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Die Landrechtbewegung in Indien unter Modi

Kreativer Widerstand vor Ort und internationale Vernetzung

Rajagopal P. V., Gründer der mittlerweile in zahlreichen indischen Staaten erfolgreich tätigen Landrechtbewegung, stellte dar, dass auch heute noch 65 Prozent der Bevölkerung auf dem Lande leben und etwa 40 Prozent der indischen Gesamtbevölkerung als Adivasis (Ureinwohner, 8 %), Dalits („Unberührbare“, 20 %), Nomaden (11 %) und Fischer (2 %) von Landraub betroffen sind und in ihrer Existenz bedroht werden.

Der Fußmarsch als gewaltfreie Intervention

Bereits vor über zwanzig Jahren erweckte Rajagopal mit dem Fußmarsch von Dorf zu Dorf eine alte gandhianische Vorgehensweise zu neuer Popularität (1). Sie ermöglicht es den Wandernden, einerseits die Lebenswirklichkeit der DorfbewohnerInnen zu verstehen und andererseits den DorfbewohnerInnen, Informationen aus anderen Gebieten zu bekommen und sich mit Nachbargemeinschaften zusammenzuschließen.

Da sich durch den Landraub großer internationaler Konzerne die Situation massiv zugespitzt hat, war es notwendig, die Kräfte der Landlosen zu bündeln und erhöhten Druck auf die Regierung auszuüben, damit jede Familie ein Stück Land und somit eine Überlebensmöglichkeit erhält.

2007 marschierten 25.000 Menschen 400 km bei sengender Hitze nach Delhi. 2012 waren es fast Einhunderttausend (2).

Nicht nur die Durchführung dieser Märsche war eine Meisterleistung in Selbstorganisation, sondern auch die Vorbereitung hierfür: Die armen Familien legten jahrelang jeden Tag eine Rupie pro Tag zurück, um den teuren Anfahrtsweg per Bahn für ein Familienmitglied zu finanzieren. Und jeden Tag eine Hand voll Reis, damit die Daheimgebliebenen nicht verhungerten.

Auch auf dieser Tagung betonte Rajagopal die Kraft der Armen, die entbehrungsreiche Märsche mit nur einer Mahlzeit am Tag mit Übernachtungen unter freien Himmel direkt neben einer vielbefahrenen Autobahn auf sich nehmen können.

Der Marsch der Hunderttausend im Jahr 2012 endete mit einem 10-Punkte-Vertrag mit der Regierung, der außer Landtiteln für 3,5 Millionen InderInnen weitreichende Verbesserungen innerhalb definierter Fristen vorsieht. Ein großer Erfolg. Aber bei fast einer halben Milliarde bedrohter Menschen eben nur ein Anfang.

Aus diesem Grund bildet Ekta Parishad Tausende von AktivistInnen aus, die in den Dörfern den Bau von Schulen und Brunnen anregen, bei Streitigkeiten mit Regierung und Forstbehörden eingreifen, in Landfragen beraten, ökologische und ökonomische Impulse für die Selbstversorgung geben, die Frauenemanzipation unterstützen, kulturelle Aktivitäten initiieren und die regionale Vernetzung fördern – ein umfangreiches Tätigkeitsfeld.

Wenn es beispielsweise um die Auseinandersetzung mit mafiösen Strukturen, Zwangsarbeit, feudalen Grundherren und Kastenunterdrückung geht, riskieren die AktivistInnen Gefängnisstrafen oder gar ihr Leben zu verlieren. Trotzdem ist die Anzahl der Mitglieder von Ekta Parishad auf etwa eine halbe Million angewachsen.

Die Situation unter Modi

Nach dem Sieg der hindunationalistischen Indischen Volkspartei (BJP) bei der Parlamentswahl im Mai 2014 befürchten viele BeobachterInnen einen Rechtsruck in der indischen Politik. taz (3) und analyse & kritik (4) zitierten zustimmend die Aussage des politischen Psychologen und Soziologen Ashis Nandy aus dem Jahr 2006, dass Modi „einen klassischen klinischen Fall eines Faschisten darstellt“.

Auf der Veranstaltung in Köln wurde Rajagopal von TeilnehmerInnen besorgt gefragt, wie die Arbeit von Ekta Parishad unter dem neuen Ministerpräsidenten Modi aussehen könnte.

Zum Erstaunen einiger Anwesender führte Rajagopal aus, dass seiner Meinung nach der neue Ministerpräsident Modi zwei verschiedene Gesichter hat. Einerseits vertrete Modi als „Modernisierer“ eher die Interessen der Konzerne und sei Nationalist. Andererseits entstamme er keiner reichen Familie (wie etwa das Führungspersonal der ehemals regierenden Kongresspartei), sondern komme aus armen Verhältnissen. Er habe sich mühsam hocharbeiten müssen und am eigenen Leib erfahren, was es heißt, ganz unten zu sein.

Es kommt nach Rajagopal jetzt darauf an, Modi an seine Herkunft zu erinnern und ihn zu überzeugen, bestimmte Maßnahmen zu Gunsten der Landlosen und Armen zu ergreifen. Es gehe jetzt darum, seine „positive“ Seite zum Klingen zu bringen und zu bestärken – ein klassischer gandhianischer Ansatz.

Bei dem Marsch der Hunderttausend 2012 war noch die damals regierende Kongresspartei der Ansprechpartner der Landlosenbewegung. Die BJP Modis befand sich in der Opposition, besuchte während der einzelnen Etappen des Marsches die Vertreter von Ektar Parishad und biederte sich ihnen vermutlich aus opportunistischen Gründen an. Das heißt, die Landlosenbewegung trifft jetzt auf der neuen Regierungsseite „alte Bekannte“ wieder, die sie an ihre Unterstützungsbekundungen erinnern kann.

Als erfahrener Initiator vieler Kampagnen und Aktionen weiß Rajagopal, dass PolitikerInnen nicht gerne an vergangene Wahlversprechen erinnert werden wollen. Er ist nicht im negativen Sinne des Wortes „naiv“, sondern begeistert mit seinem Optimismus viele Menschen, die sonst verzweifeln würden. Wer hätte z.B. vor 90 Jahren gedacht, dass Gandhi und seine AnhängerInnen das mächtige britische Empire zum Rückzug aus Indien bewegen könnten? Ohne Optimismus geht es nicht.

Statt gebannt wie ein Kaninchen auf die Schlange Modi zu starren, aktiviert Rajagopal die einfachen Menschen in den Dörfern durch sein auf die Eigeninitiative setzendes „Ermutigungs-Programm“ und macht konkret erfahrbar, dass durch Massenmobilisierungen bei den Fußmärschen, beharrliche Aktionen und Verhandlungen mit den Herrschenden beachtliche Erfolge zu erzielen und Regierungspositionen veränderbar sind.

Dabei fixiert er sich nicht auf die Modi gerne von vielen Linken zugewiesene Rolle als „großer Bösewicht“. Die bisherigen schlechten Erfahrungen mit der Kongresspartei relativieren diese negative einseitige Zuschreibung. Alle Regierungen sind schwierige Verhandlungspartner. Der neuen Regierung Zugeständnisse abzuringen, wird nicht einfach sein. Ekta Parishad versucht also illusionslos, aber konsequent vorhandene Handlungsspielräume auszunutzen.

Dass EP damit nicht so falsch liegt, zeigt die neueste Entwicklung. Indien hat für alle Beteiligten überraschend unter der neuen Regierung Modi die Verabschiedung des Abkommens der Welthandelsorganisation (WTO) in Bali blockiert, das aufgrund des Abbaus von Handelsschranken für Großkonzerne und des Verbots der Unterstützung für die 700 Millionen Kleinbauern und armen Menschen in Indien eine massive Bedrohung darstellt (5).

Jai Jagat 2020: Eine Million Menschen nach Delhi!

Nach ausführlichen internen Diskussionen wird Ekta Parishad während der nächsten sechs Jahre eine großangelegte indienweite und internationale Mobilisierung für eine globale Vernetzung und Entwicklung der marginalisierten Bevölkerungsgruppen, gegen Land- und Ressourcenraub anschieben. Gleichzeitig soll der Klimaschutz ein wichtiger Bestandteil dieser Kampagne werden, da insbesondere arme Menschen in der sog. Dritten Welt unter den Folgen eines ungezügelten Billig-Konsums und energieintensiver Industrie zu leiden haben.

Höhepunkt soll der „Eine-Millionen-Marsch“ 2020 nach Delhi sein. Aber auch auf internationaler Ebene wird es in vielen Ländern auf allen Kontinenten koordinierte Kampagnen und Aktionen geben. Sie wurden bereits während der umfangreichen Reisetätigkeit von Ekta Parishad-Mitgliedern in den letzten Monaten vorbereitet. Die Kampagne „Jai Jagat“ bedeutet eigentlich in Hindi „Sieg der Welt“, bezieht ausdrücklich alle Menschen ein und ist offen für Impulse aus Bewegungen in anderen Ländern.

Bis 2020 sind bisher folgende regionale Fußmärsche und Jugendcamps in Indien geplant: Durch den Baiga Gürtel von Madhya Pradesh und Chhattisgarh (November/Dezember 2014), von der nepalesischen Grenze nach Patna in Bihar (Februar/März 2015), durch Chhattisgarh, Jharkhand und Orissa (2015), durch Uttar Pradesh, Madhya Pradesh, Rajasthan (2016), durch Kerala und Tamil Nadu (2017).

Im September 2014 wird als Auftakt in Indien ein internationales Jugendseminar zu gewaltlosem Handeln stattfinden. Anschließend sollen über 100.000 junge Menschen in allen 660 Destrikten Indiens für ihre zukünftigen Aufgaben trainiert und sensibilisiert, sowie gewaltlose Aktionspläne gegen Land- und Ressourcenraub entwickelt werden. Die intensive Kooperation mit ähnlichen Gruppen u.a. in Brasilien, Peru, Kolumbien, Senegal, Sri Lanka und Nepal wird fortgesetzt.

Zahlreiche Unterstützergruppen in Europa haben sich gebildet.

Mittelfristig sind in Indien für das Jahr 2016 Stärkung und Unterstützung von Fraueninitiativen geplant. 2018 wird das Thema solidarisches Wirtschaften im ländlichen Indien den Schwerpunkt der Aktivitäten bilden. 2019 wird ein Fußmarsch über 6.500 km von Delhi nach Genf zum UN-Hauptquartier stattfinden, um am 2. Oktober in Genf anzukommen und in möglichst vielen Ländern für Aufmerksamkeit zu sorgen.

Höhepunkt der Jai Jagat-Kampagne wird 2020 der Eine-Million-Fußmarsch nach Delhi sein.

Für all diese Aktivitäten ist nicht nur internationale Unterstützung willkommen, sondern gerne gesehen werden auch Impulse in anderen Ländern zur Ausformung von Aktionen und Kampagnen.

Ekta Parishad lässt sich nicht durch den Hindunationalisten Modi beeindrucken, sondern bereitet unverzagt eine langfristig angelegte Mobilisierung für Landrechte und Klimaschutz vor, die in Zukunft viele andere gesellschaftliche Gruppen mobilisieren wird.