gewaltfreiheit

Games people play

Heute: Krieg, Folter, Arbeit. Einige Thesen

| Johann Bauer

Natürlich sind soziale Situationen verhaltensbestimmend, nicht Medien. Wenn nach jugendlichen Gewalttaten, etwa Amokläufen besorgte PädagogInnen behaupten, Tat-Ursachen im Medienkonsum gefunden zu haben, sollen häufig nur Familie, Schule, Vereine, Betriebe entlastet werden. Aber wir alle wissen auch, dass es Bilder gibt, die uns nicht mehr in Ruhe lassen (Bilder des Schreckens haben viele PazifistInnen, WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen bewegt, gegen Gewalt zu kämpfen), Bilder, Redeweisen und Handlungs-Skripte, die sich einprägen, die auch Verhaltensmodelle liefern, auf die unter Umständen zurückgegriffen werden kann.

Dies wird vor allem gesichert durch realistische Ablaufschemata, in denen BetrachterInnen und SpielerInnen sofort Bewegungsabläufe und Handlungen, die auf Handlungen reagieren, wiedererkennen. Die Botschaften solcher Videos können nur konkret diskutiert und begriffen werden (2).

Auffällig ist aber, dass viele in einer Kriegs-Umwelt spielen und Gewalt Teil der Lösung, so gut wie nie Teil des Problems ist.

Spiele sind – ganz im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Sicht – nie „nur“ ein Spiel. Oft ist heiliger Ernst im Spiel. (3)

Medien sind – besonders wenn sie von Gruppen Gleichaltriger konsumiert und besprochen werden – eine wichtige Sozialisationsinstanz, die familiäre, schulische oder berufliche Bindungen in den Hintergrund drängen können und für die Selbstfindung und Orientierung vieler Menschen eine wachsende Rolle spielen, je nach sozialen Klassen und Milieus unterschiedliche Medien mit verschiedenen Intensitäten der Nutzung. Aber als Formen, sich abzugrenzen – gegen die Elterngeneration oder andere Subkulturen – erfüllen solche Medien starke Bedürfnisse.

Dabei ist die Mediennutzung nie nur Konsum (4), sondern immer interaktiv, produktiv, ganz besonders aber wenn es sich um Spiele handelt, die von vorneherein auf Interaktion mit MitspielerInnen und Technik angelegt sind. Aber auch diese Interaktion ist nicht beliebig, offen, sondern sie folgt vorgegebenen Skripts, die aktiv angeeignet werden müssen. Genau dadurch entsprechen sie dem gesellschaftlichen Rollenspiel und bilden so eine realistische Trainingsbasis.

Ich finde empirisch plausibel, was Tilo Hartmann zusammenfassend als kurzfristige Wirkungen von Computerspielen mitteilt:

„Sie (diese Praxis von Computerspielen J.B.) erhöht die Abrufbarkeit aggressiver Gedanken, Überzeugungen und Vorstellungen (Priming), sie schürt aggressive Emotionen wie Wut und Ärger und sie erhöht die Erregung (Arousal), welche wiederum als Risikofaktor von Aggression bekannt ist, zum Beispiel von impulsiver Gewalt.

(…). Den Studien zufolge neigen Personen nach der Nutzung gewalthaltiger Computerspiele zum Beispiel verstärkt dazu, mehrdeutige Situation (etwa ein versehentliches Anrempeln im Bus) als absichtliches und feindseliges Verhalten zu interpretieren („Feindseliger Attributionsstil“). Sie sind zudem (ohne sich dessen bewusst zu sein) eher der Überzeugung, dass andere Personen Probleme und Konflikte mit Gewalt lösen werden („Feindselige Erwartungen“). Die Neigung, im Labor bei anderen Menschen Schmerz auszulösen (z. B. durch einen sehr lauten Ton), ist nach der Nutzung eines gewalthaltigen Computerspiels ebenfalls deutlich erhöht. Gleichzeitig nimmt kurzfristig das empathische Einfühlungsvermögen ab, sowie die daran geknüpfte Bereitschaft, anderen Menschen, die in Bedrängnis sind, zu helfen. Zwar sind Wissenschaftler nie zu hundert Prozent einer Meinung, im Falle von gewalthaltigen Computerspielen ist aber eine große Mehrheit überzeugt, dass diese die Aggression kurzfristig erhöhen (…).“

Zu den langfristigen Wirkungen, die sehr von persönlich-biographischen wie gesellschaftlichen Bedingungen abhängig sind, fasst er Forschungsergebnisse so zusammen:

„Demnach erhöht die wiederholte Nutzung gewalthaltiger Computerspiele längerfristig die Tendenz von Personen, die Welt als feindselig zu betrachten, indem aggressive Überzeugungen erlernt werden (z.B. „Viele Menschen sind hinterhältig“), erhöht sie das Wissen über Abläufe von Gewalthandlungen (so genannte Skripts), das in entsprechenden Situationen zudem leichter abrufbar und verfügbar ist und somit verstärkt zur Anwendung kommt, führt sie zu einer positiveren Einstellung gegenüber Gewaltanwendung (Gewalt wird als effektiv betrachtet), vermindert sie die natürliche Empfindlichkeit gegenüber beobachteter und selbst ausgetragener Gewalt (…)“. (5)

Die Spiele könnten gar nicht „funktionieren“, wenn sie nicht auch widersprüchliche Inhalte und Emotionen aufnehmen könnten. Deshalb kann es auch keine einfache Kritik solcher Spiele geben, die für alle Spiele oder alle KonsumentInnen/ProduzentInnen gilt. Die Spiele wirken perspektivisch am besten, wenn die Charaktere nicht zu simpel-mechanisch angelegt sind, wenn tatsächliche Konflikt-Situationen dargestellt werden, Chancen für Entscheidungen und Selbst-Erkenntnis bestehen.

Besonders für männliche Jugendliche ist wichtig, dass solche Games, ihre rebellischen, wütenden Regungen aufnehmen, die verfilmte Staatsräson sich an ihrem Gegenpol bereichert. Dazu gehört etwa auch Kritik an ineffizienten Strukturen, engstirnigen Vorgesetzten oder gegeneinander Arbeitenden.

Gewalt in diesen Spielen dient nicht nur der Erzeugung von Spannung, emotionaler Aufmerksamkeit, sie kann auch reale Ängste und Bedrohungssituationen thematisieren.

Es ist schon an den Perspektiven und Bildausschnitten oft erkennbar: Von außen, durch ein Zielfernrohr, wird eine Szene beobachtet – und dann mit tödlicher Gewalt zugeschlagen. Vor allem: Gewalt heilt die Wunden, die sie selbst geschlagen hat. Gewalt, die straffreie virtuelle auch, kann der Ohnmacht, der kalten, profanen, durchrationalisierten Ordnung eine Ekstase und Transzendenz des Erlebens entgegenstellen, die helfen, sich stark zu fühlen. In einer Gruppe ist die Mischung von verschiedenen Motiven der Identitätssuche besonders wirksam: „Sich zeigen“, anerkannt werden, Geschicklichkeit oder Härte demonstrieren, die Einsamkeit überwinden …

Die erlebte Ohnmacht muss durch eine phantasierte Macht kompensiert werden, dazu eignen sich Spiele, in denen Gefangene gefoltert und ahnungslose Opfer „ausgeschaltet“ werden, ganz wie im richtigen Leben. Aber das geschieht – im richtigen Leben – in gesellschaftlichen Situationen, die als „Ausnahmezustand“ gerahmt sind. An der japanischen Gesellschaft kann studiert werden, wie über lange Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung rigide soziale Kontrolle, stark normierte Höflichkeit, Zurückhaltung, eine Schamkultur (6), in der die Wahrung des Gesichts einen hohen Wert hat, niedrige Kriminalitätsraten typisch sind, einhergehen mit einer Bildkultur exzessiver Gewalt in Filmen, Comics, Pornographie. Die japanische Gesellschaft kann sich aber auch im Krieg als extrem grausam, imperialistisch, versklavend zeigen, wie im Zweiten Weltkrieg. Gerade wird diese Tradition, von der sich die dominanten Klassen Japans nie gründlich distanziert haben – die Tausenden in die Prostitution versklavten koreanischen „Trostfrauen“ werden nicht bedauert – wieder aufgerufen mit Abes Besuch des Yasukuni-Schreins und martialischen Reden.

Die Gewalt ist also über weite Phasen latent, konserviert, kann aber staatlich abgerufen werden, wenn „Ausnahmezustand“ deklariert ist oder in verheerten Räumen außerhalb des eigenen Staatsgebiets und dies als Staatsräson gerechtfertigt wird. Auch die NS-Moral, die Himmlersche „Anständigkeit“ befasst sich mit dem Problem, wie exzessive Gewalt daran gehindert wird, auf die eigene Gesellschaft und das eigene Selbstbild zurückschlagen.

Deshalb ist die direkte Rückwirkung auch von gewalthaltigen Spielen auf das Verhalten nur in Ausnahmesituationen wahrscheinlich, z.B., wenn also familiäre und schulische Konflikte schon weit eskaliert sind. Vor allem: Wenn es eine staatliche Legitimation gibt!

Es ist – jenseits der bei Hartmann diskutierten psychologischen Wirkungen – mehr die Verbreitung einer allgemeinen gesellschaftlichen Legitimation von Gewalt als eine direkte Wirkung auf die SpielerInnen. Gerade unter den „Gamern“ sind viele, die im Alltag eher zurückhaltend sind, schüchtern, sympathisch, nicht die Draufgänger mit den abgenutzten Ellenbogen. Und auch die Berufe, die sie dann wählen sind nicht etwa im Gewalt- und Repressionsgewerbe angesiedelt. Wenn aber die erlittene Gewalt so verarbeitet wird, dass wieder nur Gewalt der gedankliche und emotionale Ausweg ist, so ist auch das langfristig bedenklich.

II. Die militärischen und kommerziellen Ursprünge der weltweiten virtuellen Spiele

„Aber noch niemandem ist es gelungen, ein Epos des Friedens anzustimmen. Was ist denn am Frieden, dass er nicht auf die Dauer begeistert und dass sich von ihm kaum erzählen lässt?“ (7)

Es wären auch Spiele vorstellbar, die Szenen aus der Bürgerrechtsbewegung der USA oder den indischen gewaltlosen Kämpfen thematisieren, gewaltlose Massenproteste in Konfrontation mit Polizei, Armee, Schlägern. Die spannende Frage: Flüchten oder Standhalten … Sogar Alltagskonflikte: Ich werde Zeuge eines Unrechts, muss ich eingreifen, wie gefährlich kann das für mich werden, welche verschiedenen Formen des Einschreitens stehen mir zur Verfügung. Auch dies ließe sich so inszenieren, dass das spannend ist, reale Probleme und Dilemmata besprochen werden könnten.

Und solche Spiele zu entwerfen wäre m.E. auch eine kreative Aufgabe und wichtig für eine Kultur der Gewaltlosigkeit.

Denn eine Produktion kann nicht durch bloße Kritik, sondern letztlich nur durch eine andere Produktion abgelöst werden. Grausame Bilder und einprägsame Handlungsabläufe können nur durch andere Bilder und alternative Skripte der Verweigerung überschrieben werden (die religiös sozialisierten LeserInnen erinnern sich bitte, welche Unterschiede es macht, ob über die Folterbilder des Hl. Sebastian oder den gegrillten Märtyrer Laurentius meditiert wird oder etwa über Franziskus…).

Statt dessen eine letztlich ungeheuer öde Szenerie, in der immer schon feststeht, dass Gewalt die Lösung ist, dass die Auswahl nur zwischen verschiedenen Gewaltoptionen und -Legitimationen besteht, aber keine grundsätzlichen Alternativen möglich sind. Diese thematische und reich bebilderte Engführung wird man mit den Ursprüngen der Spiele im militärischen Training und den Interessen und ideologischen Obsessionen der Hersteller dieser Spiele in Verbindung bringen müssen. Dazu gehört, dass die virtuellen Waffensysteme häufig eine verteufelte Ähnlichkeit mit ganz realen Waffen haben (8). Software-Unternehmen entwerfen Spiele für einen Massenmarkt und Trainingssoftware für die Armee. Und die Bilder vom Feind sind ebenfalls „realistisch“, denn es sind die altbekannten Feinde.

Die Ästhetisierung einer aggressiven Politik, die hier stattfindet, kann auf ein großes Bildrepertoire aus Hollywoodfilmen und Comics zurückgreifen, hat aber noch eine Tiefenschicht in unserer Kultur, wo überwältigende Gewalt immer schon sakralisiert wird oder in der bürgerlichen Ästhetik „das Erhabene“ darstellt. (9)

Virtuelle Gewalt als sakrale Gewalt

Wenn man verschiedene Szenen in gewalthaltigen Spielen betrachtet, fallen quasi-religiöse Motive auf.

Wenn früher das „Auge Gottes“, das alles sieht, beobachtet, aufzeichnet und die tötende göttliche Macht im Zentrum religiöser Vorstellungen standen, so reaktiviert modernste Technik diese sakrale Gewalt: Thors Hammer kann heute durch eine Bombe oder eine Drohne zuschlagen. Allmachtsphantasien waren selten so gesättigt mit Realität, denn die technische Entwicklung hat ja archaische Träume einmal mehr – gebaut. Die Selbstvergottung des Ego-Shooters ruft den Kriegsgott Mars auf. Ganz besonders fällt als „Auge Gottes“ immer der Blick durch Zielfernrohre auf.

III. Und wenn doch der Amokläufer das Symbol unserer Epoche wäre? (10)

Es ist die Enge, Fassbinder zeigt das in seinem Film „Warum läuft Herr R. Amok?“, und seitdem sind enge Verhältnisse nicht seltener geworden, nur anders eng. Ein vollkommen berechnender und berechenbarer Mensch, der logische Endpunkt einer Geschichte der Verdinglichung, wird zunehmend realisiert; die „stählernen Gehäuse der Hörigkeit“ mögen bunt und klimatisiert sein, flexibel, die BewohnerInnen ebenso locker, strahlend, modern…

Das Angestellten-Milieu, wie es etwa in populären Fernsehserien a la „Stromberg“ vermenschlicht und verharmlost wird, ist tatsächlich ein Depot von Hass-Gefühlen, Missgunst, Schadenfreude, natürlich alles sozialstaatlich und kommunikativ eingehegt.

Zum „Mobbing“ werden Fortbildungen angeboten, die Praktiken verfeinern sich immer weiter, die Alltags-Mischung aus Druck und öder Langeweile braucht den Klatsch, die kleinen Sticheleien, die üble Nachrede, der schon Blicke, Gesten, leise Andeutungen genügen, um andere zu diskreditieren.

Gekonnt ist gekonnt. Und zur Entspannung: Moorhuhnjagd. Ganze Familien und Generationen von BüroarbeiterInnen geben solche sozialen Kompetenzen weiter, jede Miene ist einstudiert, geschicktes Fragen und Antworten, kleine Andeutungen, Schnippigkeiten, andere auflaufen lassen, abblocken, Allianzen bilden und sich neu orientieren … Aber das kann doch nicht alles sein. Auch und gerade aus den Wohlanständigen und gut Angepassten rekrutiert sich der Hooliganismus. Wo viel Selbstmarketing getrieben wird, muss auch viel heiße Luft abgelassen werden. Der Büro-Heckenschütze träumt sich in die Sniper-Alley. Er kämpft sich durch von Haus zu Haus, von Raum zu Raum. Hinter jeder Tür kann der Tod lauern, an jeder Biegung wartet der Feind. Wenn seine Zeit gekommen ist, hat er schon trainiert.

Oder man fürchtet den Zusammenbruch, Survival-Situationen und will gerüstet sein?

Unterschwellige Ängste, die sich nicht zu Unrecht an die Banken- und Euro-Rettungsschirme knüpfen und voller Sorge nach Griechenland blicken. Schon vor einigen Jahren verzeichnete der Buchmarkt große Nachfrage nach Survival-Ratgebern, die Tipps für ein Leben in der Wildnis, für Selbstverteidigung und Überleben unter dem Ausnahmezustand boten.

Der Neoliberalismus und sein „mobilisierender Staat“ machen die Einzelnen zu „Soldiers of Fortune“, Söldner des eigenen Glücks, Soldaten deshalb, weil sie nicht ohne Disziplin, Training, Fitness, angemessene Ausrüstung auskommen … das alte Arbeiter/Soldaten-Modell wird nicht vollständig abgelöst, es sind prägend aber nicht mehr die Massenheere relativ unqualifizierter Rekruten (der einfachen Massenarbeiter), sondern Spezial-Kommandos, Projektgruppen, Stabsstellen, Techno-Einheiten qualifizierter SpezialistInnen. Sie werden nicht mehr eingezogen und nach einiger Zeit wieder entlassen, sondern ihre Identität besteht nun aus „Karriere“, es gibt kein Jenseits der Mauern mehr, keine Trennung: Arbeit-Freizeit, zivil-militärisch …

Die Abschaffung der Allgemeinen Wehrpflicht ist der militärische Ausdruck dieser Tendenzen: Qualität statt Quantität, Investitionen in komplizierte und teure Technik, deren Bedienung nicht beliebigen Rekruten überlassen werden kann, statt dessen mehr Geld für hochmotivierte Leute, die nicht an „die Zeit danach“ denken sollen, sondern ganz in ihrer Aufgabe aufgehen …

IV. Die Gamifizierung der Welt

Schon immer kann man die Entwicklung des Kapitalismus auch so beschreiben: Wie im Krieg, so auch bei der Arbeit. Früher wurde das Befehls-Gehorsams-Schema ebenso übertragen wie die Kasernierung; die Fabrikdisziplin war der Armee abgeschaut – und noch in den ersten Schulen der Nationalstaaten waren frühere Unteroffiziere die Volksschullehrer und der Drill die Unterrichtspraxis. In Grand Theft Auto V findet diese Praxis ein spätes Echo: Zum „Waterboarding“ sagt der Folterer: „Den Scheiß machen sie bald schon in der Grundschule, es ist legal!“

Staat und Krieg bildeten auch für die Beschleunigung (11), veränderte Zeitpraktiken der modernen Gesellschaften immer neu wesentliche Impulse: Das große Thema ist Vereinheitlichung: „Die Durchsetzung einheitlicher Landessprachen, Währungen, Zeitzonen, Bildungssysteme, Gesetzeslagen, Verwaltungssysteme, Abgabepflichten, Infrastrukturen und zentralisierter Steuerorgane erwies sich vor allem durch den damit einhergehenden Abbau innerstaatlicher Übersetzungs- und Transaktionshindernisse als ungeheurer Entwicklungs- und Zirkulationsbeschleuniger …“ (12) Herrschaft durch überlegene Geschwindigkeit ist ein uraltes Motiv, in der Neuzeit durch den bürokratischen Verwaltungsapparat und die Entwicklung der Militärtechnik immer effektiver ausgebaut bis zu Interkontinentalraketen, Tarnkappenbombern und einer totalen Mobilmachung der nationalstaatlichen Bevölkerungen. „Die Beschleunigung des Lebenstempos in der Moderne (ist) ganz wesentlich eine militärische Leistung.“ (13) Denn schon das Kommando-Prinzip, Hierarchie, „Beschleunigung der Informationsübermittlung durch die konsequente Ausschaltung nicht-informationstragender Kommunikationsbestandteile …“ (S. 318)

Das letzte militärische Instrument, dessen Wirkung eine ungeheure Beschleunigung der gesellschaftlichen Verhältnisse bildet, ist das Internet, es war aber gerade schon als Versuch einer Entschleunigung des Krieges entstanden, sollten die Automatismen der Vernichtung umgehen: „Das ‚Arpanet‘ als Urform des Internet war eine Erfindung des US-Verteidigungsministeriums, um im Falle eines (sowjetischen) Atomangriffs durch Zerstreuung und De-Zentrierung der Kommunikationseinrichtungen zu verhindern, dass die amerikanischen Informationssysteme auf einen Schlag ausgeschaltet werden konnten.“ (14)

Eine Beschleunigung geht heute nicht mehr von staatlich-militärischen Strukturen aus, sondern von deren De-Regulierung; also gibt es auch keine Normalbiographien mehr und damit ist persönliche Identität prekär geworden.

Heute zeigt weniger die Armee als die Spieleindustrie in die Zukunft: Die Egoshooter verbringen oft Tage vor den Konsolen, um in den Ranglisten aufzusteigen, hoffend dass man eine neue Waffe freigeschaltet bekommt, dass man gerade Zugang zum Spiel hat, wenn der Zufallsgenerator einem eine neue Waffe zuteilt, alles ganz wie im richtigen Leben. Auch die verschiedenen Levels („meine Spielklasse“ ; „spielt in einer anderen Liga“ sagen die Ekelpakete), Ranglisten, Punktesysteme sollen „Leistung“ darstellen. Neben dem Sport, der noch aus dem Industrialismus in die Zukunft ragt, bilden die Spiele Massenmedien mit Milliardenumsätzen. Und es ist nicht nur so, dass in den Spielen Realität etwas durch „authentische“ Waffen abgebildet wird, es werden auch die Autos aus „Grand Theft Auto“ gebaut!

So wird auch für die „Industrie 4.0“ über eine „Gamification“ des Arbeitslebens spekuliert. Die schöne neue Arbeitswelt ist zunehmend dadurch gekennzeichnet, dass Maschinen Menschen überwachen, die Maschinen überwachen.

Das kann schnell langweilig werden. So propagiert etwa Jörg Niesenhaus, der früher Computerspiele entwickelte und heute Manager ist, dieses Konzept:

„Menschen, die nach einer aufwendigen und teuren Ausbildung allein mit der Überwachung von Computerbildschirmen beschäftigt sind, müssen anders motiviert werden als klassische IndustriearbeiterInnen. Mit dem richtigen Wissen könne man Menschen in moderner Akkord-Arbeit in Flow-Zustände versetzen, über Wettkämpfe am modernen Fließband Ablenkung herbeiführen und Ziele formulieren oder mit einem Punktesystem Anreize für Fleiß schaffen. Am Beispiel eines Disney-Freizeitparks zeigte Niesenhaus die vermeintlichen Vorzüge: Wenn die Arbeit der Reinigungskräfte in Hotels zum Vergleich auf einer Leinwand angezeigt wird, arbeiten Menschen schneller. In einem Fall arbeitete eine Schwangere bis zur völligen Erschöpfung.“ (15)

Der Psychologe Ibrahim Mazari teilt die Spieler in „Achiver, Killer, Socializer und Explorer“ ein; die „Gamifizierung“ ermöglicht es Menschen „Reputation zu erringen, Gemeinschaften zu finden, Spannungsbögen zu erleben, erreichte Ziele als Eigenleistung zu deuten (!) und Geschichten zu erleben.“ (16)

Bisher schon eingeführt sind solche Strategien vor allem im Marketing. Einen Anwendungsfall hat McDonalds geliefert: In einer Kampagne ließ man Kunden einen Burger entwerfen, der dann ins McDonalds-Angebot aufgenommen wurde.

Aber auch in der Produktion sind den Ranglisten, Fortschrittsbalken („So entsteht Transparenz in der Erfüllung einer Teil- oder Gesamtaufgabe, ein zentrales Element der Motivation“ kommentiert dies Wikipedia) (17), spieltypischen Situationen keine prinzipiellen Grenzen gesetzt.

So könne das unternehmerische Ziel zu einem persönlichen der einzelnen Mitarbeiter werden, alles gehe nur über Anreize, vor allem „Jagen und Sammeln, heute vor Publikum“, also nicht mehr über Repression, die nur unnötigen Widerstand hervorruft.

V. Vorab-Militarisierung

Gibt es einen militärisch-unterhaltenden Komplex? (18) Die Vorteile für beide Seiten sind offensichtlich: Realistische Szenarien für die Spieler; Dual Use der Technologien für militärische Simulation des Kampfgeschehens und im Spielemarkt, mögliche Legitimationsbeschaffung für Kriege durch spielerisch hergestellte Identifikation mit den „eigenen“ Soldaten, vielleicht sogar eine Heranführung Jugendlicher an das Berufsbild „Soldat“ mit der Hoffnung auf Rekrutierung der begeisterten Spieler.

So verwundert es nicht, dass es besonders in den USA seit 40 Jahren zwischen Universitäten, Pentagon, CIA und Industrie gemeinsame Projekte gab. (19)

Besonders für männliche Jugendliche sind die gewalthaltigen Computerspiele attraktiv. Das hat sicherlich damit zu tun, dass „Männlichkeit“ traditionell einen hohen Anteil von Gewalt, Drohung mit Gewalt enthält, körpersprachlich, in der Redeweise, vor allem aber ganz real: Mit der Gewaltanwendung waren Männer betraut – und Männlichkeit ist geradezu definiert durch die Fähigkeit zur Gewalt.

In vielen gesellschaftlichen Zusammenhängen wird diese Koppelung heute in Frage gestellt; die Erziehung durch Frauen, die Erfolge feministischer Bewegungen, die abnehmende gesellschaftliche Notwendigkeit von physischer Stärke … führen zu einer Entwertung des alten Dominanzmodells.

Dieses ist aber gleichzeitig in vielen gesellschaftlichen Situationen und in den Massenmedien, im Sport, präsent und mit Erfolg, Stärke, Stabilität assoziiert. Von dieser Grundkonstellation aus ist leicht zu begreifen, dass es befriedigend und ver-eindeutigend besonders für männliche Jugendliche sein kann, wenn sie Rollen spielen können, in denen sie Sieger sind, die Ambivalenzen und Verletzungen und realen Peinlichkeiten unter einem Kult bewaffneter Männlichkeit begraben werden.

Hier setzt das Rekrutierungsinteresse der Staaten an. Gerade wenn nicht mehr alle männlichen Jugendlichen der allgemeinen Wehrpflicht unterliegen, ist es desto wichtiger, dass die Gesellschaft die Armee und militärische Interventionen akzeptiert, dass Werte und Verhaltensweisen der soldatischen Kultur anerkannt werden.

In vielen gesellschaftlichen Bereichen sind Verhaltenstile und Normen entstanden, die den traditionell militärischen männerbündischen entgegengesetzt sind, aber nicht ohne Ambivalenzen. Neben dem Sport ist die Spieleindustrie die erfolgversprechendste Rekrutierungsbasis für das Militär. Hier sind die größten Affinitäten und „Kompetenzen“ für „militärische Lösungen“, die gesellschaftlichen Reserven für den Krieg.

Letztlich mündet das individuelle Bestreben, sogar das, sich gerade abzusondern und abzugrenzen, wieder in das große Spiel der verwalteten Welt.

(1) Titel: Oft ärgere ich mich über unnötige Anspielungen auf englischsprachige Texte und Anglizismen in Texten, es ist aber hier die Rede von Verhältnissen, die sich selbst oft in solchen bizarren Wendungen beschreiben, so dass die Übernahme solcher Selbstbezichtigungen etwas Entlarvendes haben kann: Die "Gamification-Full-Service-Agentur" des Roman Rackwitz kann ein Satiriker nicht schöner erfinden, und was wäre die deutschsprachige Bezeichnung: Anstalt zur rückstandsfreien Spielifizierung?

(3) Johan Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Hamburg 1956, benennt die sakralen, kriegerischen, politischen Dimensionen des Spiels.

Für die Computerspiele stellt Rune Ottosen fest, dass die Gewalttätigkeit der Spielinhalte mit der Qualität der Spiele zunimmt und die Darstellungen durch "motion capture", eine Technik, mit der Kampfkunst gefilmt und die Filme dann digitalisiert wurden, zunehmend realistischer wirken. (Ottosen, Rune: Computerspiele als Instrument der Kriegspropaganda, in: Wissenschaft und Frieden 2012,1 (Dossier Nr. 69: Computerspiele). Er referiert Steven Poole: Die militärische Logik und die Logik der Spiele sind sich ähnlich und berichtet mit Evan Wright aus Erfahrungen des Irakkrieges, dass Soldaten, die Computerspiele spielten, schießwütiger seien.

(4) Aber als Konsumgut ökonomisch erfolgreich: "Der Umsatz mit Computer- und Videospielsoftware in Deutschland betrug 2011 insgesamt 1,99 Milliarden Euro. Mit einem Anteil von 1,57 Milliarden Euro macht der klassische Verkauf von Spielen auf Datenträgern und per Download (inklusive Games für mobile Konsolen, Handys und Smartphones) noch immer den Großteil der Einnahmen aus. Neuere Geschäftsmodelle wie Gebühren für Abonnements und Premium-Accounts (Online- und Browser-Games) oder Ausgaben für Spielerweiterungen und zusätzliche Items (virtuelle Zusatzinhalte) machen insgesamt etwa 21 Prozent am Gesamtumsatz aus" (diese und weitere Statistiken findet man unter www.biu-online.de/de/fakten/marktzahlen/marktvolumen.html). Besonders in der Jugendkultur nimmt die Bedeutung interaktiver Spiele zu. Zeitungen und andere traditionelle Medien werden von vielen Jugendlichen nicht mehr genutzt, so dass deren Weltbild und politische Bildung zunehmend durch Spiele und Unterhaltung der Privatsender geprägt wird.

(5) Hartmann, Tilo: Machen Computerspiele gewalttätig? www.bpb.de/gesellschaft/medien/verbotene-spiele/63504/einstieg-in-die-debatte?p=all

(6) Benedict, Ruth: Chrysantheme und Schwert. Formen der japanischen Kultur. Frankfurt a.M. 2006

(7) Gedankenstimme Homer bei Wim Wenders/Peter Handke: Der Himmel über Berlin, im Filmbuch (Frankfurt a.M. 1987) S. 57

(8) Beispiele bei Michael Schulze von Glaßer: Krieg aus Bits und Bytes in: Wissenschaft und Frieden 2012,1 (Dossier 69: Computerspiele)

(9) Lesenswert: Nieraad, Jürgen: Die Spur der Gewalt. Zur Geschichte des Schrecklichen in der Literatur und ihrer Theorie. Lüneburg 1994. Besprochen in Graswurzelrevolution 191 (1994). Und haben nicht Krieg und Kino immer schon ein symbiotisches Verhältnis unterhalten: Virilio, Paul: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung. Frankfurt a.M. 1991

(10) Diese Vermutung haben Stanley Cohen / Laurie Taylor in ihrem Buch Ausbruchsversuche: Identität und Widerstand in der modernen Lebenswelt. Frankfurt a.M. 1977 bereits veröffentlicht, eher die Zeit von Antonionis "Zabriskie Point" als unsere.

(11) Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a.M. 2005, besonders S. 311ff.

(12) ebenda S. 312

(13) ebenda S. 318

(14) ebenda S.322

(15) Schulz, Stefan: Das ganze Arbeitsleben ist ein Quiz, und wir sind nur die Kandidaten. FAZ vom 12.02.2014

(16) ebenda

(17) http://wikipedia.org/wiki/gamification (gesehen 12.02.2014)

(18) Rune Ottosen (a.a.O.) erwähnt, dass Robin Anderson diesen Begriff für die Symbiose von Pentagon und Firmen der Spieleindustrie.

(19) Vgl. Ottosen und die dort angeführte Literatur zu Einzelheiten

Anmerkungen

PS: Auch dieses war eigentlich ein "Concert for Anarchy"-Beitrag:

http://en.wikipedia.org/wiki/Games_People_Play_%28Joe_South_song%29
http://www.youtube.com/watch?v=WeWSRbW4uNM