Es ist nicht möglich, Leben und Werk Erich Mühsams getrennt voneinander zu betrachten. Der schüttelreimende Kabarettist lässt sich ebenso wenig vom staatsfeindlichen Freigeist trennen, wie der melancholische Poet vom politischen Häftling, der anarchistische Agitator nicht vom lebenslustigen Erotomanen und der Dramatiker nicht vom handelnden Revolutionär.
Selbst Mühsams langsames und qualvolles Sterben als eines der ersten Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie war kein Zufall. Denn er wurde nicht vorrangig seiner jüdischen Herkunft wegen ermordet, wie so viele nach ihm, sondern als Anarchist und Autor jenes umfangreichen Werkes, das er uns hinterlassen hat, ein Werk, das weder im unverwechselbaren Sound und Witz seiner Sprache noch in seinen emanzipatorischen Inhalten an Aktualität verloren hat.
Mühsams Kernthemen waren unbeschränkte Freiheit im Leben und Denken sowie der Kampf „für Gerechtigkeit und Kultur“. Zwar entwickelte sich seine politische Weltsicht mit den gesellschaftlichen Brüchen, die er erlebte, aber zum revolutionären Anarchisten wurde er nicht erst mit den Jahren, er war es von Anfang an. Dafür gab es gute Gründe.
Als Mühsam am 6. April 1878 als Sohn eines jüdischen Apothekers in Berlin geboren wurde, war das deutsche Kaiserreich erst sieben Jahre alt, der entscheidende Grundstein für zwei Weltkriege und das Grauen der Naziherrschaft somit gerade erst gelegt. In der Gründung dieses Reiches hatten sich die Träume des deutschen Bürgertums erfüllt, dessen Mehrheitshaltung sich nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 zunehmend konservativ-nationalistisch und antisemitisch ausprägte. Noch in Mühsams Geburtsjahr wurde Bismarcks „Sozialistengesetz“ verabschiedet, das zur Aufspaltung der Sozialdemokratie in die spätere SPD einerseits, und die sogenannten Linkssozialisten bzw. Anarchisten andererseits führte.
Vorrangiges Ziel der Ersteren wurde es, um nahezu jeden ideologischen Preis als Partei in den Reichstag zurückzukehren und dort staatstreu wirken zu dürfen. Letztere blieben von der Notwendigkeit einer radikalen gesellschaftlichen Neugestaltung überzeugt, die über die Teilnahme am Parlamentarismus nicht zu erreichen sei.
Das war auch Mühsams Haltung und scheint sie bereits in jungen Jahren gewesen zu sein. Zumindest wurde der angehende Schriftsteller schon als Siebzehnjähriger wegen „sozialistischer Umtriebe“ vom angesehenen Lübecker Gymnasium Katharineum verwiesen.
Sich den Anweisungen seines Vaters widerstrebend fügend, absolvierte er dann noch in Parchim die Mittlere Reife und anschließend eine Apothekerausbildung, aber als er 1900 nach Berlin kam geschah das bereits in der festen Absicht, fortan als freier Schriftsteller zu leben. Mit diesem Beruf verband Mühsam allerdings nie die Vorstellung eines weltabgewandt-schöngeistigen Künstlertums, sondern vor allem den Wunsch, politisch zu wirken und die Welt zu verändern.
Seine Motivation, ja, sein ganzes Programm, dem er lebenslang treu bleiben sollte, verkündete er bereits 1902 in der anarchistischen Zeitschrift Der arme Teufel. Darin heißt es: „Nolo will ich mich nennen – nolo: Ich will nicht! Nein, ich will in der Tat nicht! Nein, ich will nicht mehr all die unnötigen Leiden sehn, deren die Welt so übervoll ist; mich all den Torheiten fügen, die uns die Freude rauben und das Glück; in all den Ketten hängen, die unsere Füße hindern auszuschreiten und unsere Hände zuzugreifen. Ich will nicht mehr mit ansehen, wie ungerecht und chaotisch des Lebens höchste Güter – Kunst und Wissen, Arbeit und Genuss, Liebe und Erkenntnis – verstreut liegen. Ich will nicht mehr – nolo!“
Dieser Haltung blieb Mühsam durch alle Zeitläufte treu. Sie findet sich bei dem auf Pump durch Europa reisenden Bohemien und Apologeten der „freien Liebe“ nicht weniger, als beim Agitator der frühen Münchner Jahre, der versucht, unter dem Titel „Gruppe Tat“ Zuhälter, Huren und Stricher mit Unmengen Freibier für die Sache der Revolution zu gewinnen. Und nach Beginn des Ersten Weltkriegs, als Mühsam praktisch nicht mehr publizieren kann, verlagert sich sein Engagement vollständig in die konspirativ-politische Sphäre, hin zu „unterirdischen Verbindungen“, wie er es nannte.
Folgerichtig steht er im Herbst 1918 dann auf den Barrikaden, wo er (zumindest nach eigener Behauptung) am 6. November als Erster die Revolution ausruft, zu deren führenden Köpfen er bis zu seiner Verhaftung am 13. April 1919 gehören sollte.
Obgleich der kurze Traum der Münchener Räterepublik inzwischen weitgehend in Vergessenheit geraten ist und den meisten Menschen zu Erich Mühsam wenig mehr einfällt als das lustige Gedicht vom „Revoluzzer“, sind sein Andenken und sein Werk doch bis heute lebendig geblieben. Dabei sind sich selbst besessene Mühsamianer in der Regel einig, dass „der Erich“ weder der weltgrößte Dichter oder Dramatiker noch gar ein brillanter Theoretiker des Anarchismus war.
Was also ist es, das sein Werk so wichtig macht?
Zum einen ist es der Mensch Mühsam, der in jeder Zeile dieses Werkes lebendig wird, der schon zu Lebzeiten eine ungeheure Anziehungskraft entfaltete und dessen bloße Existenz bis heute inspirierend wirkt.
Bereits in jungen Jahren wurde er zum Gesicht erst der Berliner dann der Münchener Boheme, gern fotografierter und karikierter Prototyp des Kaffeehausliteraten und Bürgerschrecks, dabei stets in engem intellektuellen Austausch mit fast allen literarischen Persönlichkeiten seiner Zeit. Man könnte ein Buch füllen mit den schriftlichen Erinnerungen seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen an ihn, die, zuweilen garniert mit einem schmunzelnden „Ach, der Mühsam!“, meist geprägt sind von tiefem Respekt oder Bewunderung für sein Engagement insbesondere für das sogenannte Lumpenproletariat sowie seine konsequent an den eigenen Idealen ausgerichtete Lebensführung.
Der Schriftsteller Martin Andersen Nexö formulierte es so: „Wie die Zukunft aussehen müsse, damit sie allen ein menschliches Dasein böte, wusste Erich Mühsam nicht; in revolutionärer Politik war er ein Kind. Aber unbewusst hatten er und Zenzl sich eine Welt geschaffen, in der man die Luft einer neuen Zeit schon atmete.“
Zum anderen liegt die Bedeutung von Mühsams Werk eben darin, dass hier die Literatur nie Selbstzweck, sondern Ausdrucksform einer klaren politischen Haltung ist, womit Mühsam Anfang des 20. Jahrhunderts allerdings keineswegs allein stand. Es gab eine ganze Reihe linkssozialistischer Zeitschriften, die sich gleichermaßen Literatur und Politik verschrieben hatten, und die Münchener Räterepublik ging nicht zu Unrecht als „Literaten-Revolution“ in die Geschichte ein. Neben Mühsam waren auch Schriftsteller wie Ernst Toller, der Herausgeber der Zeitschrift Der Ziegelbrenner Ret Marut, Oskar Maria Graf und Mühsams eigens aus Berlin angereister Mentor Gustav Landauer daran beteiligt.
Selbst der Lyriker Rainer Maria Rilke versuchte sich in jener Zeit an politischer Prosa. Mit der blutigen Zerschlagung der Räterepublik durch die von der neuen SPD-Regierung in Berlin entsandten Truppen jedoch endete der Einfluss der von Freiheitsgedanken getriebenen Künstler auf die realen politischen Verhältnisse. Landauer wurde bestialisch ermordet.
Marut floh, um wenig später in Mexiko zu B. Traven zu werden. Toller, Mühsam und zeitweilig auch Graf verschwanden hinter Gefängnismauern. Gleichzeitig erhob die neugegründete KPD einen revolutionären Alleinvertretungsanspruch, und ihre von Moskau vorgegebenen Parteidirektiven ließen keinen Raum mehr für anarchistische Poeten.
Als Mühsam im Dezember 1924 aus der Festungshaft entlassen wurde, fand er eine veränderte Welt vor. Die Schnittstelle von Literatur und Politik wurde nun von eher bürgerlichen Autoren wie Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky besetzt, und obwohl er sich bei Proletariat, Subproletariat und politischen Gefangenen weiterhin großer Beliebtheit erfreute, blieben seine anarchistischen Positionen fortan ohne nennenswerten Einfluss auf kulturelle Debatten.
Wie groß Mühsams Verzweiflung über diese politische und intellektuelle Isolation war, belegt sein Aufruf „Wo ist der Ziegelbrenner?“, den er 1927 in Fanal veröffentlichte. Da heißt es: „Weiß keiner der Leser des Fanal, wo der Ziegelbrenner geblieben ist? Ret Marut, Genosse, Freund, Kampfgefährte, Mensch, melde dich, rege dich, gib ein Zeichen, dass du lebst, dass du der Ziegelbrenner geblieben bist, dass dein Herz nicht verbonzt, dein Hirn nicht verkalkt, dein Arm nicht lahm, dein Finger nicht klamm geworden ist.“
Dennoch ist die häufig zu lesende Behauptung, Mühsam habe die Weimarer Republik „nicht verstanden“, falsch.
Richtig ist, dass er sie ablehnte, aber verstanden hat er sie vielleicht besser als die meisten anderen. Für Mühsam war dieses Staatsgebilde nur ein haltloses Konstrukt, ein bizarres Zwischenspiel in einer unvollendeten Revolution, die entweder doch noch abgeschlossen oder andernfalls zwangsläufig durch den Faschismus beendet werden würde. Die Geschichte hat ihm leider recht gegeben.
Wer heute durch Mühsams Zeitschriften Kain und Fanal blättert, auch durch Karl Kraus‘ Fackel oder Ret Maruts Ziegelbrenner, der steht verwundert vor den freien Geistern, die sich darin offenbaren, vor ihrer Selbstgewissheit im Querdenken, ihrer literarischen Formulierungskunst und der Unbestechlichkeit ihrer Überzeugungen gegen alle Widerstände. Mühsam war dabei mit Sicherheit kein so fesselnder Erzähler wie es B. Traven werden sollte, kein so präziser Analytiker wie Kraus. Aber die Begeisterungsfähigkeit, die Liebe und der Zorn, von denen seine Texte durchtränkt sind, haben diese schon zu seinen Lebzeiten einzigartig gemacht und wirken bis heute. Er war kein Theoretiker, sondern Propagandist einer besseren Welt, und in diesem Metier war er unschlagbar, gerade weil er sich keinen Direktiven oder strategischen Erwägungen unterordnen konnte.
Genau daraus bestand seine Glaubwürdigkeit.
Schaut man dagegen auf die aktuelle Literaturlandschaft, die politischen Äußerungen moderner Literaten, die sich – sofern sie überhaupt stattfinden – meist getreulich innerhalb eines staatsbürgerlichen Status quo oder im Rahmen linker Gesinnungsmoden inklusive der zugehörigen sprachlichen Dogmen bewegen, möchte man manchmal ausrufen: „Wo ist Nolo?“
Wesenskern von Mühsams Nolo-Prinzip war es nicht nur, bestehende Systeme zu verneinen, sondern auch, mit allen in Austausch zu treten, deren Engagement auf die Errichtung einer wie auch immer gearteten besseren Welt zielte, und dabei gleichzeitig den eigenen Positionen treu zu bleiben.
Unnötig zu sagen, dass dieser selbstbewusste Ansatz, der noch heute die meisten Menschen überfordert, zu Mühsams Lebzeiten bedeutete, unter dauerhafter existentieller Bedrohung zu leben. So isolierte ihn die KPD während der Festungshaft, nachdem er – als unbeirrbarer Verächter des Parlamentarismus – es abgelehnt hatte, für die Partei zu kandidieren.
Aus dem anarchistischen Spektrum dagegen wurde ihm wegen seiner grundsätzlichen Kontaktbereitschaft zur KPD zeitweilig sogar das Recht aberkannt, sich weiterhin als Anarchist zu bezeichnen. Gleichzeitig konnte seine isolierte Position in der Linken nichts daran ändern, dass er auf den schwarzen Listen der Nationalsozialisten einen prominenten Platz einnahm, folgerichtig am Tag nach dem Reichstagsbrand verhaftet und schließlich nach anderthalbjähriger Folter ermordet wurde.
Mit Erich Mühsams Tod begann für seine Frau Kreszentia (Zenzl) Mühsam ein lebenslanger Kampf um das Andenken ihres Mannes, wobei sie sich als würdige Nachlassverwalterin erwies. Auch sie wurde vom Nazi-Regime verfolgt, und auch sie musste sich Vereinnahmungsversuchen von kommunistischer und Kontaktschuldvorwürfen von anarchistischer Seite erwehren. Mangels Alternativen floh sie schließlich in die Sowjetunion, wo sie wenig später denunziert wurde und Lubjanka, Arbeitslager und Ver-bannung zu überstehen hatte, bevor sie, 19 Jahre später, in die DDR ausreisen durfte.
Dort ertrug sie es stoisch, dass man sie als „unsichere Kantonistin“ unter Aufsicht stellte, hielt sich sogar an die unmenschliche „Empfehlung“, dem Grab ihres Mannes in West-Berlin fernzubleiben und schrieb betont herzliche Briefe an eben jenen Wilhelm Pieck, der sie seinerzeit in Moskau als terroristische „Trotzkistin“ ans Messer geliefert hatte – alles nur, damit Mühsams Werke wieder gedruckt werden konnten. Erst 1962, auf dem Totenbett, gab die achtundsiebzigjährige Zenzl widerstrebend die Urheberrechte aus der Hand.
Vor allen anderen, die sich nach 1945 für Mühsams literarischen Nachlass eingesetzt haben, ist es ihr zu verdanken, dass sein Prinzip Nolo noch heute erfahrbar ist – als Anleitung zum konsequenten Selberdenken und Mutmacher gegen alle gesellschaftlichen und szenedogmatischen Widerstände. Mag man auch nicht mit allen Positionen Erich Mühsams einverstanden sein, die Haltung, die ihnen zugrunde liegt, ist heute so nötig wie damals. So sollten wir diesen Satz verstehen: „Menschen lasst die Toten ruhn / und erfüllt ihr Hoffen!“
Anmerkungen
Markus Liske und Manja Präkels sind Herausgeber des gerade erschienenen Erich Mühsam-Lesebuchs "Das seid ihr Hunde wert!", Verbrecher Verlag Berlin, ISBN 978-3-943167-84-9. Mit ihrer Band DER SINGENDE TRESEN haben sie einige der Texte neu vertont. Die CD "Mühsam-Blues" erscheint zum Todestag des Dichters auf Setalight Records.