Der Soziologe und Anarchist Andreas Kemper (* 11. April 1963) arbeitet zu den Themenschwerpunkten Bildungsbenachteiligung, Klassismus und antifeministische Männerrechtsbewegung. Er ist Autor u.a. von "Rechte Euro-Rebellion: Alternative für Deutschland und Zivile Koalition e. V." (edition assemblage, Münster 2013) und "Sarrazins Correctness: Ideologie und Tradition der Menschen- und Bevölkerungskorrekturen" (Unrast, Münster 2014). Über seine neuen Werke, Direkte Demokratie, Anarchismus, AFD, Sarrazin und antifaschistische Perspektiven sprachen mit ihm Graswurzelrevolution-Redakteur Bernd Drücke, GWR-Mitherausgeber Matthias Schmidt und GWR-Praktikant Volkan. (1)
Bernd Drücke: Du lebst schon seit längerer Zeit in Münster, bist in linken und anarchistischen Zusammenhängen aktiv. Kannst Du uns etwas von Deiner politischen Sozialisation erzählen?
Andreas Kemper: Ich komme aus einer evangelischen, provinziellen Arbeiterstadt und bin in den 70er Jahren sozialisiert worden. Ich bin mit der Alternativbewegung aufgewachsen und habe bei der Alternativen Liste mitgemacht. Interessant ist, dass ich mich jetzt mit der Alternative für Deutschland (AfD) auseinandersetze, die ja den Begriff „alternativ“ okkupiert haben. An denen ist eigentlich nichts alternativ. Solche Leute waren damals unsere Feindbilder, also Schlipsträger.
Ich bin nach Münster gezogen, um zu studieren, war in der Friedensbewegung aktiv, habe mein Soziologiestudium angefangen, bin nach 4 Jahren nach Berlin gewechselt wegen der Bundeswehr und habe dann allerdings mein Studium abbrechen müssen, weil ich kein BAföG mehr bekommen habe.
Es gab damals 2 Streiksemester, das war spannend, wir haben sehr viel gearbeitet und gelernt, aber die Semester wurden nicht anerkannt. Dann war mein BAföG zu Ende. Ich habe dann angefangen zu jobben und ein alternatives Projekt in der Kommunebewegung mit aufgebaut. In Wirklichkeit habe ich jahrelang studiert, wenn auch nicht offiziell. 2000 habe ich auch offiziell wieder angefangen zu studieren und parallel ein Referat für studierende Arbeiterkinder aufgebaut. Das ist auch eigentlich mein Thema. Später habe ich den Magister gemacht und schreibe jetzt an meiner Doktorarbeit zum Thema Klassismus.
Bernd Drücke: Kannst Du genauer auf den Klassismus eingehen? Dieser dürfte den meisten Menschen nicht wirklich ein Begriff sein.
Andreas Kemper: Klassismus ist eine Diskriminierungsform wie Rassismus, aber eben bezogen auf Klassenzugehörigkeit. Der Begriff kommt aus dem Englischen und wurde in den 70er Jahren von einem Lesbenkollektiv begründet. Der Begriff meint, dass wir in einer Klassengesellschaft leben, aber dass es nicht darum geht, ausschließlich Klassenkämpfe in typischer Form mit Parteien, Gewerkschaften usw. zu machen. So zeigt sich der Klassismus im Alltag, in Form von Unterdrückungsformen, aufgrund von Klassenherkünften, die unterschiedlich sind, und bezogen auf die Mittel, die einem Menschen zur Verfügung stehen, z.B. im Bildungssystem. In Deutschland werden Arbeiterkinder nach der 4. Klasse ausselektiert. Das war bei mir auch so. Mit einem guten Zeugnis bin ich zur Hauptschule gegangen, musste mich dann langsam hocharbeiten, war dann auf dem technischen Gymnasium. Das passte aber wiederum nicht zum folgenden Soziologiestudium, weil mir Latein fehlte, und so weiter. Das sind im Bildungsbereich die Probleme, die ich angehe und untersuche.
Volkan: Ist Klassismus ein Thema in der deutschen Öffentlichkeit? Wenn ja, in welchen Bereichen wird dieses Ungleichheitsverhältnis besonders diskutiert?
Andreas Kemper: Es sollte Thema sein. Es gibt alle drei Monate eine Studie, die aufzeigt, dass Arbeiterkinder benachteiligt werden. Heute ist eine neue Studie von der Hans-Böckler-Stiftung zum Thema Vermögensverteilung erschienen, die zeigt, dass die Schere zwischen arm und reich extrem auseinandergeht. Wenn man das umrechnet, haben die reichsten Unternehmer in Deutschland einen Stundenlohn von einer halben Million Euro. Das sollte Thema sein, ist aber keines. Das zeigt sich bei den Gleichbehandlungsgesetzen, die wir haben, wo klassenspezifische Diskriminierung nicht vorkommt.
Volkan: Es wird viel über Bildungsgerechtigkeit diskutiert, ebenso über gewisse Problematiken im deutschen Bildungssystem. Welche Perspektiven siehst Du diesbezüglich? Wie können diese Diskussionen weitergeführt und wie können hier Veränderungen geschaffen werden?
Andreas Kemper: Da kommt jetzt mein anarchistischer Ansatz rein. Denn ich denke, dass solange nichts passiert, solange sich die Menschen nicht selbst organisieren. Bei den Studierendenvertretungen an den Unis gibt es seit Jahren Referate für Frauen, für behinderte Studierende, für Lesben und Schwule, was auch richtig so ist. Es ist gut so, dass sich diese Gruppen wehren. Wenn es keine Frauenbewegung gegeben hätte, wären wir bezüglich Gleichberechtigung immer noch in den 50er Jahren. Das Gleiche müsste auch passieren bei Arbeiterkindern, die studieren.
Die müssen sich zusammenschließen, um selber für ihre Rechte zu kämpfen. Deshalb habe ich 2003 dieses Referat gegründet. Das funktioniert gut. Bei den Vollversammlungen sind mehr als 60 Studierende. Aber es bleibt in Münster und kommt nicht darüber hinaus, es gibt anderswo noch keine vergleichbaren Referate. Aber das wäre mein Ansatz einer Organisierung.
Bernd Drücke: Du hast gerade auch von Deinem anarchistischen Ansatz gesprochen. Was verstehst Du unter Anarchie und Anarchismus?
Andreas Kemper: Für mich ist das ein politischer Ansatz, der davon ausgeht, dass es möglich ist, in einer herrschaftsfreien Gesellschaft zu leben. Also: Anarchie als Herrschaftsfreiheit.
Jetzt ist die Frage: Wie kommen wir dahin? Und da wird der Anarchismus immer schnell gleichgesetzt mit Bombenwerfen und Terrorismus. Oder wenn gerade keine Bombenwerfer zur Verfügung stehen, dann ist es eben „Tugendterror“.
Aber das hat mit Terror nichts zu tun. Anarchismus ist das Streben nach einer herrschaftsfreien Gesellschaft und der Glaube daran, dass es möglich ist, dass wir ohne Chef, ohne Unterdrückung, ohne Knäste zusammen leben können. Also eigentlich ein utopisches Bestreben.
Und dann ist noch die Frage: Wie erreichen wir das? Da sagt der Anarchismus: Das kann und muss schon im Hier und Jetzt begonnen werden. Also nicht erst abwarten und Parteien gründen, sondern Zweck und Mittel müssen übereinstimmen.
Matthias Schmidt: Für Dich ist Anarchie also Herrschaftsfreiheit, in gewisser Weise eine Utopie. Jetzt gibt es die „Alternative für Deutschland“, die sich auch für „Direkte Demokratie“ ausspricht, zumindest formell. Kannst Du dazu etwas sagen und das von Deinem Demokratiebegriff abgrenzen?
Andreas Kemper: „Direkte Demokratie“ ist ein sehr schwammiger Begriff. Ich spreche lieber von Basisdemokratie, das wäre etwas, was ich gerade dargestellt habe, Selbstorganisierung von Betroffenen, oder ich spreche lieber von rätedemokratischen Modellen. In der Wirtschaft wäre das auch total wichtig. In Deutschland beschränkt sich die Demokratie auf den Parlamentarismus. Wir haben im ganzen Wirtschafts- und Arbeitsbereich eigentlich keine demokratischen Strukturen. Da wird alles von oben nach unten entschieden. Da ist wirklich ein Mangel an Demokratie, da müsste etwas passieren. Gerade jetzt mit dem Niedriglohnsektor sind auch nochmal demokratische Prozesse abgebaut worden, weil es gar nicht so ohne weiteres möglich ist, einen Betriebsrat zu gründen usw. Im Wirtschaftsbereich gibt es einen Mangel in Richtung Rätedemokratie.
Was ich schwierig finde, sind bestimmte direktdemokratische Forderungen, wobei man da nochmal unterscheiden muss zwischen Volksentscheiden und Direktwahlen von Bundespräsidenten, Bundeskanzler oder Abgeordneten. Das wird von führenden AfDlern forciert. Diese wollen Direktwahlen von Führern. Parteien wollen sie also weg haben. Das finde ich sehr problematisch. In ähnlicher Weise hat sich auch Adolf Hitler als „Demokrat“ verstanden, in „Mein Kampf“ hat er unterschieden zwischen „germanischer Demokratie“ und „jüdischer Demokratie“. Hitler hat gesagt, dass in der „germanischen Demokratie“ „das Volk“ den eigenen Führer wählen würde, während der Parlamentarismus die „jüdische Demokratie“ sei und die Parlamentarier sich alle hinter den Parteien versteckten, gar nicht greifbar seien, und das sei korrupt. Diese Argumentationsfigur wird auch von AfDlern gefahren. Die wollen Parteien einschränken, die wollen Parteistiftungen weg haben, Parteiendemokratie stünde der Wirtschaftsentwicklung im Weg. Soziale Gerechtigkeit wäre mit dem „direktdemokratischen“ Modell der AfD noch schwerer zu erreichen, und das wissen die auch.
Ein weiterer Punkt bei „Direkter Demokratie“ sind die Volksabstimmungen. Das wird auch von vielen Linken gefordert, dass wir mehr Volksabstimmungen brauchen. Da bin ich nicht generell dagegen, aber da müssen wir berücksichtigen, dass es eine Schere gibt zwischen Arm und Reich, die sich auch in der Wahlbeteiligung niederschlägt. Es sind immer weniger Arme, die wählen. Bei den Bundestagswahlen gehen Arme seltener wählen als Reiche. Und je weiter das „runter“ geht, Landtagswahlen, Kommunalwahlen, desto größer werden die Unterschiede – und vor allem bei Volksabstimmungen, da gehen kaum noch Arme hin. Wenn es dann bei Volksabstimmungen um Fragen geht, die die Interessen der Privilegierten betreffen, dann ist „Direkte Demokratie“ gefährlich. Das hat sich bei fast jedem Volksentscheid zu Gesamtschulen gezeigt, die gehen fast immer in Richtung „soziale Selektion“ aus, also zugunsten der Kinder der Privilegierten.
Bernd Drücke: Du hast 2013 ein Buch zur AfD geschrieben. Kannst Du Deine Kernthesen ausbreiten?
Andreas Kemper: Das Buch heißt: „Rechte Euro-Rebellion“. Es geht aber gar nicht so sehr um den Euro. Auch wenn die AfD jetzt bei den Europawahlen das Thema Euro ziemlich in den Mittelpunkt stellen wird. Allerdings stellen die auch bei der Europapolitik die Demokratiefrage in den Mittelpunkt, wenn sie sagen, dass sie eine „nationale Souveränität“ haben wollen. Sie wollen, dass über alle EU-Gesetze nochmal in Deutschland abgestimmt wird.
Das eigentliche Thema der AfD ist eine Reform der demokratischen Entscheidungsstruktur. Da steckt unter anderem Hans-Olaf Henkel dahinter. Der ehemalige Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) und stellvertretende AFD-Sprecher plant dies schon seit 1997. Unterstützt wird diese Demokratie-„Reform“ von AfD-Volkswirtschaftlern und einem Netzwerk von (ehemals) Adeligen, die eher ein ständisches Demokratieverständnis haben. Das ist die eigentliche Gefahr der AfD.
Volkan: Wenn es um das Wahlrecht geht, um die Veränderung der Demokratie, was für ein Diskurs herrscht da bei der AFD?
Andreas Kemper: Die haben verschiedene Modelle. Da sind viele Volkswirtschaftler, und die befassen sich nicht nur mit Wirtschaft, sondern auch mit Demokratie. Die verstehen sich als „Ordnungspolitiker“. Einer von denen, Ronald Vaubel, forscht seit den 1980er Jahren daran, wie man die „Leistungsträger“ vor der „Tyrannei der Massen“ bewahren kann.
Dann haben die verschiedene Modelle, ein Modell will ein „Mehrkammersystem“, eine Kammer wird von allen Staatsbürger*innen gewählt, wie jetzt, und in der anderen Kammer sind nur die „Leistungsträger“ wahlberechtigt und die haben dann ein Vetorecht z.B. gegen Steuererhöhungen.
Hermann Behrendt, das ist ein Jurist und stellvertretender (2) Vorsitzender der AfD in NRW, der sagt: „Wir müssten das Parlament abschaffen“, weil es heute die „Arbeitsscheuen“ und die „Migration der Falschen“ fördere. Und wenn das Parlament abgeschafft sei, dann könnten unpopuläre Entscheidungen getroffen werden, z.B. könnte ein Ordnungsdienst eingeführt oder das Streikrecht und der Kündigungsschutz abgeschafft werden.
Matthias Schmidt: Wir haben gerade über Demokratieverständnisse und politische Utopien gesprochen. Das Bundesverfassungsgericht hat vor kurzem die Dreiprozenthürde bei den Europawahlen gekippt. Kleinere Parteien wie auch die AfD freuen sich und sehen nun große Chancen. Wie schätzt Du das ein?
Andreas Kemper: Die AfD kann laut aktuellen Umfragen im Moment mit 6 bis 8 % der abgegebenen Stimmen bei den Europawahlen rechnen. Das heißt, auch ohne Dreiprozenthürde würden sie schon ins Europaparlament ziehen. Jetzt sind sie auf jeden Fall drin, selbst wenn sie nur 1,5% bekommen würden. Die Frage ist interessant, wer reinkommt. Auf jeden Fall Parteichef Bernd Lucke, dann Hans-Olaf Henkel und wahrscheinlich auch Kölmel und Beatrix von Storch. Letztere stehen für eine Familien- und Geschlechterpolitik, die äußerst problematisch ist. Da sind die sehr weit am rechten Rand. Die Agitation gegen die Homoehe kommt hauptsächlich aus diesem Spektrum um Beatrix von Storch, der sogenannten „Zivilen Koalition“, für die sie steht. Da gibt es dann entsprechende Connections zu ähnlichen Gruppierungen in Frankreich. Es gab gerade in Baden-Württemberg die ersten Demonstrationen gegen die sogenannte „Frühsexualisierung von Grundschulen“, und da werden Kölmel und Co. auch agitieren.
Matthias Schmidt: Siehst Du Anknüpfungspunkte von diesem reaktionären familienpolitischen Diskurs zur Debatte, die Sarrazin in Deutschland losgetreten hat?
Andreas Kemper: Ja, unbedingt. Die AfD ist halt die Sarrazin-Partei, wobei Sarrazin selber nicht mitmacht, aber das hat einen strategischen Grund. Das sagt er immer wieder, dass er in der SPD bleibt, weil er es wichtig nimmt, dass dort auch solche Leute wie Sarrazin sind oder in der FDP solche Leute wie Schäffler. Das neue Buch von Sarrazin, „Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland“, passt gut zur AfD. Sarrazin hat darin zunächst 13 Punkte aufgelistet, wo er aufzeigt, wo seiner Meinung nach „political correctness“, der „Tugendterror“ herrscht. Das sind Themen, wo es um Gleichheit geht.
Im Dezember 2013 hat er bei der rechten, reaktionären „Compact“-Veranstaltung in Leipzig geredet. Eingeladen hatte ihn der rechte Ex-Antideutsche Jürgen Elsässer. Auf dieser Veranstaltung hat er noch einen 14. Punkt aufgenommen: gegen die Homo-Ehe, also „Kinder brauchen Vater und Mutter“, gegen Alleinerziehende, gegen gleichgeschlechtliche Partnerschaften.
Volkan: „Political correctness“ scheint in Sarrazins neuem Buch ein wichtiger Begriff zu sein. Was meint er denn damit?
Andreas Kemper: Sarrazin übernimmt praktisch einen Diskurs bzw. einen Begriff, der ursprünglich in den USA aufgekommen ist. Das nannte sich die „culture wars“, da ging es um Kulturkämpfe. Die ganz Rechten haben sich quasi angelegt mit den Liberalen in den USA. Da ging es um Waffenbesitz, um Homosexualität, Drogenbesitz und entsprechende andere Sachen, worum die sich gestritten haben. Schlauerweise haben die irgendwann den Begriff „political correctness“ für sich übernommen. Ursprünglich war das ein linker Begriff, wo antiautoritäre Linke die Parteilinie von kommunistischen Linken kritisiert haben. Das war ein ironisierender Begriff. Die Rechten haben das dann übernommen und haben das gegen die Linken gewandt, gegen Feministinnen und Anti-Rassist*innen, die z.B. an Hochschulen gesagt haben: „Wir wollen nicht mehr, dass das „N-Wort“ (3) benutzt wird“, wir wollen kein hatespeech, also keine Hasssprache mehr. In dem Zusammenhang ist „political correctness“ damals aufgenommen worden. George Bush senior hat damals als US-Präsident vor laufenden Kameras eine Rede gehalten, in der er gewarnt hat, dass die Redefreiheit bedroht sei.
Das ist genauso absurd, wie Sarrazins Agieren, der jetzt mit Hunderttausender Auflage und Vorabdruck in der BILD sagt, seine Meinungsfreiheit sei bedroht.
Bernd Drücke: Du hast zum Thema ein neues Buch herausgebracht.
Andreas Kemper: Ja, das nennt sich „Sarrazins Correctness“, weil ich sage, dass eigentlich Sarrazin die Verkörperung des „korrekten Typen“ ist, quasi wie man sich einen Spießer vorstellt. Der ist quasi in allem korrekt, nur nicht in seinen Positionen gegenüber Schwachen. Da ist er plötzlich inkorrekt.
Seine Correctness hat zwei Linien. Die eine Linie, das ist auch der alte Sarrazin, der gefordert hat, dass die Arbeitslosen sich Pullover anziehen sollen, die sollen nicht heizen, die sollen weniger Geld bekommen usw. Er hat in „Deutschland schafft sich ab“ auch gefordert, dass es einen stärkeren Arbeitszwang für Arbeitslose geben soll, damit die Arbeitslosen diszipliniert werden.
Die erste Korrektionslinie ist also Disziplinierung, die zweite Rassenhygiene. Da übernimmt er einen Diskurs, den es damals auch gegeben hat, wie z.B. im Erbgesundheitsgesetz, der davon ausgeht, dass in Deutschland die Falschen Kinder bekämen. Das sind seine beiden Typen von Korrekturen: Menschenkorrekturen und Bevölkerungskorrekturen.
Volkan: Das Sarrazin-Buch „Deutschland schafft sich ab“ war sehr erfolgreich. Wie siehst Du das beim aktuellen Buch. Meinst Du, dass er hunderttausend Stück los wird? Welche Leute lesen diese Bücher, nehmen seine Kritik ernst?
Andreas Kemper: Zuerst war ich skeptisch, aber es kann sein, dass sein neues Buch wieder auf Platz 1 bei Amazon landet. Er kriegt genügend Medienaufmerksamkeit. Ich denke, dass es mit der AfD alleine nicht klappen wird; die haben 17.000 Mitglieder. Da müsste jeder mindestens 4 Stück kaufen,
Aber es gibt etwas aus der Antidiskriminierungsforschung, das nennt sich „verrohtes Bürgertum“ und besagt, dass das Bürgertum nicht mehr bereit ist, liberal-bürgerlich aufzutreten, sondern dass es seit einiger Zeit seine Ellenbogen ausgefahren hat. Das geht vor allem gegen die Schwachen. Da passt Sarrazin mit seinem Rechtfertigungsdiskurs.
Bernd Drücke: Kannst Du genaueres zum Inhalt Deines neuen Buches „Sarrazins Correctness“ sagen?
Andreas Kemper: Ich gehe kurz im ersten Kapitel auf Sarrazins Thesen ein. Im zweiten Teil erörtere ich seine Korrektionslinien. Vor hundert Jahren gab es in Deutschland Korrektionsanstalten, „correction camps“ im Englischen, da kamen Landstreicher, Prostituierte, Alleinerziehende, Kinder, die von zuhause abgehauen sind, straffällig gewordene Jugendliche usw. rein. Die sollten alle korrigiert werden. Das ist quasi ein Vorläufer des Hartz IV-Systems mit seiner Verfolgungsbetreuung. Die geht dem Sarrazin nicht weit genug. Er sagt, dass die Arbeitslosen noch viel stärker an die Kandare genommen werden müssten. In den Korrektionsanstalten wurde damals festgestellt, dass sich die Menschen gar nicht beliebig korrigieren ließen, also wurde gefolgert, dass sie komplett falsch, dekadent seien. Also müsse man zu Bevölkerungskorrekturen greifen. Daraus hat sich die Rassenhygiene entwickelt. Das ist ein fließender Übergang, den auch Sarrazin vollzogen hat. Ursprünglich hat er klassistisch gegen die Unterschichten gehetzt. Dann kam er plötzlich auf den Trichter, dass es bei einigen gar nicht ginge, die seien bildungsunfähig. Auch die beste Schule könne ein dummes Kind nicht klug machen, da müssten wir dafür sorgen, dass die gar nicht erst geboren werden. Das ist die Eugenik.
Bernd Drücke: Du warst jahrelang Wikipedia-Mitarbeiter und bist ins Visier der Rechten geraten, die rechte Wochenzeitung Junge Freiheit hat 2009 ein ganzseitiges „Porträt“ über Dich gebracht: „Wissen ist Macht. Ein Klassenkämpfer plustert im Online-Lexikon sein Gefieder auf: Fallbeispiel eines Wikipedia-Autoren“. Wie waren da die Hintergründe?
Andreas Kemper: Ich konnte damals aufzeigen, dass ein Wissenschaftler, der bei Wikipedia mitgearbeitet hat, Volkmar Weiss, der Bücher zur Rassenhygiene herausgegeben hat, wo es um Vererbung von Intelligenz usw. ging, in Wikipedia manipuliert und verschiedene Accounts angelegt hat. Das habe ich herausgefunden. Wir sind mit unseren unterschiedlichen Einstellungen sofort aufeinander zugerast wie zwei Dampflokomotiven, er ist aus Wikipedia rausgeflogen. Ich bin kein Administrator, ich konnte das nicht entscheiden, sondern nur zeigen, dass er manipuliert hat – das wurde überprüft, es wurde bestätigt, er ist rausgeflogen. Dann hat er gegen mich eine Kampagne gestartet, er hat beim Institut für Soziologie angerufen, ob ich überhaupt dort studieren würde, meine Intelligenz würde gar nicht ausreichen für eine Dissertation.
Dann gab es plötzlich einen Artikel in der Jungen Freiheit, diesem neurechten Blatt mit rechtsextremen Tendenzen, wo ich pathologisiert werden sollte. Das passt doch ganz gut in das Schema der Korrektionsanstalten. Und der Autor, der da über mich geschrieben hat, war auch der erste, der erkannt hat, dass Sarrazin sich im eugenischen Fahrwasser bewegt. Die benennen das natürlich viel direkter als es Sarrazin lieb ist. Sarrazin hat auch tatsächlich von dem Volkmar Weiss abgeschrieben, also von diesem Wissenschaftler, mit dem ich bei Wikipedia Probleme hatte. Und Sarrazin ist ja alles, nur kein Intelligenzforscher, der hat alles übernommen, zum Teil wortwörtlich abgeschrieben. Sarrazin hat zwar später gesagt, dass er Weiss nur zitiert hätte, wenn es um die DDR gegangen wäre. Aber das stimmt nicht. Da gab es plötzlich ein temporäres „Bündnis“ zwischen mir und diesem Volkmar Weiss, weil wir beide gesagt haben, dass Sarrazin sich sehr wohl bei ihm bedient hätte.
Bernd Drücke: Wie homophob ist die AfD?
Andreas Kemper: Homophobie heißt ja wörtlich übersetzt Angst vor Schwulen und Lesben. Das ist eigentlich ein problematischer Begriff, Heterosexismus wäre da passender, Heteronormativität würde man in der Soziologie sagen. Das ist eine Diskriminierung von Menschen, die nicht der Norm entsprechen, wonach ein Mann eine Frau zu lieben habe oder umgekehrt.
Die AfD und Sarrazin sagen von sich, dass sie nicht homophob seien. Wahrscheinlich haben einige tatsächlich auch irgendwelche schwulen oder lesbischen Freunde. Was die stört, ist, dass angeblich solche Minderheiten wie Schwule und Lesben die ganzen Medien bestimmten und dort Rechte einfordern, wo sie nichts zu suchen hätten. Die Ehe wäre bestimmt für Mann und Frau und nicht für andere Konstellationen. Die AfD will verhindern, dass Schwule und Lesben gleiche Rechte bekommen.
Volkan: Welche Schritte erwägen sie, um diesen homophoben Diskurs fortzuführen? In Baden-Württemberg gab es eine Initiative, Homosexualität auch in der Schule anzusprechen. Gegen dieses Vorhaben wurde mobilisiert. Welche Rollen können die AfD oder Sarrazins Buch spielen?
Andreas Kemper: Sarrazins Buch ist wegen der Mobilisierung gefährlich. Er hat jetzt diesen 14. Punkt neu mit hineingenommen, er hatte bei seinen bisherigen Vorträgen 13 Punkte, seit kurzem hat er auch drin, dass zur Familie nur Mann und Frau und auch ein Kind gehörten und sonst nichts. Die AfD ist zum einen schon massiv tätig, vor allem die „Zivile Koalition“ innerhalb der AfD, mit Massenspammails, die sie ständig versenden, dann haben sie aber auch in jedem kleinen Ort irgendwelche Leute sitzen, d.h., sie haben auch ein riesengroßes Potential für Demonstrationen. Wir werden noch nicht wie in Frankreich Demonstrationen von Hunderttausenden haben, die homophob sind. Aber mit der AfD könnte das wirklich passieren, die haben überall ihre Mobilisierungsmöglichkeiten, und da liegt eine große Gefahr.
Bernd Drücke: Welche Perspektiven von außerparlamentarischen Bewegungen siehst Du gegen rechte Strömungen, gegen Sarrazin, gegen die AfD? Was ist notwendig, um diesen reaktionären Entwicklungen entgegen zu treten?
Andreas Kemper: Als erstes ist Aufklärung wichtig. Dann wäre es wichtig, das Spektrum von den Vorstellungen zu erweitern, die wir von rechts, rechtsextrem oder faschistisch haben, weil bislang faschistisch sehr schnell gleichgesetzt war mit rassistisch. In Deutschland ist Rassismus, wie Ereignisse in letzter Zeit gezeigt haben, auch weiterhin ein Problem. Ein weiteres Problem, das auch immer zum Faschismus gehört, ist eine ganz starke Orientierung an Familie und Vaterland sowie Demokratiefeindlichkeit. Diese beiden Punkte müssen wegen der AfD jetzt stärker in den Fokus gerückt werden. Dann auch ein Hinterfragen von Direkter Demokratie, die nicht per se gut ist, ich habe ja schon darauf hingewiesen, dass sich auch Adolf Hitler als Direktdemokrat verstanden hat. Ich sehe die Möglichkeiten in Aufklärung und Selbstorganisierung der Betroffen.
(1) Das Interview wurde im Studio des Medienforums Münster geführt, als Radio Graswurzelrevolution-Sendung am 01.04.2014 auf Antenne Münster (95,4 Mhz, www.antenne-muenster.de) ausgestrahlt. Es soll, wg. GEMA leider ohne Musik, auf www.freie-radios.net dokumentiert werden. Technik: Klaus Blödow.
(2) Behrendt ist inzwischen Landessprecher der AfD-NRW.
(3) N-Wort: "Nigger" / "Neger"
Termin
Veranstaltung mit Andreas Kemper: 17.05., 19 Uhr, Mehringhof, Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin: Europa wählt - Von Sarrazin bis zur AfD