese Zahlen sollen nur einen Eindruck von der allgemeinen Gewaltbereitschaft in der venezolanischen Gesellschaft geben – ein Hintergrund, der für das Verstehen der aktuellen Ereignisse wichtig ist.

Die „Opposition“

Glaubt man entweder der venezolanischen Regierung oder den westlichen Massenmedien – hierin scheinen sich die beiden Seiten, die sich ansonsten gegenseitig Propaganda vorwerfen, merkwürdigerweise einig zu sein – so ist die derzeitige Protestwelle Ausdruck einer Mobilisierung der „Opposition“, worunter allgemein die Mesa de Unidad Democratica (MUD) verstanden wird.

Die MUD ist selbst eine Koalition verschiedener Parteien, die vom politischen Spektrum her von der Sozialdemokratie (Acción Democrática) bis hin zu rechtsliberalen und konservativen Parteien reichen, und die drei großen Parteien, die sich bis zum Wahlsieg von Hugo Chávez im Jahr 1999 die Macht im Lande teilten (Acción Democrática – AD, Copei und Unión Republicana Democrática – URD) (24) . Der bei den Wahlen in den Jahren 2012 (gegen Hugo Chávez) und 2013 (gegen Nicolás Maduro) unterlegene Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles kann dabei eher zum sozialdemokratischen Spektrum gezählt werden, während Leopoldo López, der derzeit in den Medien mehr Beachtung findet, eindeutig dem rechten Spektrum zugeordnet werden kann.

Von vielen wird die Opposition als Vertreter des alten Systems vor Chávez angesehen, und zu Recht. Allerdings ist eine erhebliche Überschätzung der sozialen Basis und Mobilisierungsfähigkeit des MUD, die derzeitige Protestwelle als von ihr auch nur initiiert oder gar gesteuert oder kontrolliert anzusehen. Capriles und die Mehrheit des MUD hat zu Beginn die Proteste zuerst ignoriert, in dem Glauben, dass diese nur wenige Tage andauern würden, und auch offen kritisiert, was es Leopoldo López ermöglichte, sich als Führungspersönlichkeit aufzuspielen (25).

Dies ist eher Ausdruck eines internen Machtkampfes innerhalb des MUD (26) , als dass die MUD wirklich eine zentrale Rolle in den Protesten spielen würde. Mit dem Andauern der Protestwelle versucht die MUD jetzt eher auf den Zug auf zu springen und sich an die Spitze zu setzen – mit fraglichem Erfolg, allerdings in der Wahrnehmung unterstützt sowohl von der Propaganda der Regierung als auch von den westlichen Massenmedien.

Rafael Uzcátegui beschreibt dies so: „Leopoldo López und einige Medien versuchen davon zu überzeugen, dass er die Führungsperson der Proteste in Venezuela ist, doch die Wahrheit ist, dass er ein Teil eines dezentralisierten Netzes der Unzufriedenheit ist, das eindeutig über die politischen Parteien der Opposition hinweg gegangen ist. (…) Deswegen gibt es Leute, die das, was derzeit passiert, als ‚Rebellion gegen den Status Quo‘ bezeichnen, sowohl gegen die Regierung als auch gegen die Dirigenten der Parteien der Opposition.(27)

Die Proteste: Ausbruch aus der Polarisierung?

Die derzeitigen Proteste sind daher etwas qualitativ Neues für Venezuela, und lassen sich eben nicht in die klassische Polarisierung Chávez oder Maduro – MUD pressen.

Nach Angaben der NGO Observatorio Venezolana de Conflictividad Social gab es allein im Monat Februar 2014 im Land 2247 Protestaktionen – ein Anstieg um 400% gegenüber dem Vormonat – die höchste Zahl von Protestaktionen in einem Monat in mehr als 10 Jahren.

Dabei waren die Spannungen im letzten Drittel des Vorjahres stetig angestiegen (28). Zum Vergleich: im gesamten Jahr 2013 gab es nach Angaben der gleichen Organisation „nur“ 4.410 Protestaktionen (29).

Die Proteste sind aber nicht nur quantitativ eine neue Qualität. Rafael Uzcátegui erläutert: „Es passiert etwas Neues. Eines ist, dass die Proteste nicht Caracas als Zentrum haben, sondern dezentralisiert sind, und die politischen Parteien der Opposition überschritten haben; und dass, weil die Kommunikationsmedien von Unternehmern aufgekauft wurden, die der Regierung nahe stehen, aufgrund dessen sowohl die Demonstrationen als auch die Repression zensiert wurden, sie massiv die sozialen Netzwerke sowohl für die Verbreitung von Informationen und Forderungen nutzen mussten.(30)

Vor diesem Hintergrund ist die Dauer der Proteste – mittlerweile mehr als sechs Wochen – ungewöhnlich, und ebenfalls neu. Dass die Proteste außerhalb der Hauptstadt Caracas begannen und dort eine breitere Basis haben lässt sich auch daraus erklären, dass die wirtschaftliche Situation – insbesondere die Versorgungslage – dort spürbar schlechter ist. Und während in Caracas im wesentlichen StudentInnen und die Mittelschicht auf die Straße gehen, beteiligen sich in anderen Städten mehr ArbeiterInnen und Menschen aus den ärmeren Schichten der Gesellschaft – bis hin zur Landbevölkerung im Staat Táchira (31), wo die Proteste begannen.

Wichtiger ist aber: „Wie niemals zuvor besteht heute ein Klima, dass dem Aufbrechen der Polarisierung, die die politische Landschaft Venezuelas in den letzten Jahren dominiert hat, förderlich ist, und neue politische Identifikationen einzuführen. Und das nicht nur aufgrund der Mobilisierungen gegen die Regierung, sondern weil es innerhalb der Basis des Chavismus eine klare Unzufriedenheit gibt (auf Grund der wirtschaftlichen Krise und der Repression), die sich in einer nicht aktiven Unterstützung der Regierung von Nikolas Maduro Ausdruck verschafft.(32)

Während sowohl die Regierung von Nikolas Maduros als auch die Massenmedien – wieder eine merkwürdige Übereinstimmung – viel von Gewalt bei den Protesten sprechen, ist die große Mehrheit der Protestaktionen friedlich, und es gibt neue und kreative Aktionsformen: in der Mehrzahl Demonstrationen, aber auch Sitzaktionen, Mahnwachen, Menschenketten, Musikaktionen, Straßentheater, etc. (33)

Dabei sollen weder die sogenannten „Guarimbas“ – eine Aktionsform, bei der letztlich auf öffentlichen Straßen „Fallen“ aufgebaut werden, in der Hoffnung, dass sich darin Sicherheitskräfte verletzen, die aber auch zu Verletzten und Toten unter Unbeteiligten geführt haben – noch, dass auch von Seiten der Opposition – wie immer die jetzt definiert werden soll – Gewalt bis hin zum Schusswaffengebrauch angewendet wurde, auch mit Todesfolge.

Die venezolanische Menschenrechtsorganisation Provea erklärte dazu: „Durch die Unterbindung und Unterdrückung des Rechts auf friedlichen Protest; durch die Nicht-Anerkennung der Exzesse in den Handlungen sowohl der Guardia Nacional Bolivariana als auch der Policía Nacional Bolivariana; durch die Verbreitung widersprüchlicher Botschaften zur Untersuchung und Bestrafung der Todesfälle und Verletzungen durch Schusswaffen, willkürlicher Verhaftungen, von Folter und Misshandlungen; durch die Tolerierung und Stimulierung der Handlungen paramilitärischer Gruppen und die Aufrufe an das Volk, sich den Demonstrationen entgegen zu stellen, ist die Regierung von Präsident Maduro der Hauptverantwortliche der Gewalt, die in diesem Land derzeit geschieht.

Und die fährt fort: „Trotzdem, indem sie (die Gewalt) nicht ausdrücklich und ohne Zögern verurteilen, haben auch die politischen und sozialen Führungspersonen einen Teil der Verantwortung für die Gewaltherde, die in verschiedenen Städten des Landes registriert wurden.(34)

Doch die Gewalt wird von breiten Teilen der Demonstrierenden abgelehnt. So heißt es z.B. in einer Erklärung der venezolanischen StudentInnenbewegung vom 10. März 2014: „Wir lehnen mit Beharrlichkeit Gewalt als größten Ausdruck von Schwäche ab, (…)(35). Und in zahlreichen Demonstrationen finden sich nicht nur Transparente gegen die Repression, sondern ebenfalls zahlreiche Transparente und Plakate, die die ‚guarimbas‘ verurteilen.

Die Antwort der Regierung: Repression

Wie bereits eingangs erwähnt, hat die Regierung auf die Protestwelle im Wesentlichen mit Repression reagiert. Nach Angaben des Observatorio Venezolano de Conflictividad Social kam es bis zum 10. März zu 1254 Festnahmen (36).

Am 15. März bezifferte Präsident Maduro die Zahl der Festnahmen mit 1529 (37).

Verschiedene Menschenrechtsorganisationen, sowohl innerhalb Venezuelas als auch international, haben zahlreiche Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit den Demonstrationen dokumentiert.

In einem Bericht, basierend auf 30 Interviews mit in Caracas festgenommenen Demonstrierenden, dokumentiert das Centro de Derechos Humanos der Universidad Católica Andrés Bello (CDH-UCAB) zahlreiche Fälle von Misshandlungen, Folter, und der Verweigerung von Rechten, z.B. des Rechts auf einen Anwalt (38).

Dabei verurteilt die Koalition von Menschenrechtsorganisationen Foro por la vida insbesondere die Verfolgung von Personen, die Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte zu dokumentieren versuchen (39).

Bei der Unterdrückung der Proteste arbeiten die verschiedenen Sicherheitskräfte und paramilitärische Gruppen, die die Regierung unterstützten, oft Hand in Hand.

Die Regierung rechtfertigt ihre Repression damit, dass es sich bei den Protesten um einen „Putsch“ handeln würde, hinter dem die USA stehen würden. Doch es ist mehr als zweifelhaft, ob hier wirklich von einem Putsch oder einem Putschversuch gesprochen werden kann. Zum einen fehlt den Protesten die Koordination – wie bereits erläutert, organisieren sie sich über soziale Netzwerke mit wenig nationaler Koordination, und ohne klare, koordinierte politische Forderungen.

Die Versuche der Oppositionsparteien, den Protesten den Slogan „La Salida“ (Der Abgang) überzustülpen haben dabei wenig mit der Realität zu tun, und spielen letztlich dem Gerede der Regierung von einem Putsch in die Hände.

Anders als im Jahr 2002 – als es tatsächlich einen Putschversuch gab – hätte ein Putsch aber auch wenig Aussicht auf Erfolg. Rafael Uzcátegui erklärt dazu, dass die Regierung seit 2002 die Kontrolle über die mittleren und höheren Ränge des Militärs gefestigt hat, und somit die Unterstützung des Militärs für das bolivarische Projekt gewährleistet ist (40). Das Gerede vom Putsch dient also anderen Zielen.

Am 5. März rief Präsident Maduro in einer Rede während der Gedenkveranstaltungen aus Anlass des Todestages von Hugo Chávez das „gesamte Volk, die Unidades de Batalla Bolívar-Chávez, die kommunalen Räte, die sozialen Bewegungen, die Gemeinden, die Bewegungen der Jugend, der ArbeiterInnen, der Bauern, der Frauen“ dazu auf, das Feuer der Proteste mittels des organisierten Volkes auszulöschen (41).

Dabei handelte es sich nicht um den ersten Aufruf an die Bevölkerung oder die „Comandos Populares Antigolpe“, die Demonstrationen zu bekämpfen (42).

Präsident Maduro schiebt dabei die Schuld für alle Todesopfer den Demonstrierenden zu: „Alle Fälle von zu Tode gekommenen sind der Gewalt der guarimbas zuzuschreiben, alle, vom Ersten bis zum Letzten„, erklärte er nach einer Presseerklärung des Büros des Präsidenten (43).

Dabei verschweigt er, dass nach Angaben der Staatsanwaltschaft insgesamt 14 Mitglieder verschiedener Sicherheitskräfte festgenommen wurden (44) – darunter mindestens 5 wegen zwei der drei Todesopfer am 12. Februar (45), sowie weitere wegen anderer Todesfälle und der Misshandlung von Demonstrierenden (46) – und dass es zahlreiche Berichte gibt, die eindeutig die Verantwortung der Polizei, des Militärs, und der paramilitärischen Comandos Populares Antigolpe und Unidades de Batalla Bolívar-Chávez für zahlreiche Todesopfer belegen – ohne hier verschweigen zu wollen, dass auch aus Reihen der Demonstrierenden oder der „Opposition“ heraus Menschen erschossen wurden.

Dabei geht es hier nicht darum, die Todesfälle gegeneinander aufzurechnen – jeder Todesfall ist einer zu viel. Die Gewalt – auch von Seiten der Demonstrierenden – ist Ergebnis dessen was Roberto Briceño León die „Zerstörung der moralischen Basis der Gesellschaft“ nannte, und kann niemals gerechtfertigt werden. Doch die Propaganda der Regierung trägt zur Eskalation der Gewalt – allen voran der Gewalt der Sicherheitskräfte und der paramilitärischen Gruppen – bei, indem sie ein Klima der Straflosigkeit und gar Zustimmung schafft.

Rafael Uzcátegui: „Wenn die Regierung jemanden als ‚Putschist‘ bezeichnet, dann bedeutet das nicht, dass er das ist, noch, dass die Regierung glaubt, dass er das ist. Sie artikuliert schlicht und einfach, dass der Befehl gegeben wurde, an alle, die es angeht, die entsprechende Person nach den Regeln zu behandeln, die für ‚Putschisten‘ gelten. Es gilt daher, während die Regierung weiterhin betont, dass sie sich einem ‚Putsch‘ gegenüber sieht, garantiert sie Straflosigkeit für die Reaktionen ihrer Gefolgschaft(47).

Hoffnungen und Realitäten

Bei Redaktionsschluss dieses Artikels (17. März 2014) gehen die Auseinandersetzungen in Venezuela in die siebte Woche, und die Regierung Maduros droht mit mehr Repression und dem Einsatz des Militärs gegen die Demonstrierenden.

Trotzdem – und unabhängig davon, wie diese Protestwelle letztlich enden wird – sind die derzeitigen Proteste auch Anlass für Hoffnung. Hoffnung nicht in dem Sinne der Absetzung der Regierung und der Machtergreifung der Oppositionsparteien – diese Polarisierung ist falsch, und darum geht es den meisten Demonstrierenden auch nicht. Es ist klar, dass der Chavismus auch in Zukunft in Venezuela eine wichtige Rolle spielen wird, ob an der Regierung (die wahrscheinlichere Variante) oder nicht.

Hoffnung in dem Sinne, dass sich nach diesen Protesten die politische Landschaft Venezuelas geändert haben wird. Rafael Uzcátegui schreibt dazu: „Das Szenario der Implosion der polarisierten Führungseliten, sowohl der Opposition als auch des Chavismus, eröffnet gute Voraussetzungen für die Förderung der Autonomie in der kollektiven Aktion. In der Tat haben sich in diesem Monat viele Dinge verändert, teilweise, weil viele Leute aus sich heraus etwas gemacht haben, richtig oder falsch, und es wird schwierig sein, dass sie dazu zurückkehren sich fügsam unterzuordnen, unter dem Schatten eines charismatischen Führers, wie immer er auch heißen mag.(48)