transnationales / antimilitarismus

Widerstandsutopie: Gaza-Exodus

Gegen die Unterdrückung der Phantasie in Kriegszeiten

Gewaltfreie AnarchistInnen sind zwar klar gegen den zerstörerischen Krieg Israels, aber ebenso entschieden gegen die Kriegsführung der Hamas.

Genau so eine Position sei gar nicht möglich, unrealistisch oder schon Verrat – so schallt es aus pro-palästinenstischen und Antiimp-Kreisen. Auf keiner pro-palästinensischen Demo in Europa wurde die Gegengewalt der Hamas als einem, beileibe nicht dem einzigen Grund für die ständige Fortsetzung des Krieges je kritisch thematisiert – von der oft mangelnden Unterscheidung zwischen Antisemitismus und legitimer Kritik der israelischen Kriegsführung einmal ganz abgesehen.

Interessanter Weise bestätigen auch bürgerliche Medien in Europa immer wieder diese angebliche Einheit von Volk und Kampf der Hamas: „2002 ergab eine Studie, dass 50 % der Palästinenser zwischen 6 und 11 Jahren nicht davon träumten, Arzt oder Ingenieur zu werden, sondern als Kamikazes Israelis zu töten. Zwölf Jahre später sind diese Zehntausende von Kindern erwachsen geworden und nichts wurde getan, damit sie ihre Meinung ändern“, meint M. Goya, ein militärstrategischer Forscher, in „Le Monde“. (1)

Und selbst durchaus verhandlungsbereite Israelis aus dem militärisch-industriellen Komplex wie etwa der ehemalige Oberst der israelischen Militäraufklärung, Moshe Maoz, gibt denselben Mythos von der angeblichen Einheit zwischen Volk und Hamas-Kriegsführung unhinterfragt wieder: „Auch wenn Israel die Führer [der Hamas] eliminiert, kann es den Geist und die Ideologie der Bewegung nicht zerstören. Die Jugendlichen, die in der palästinensischen Gesellschaft die Mehrheit stellen, sind inmitten von Zerstörung und Tod aufgewachsen. Das macht aus ihnen Kämpfer, keine Pazifisten.“ (2)

Voraussetzung: Kriegsmüdigkeit statt Kriegslust in Gaza

Alles falsch und völkisch-nationalistischer Mythos, meint nun die israelische Forscherin Orit Perlov am Nationalen Institut für Strategische Studien in Tel-Aviv. Die perfekt Arabisch sprechende Internet-Spezialistin hat die Stimmung palästinensisch-jugendlicher BenutzerInnen der „sozialen“ Netzwerke seit Beginn des jüngsten Gaza-Kriegs untersucht. Das sind fast eine Million Personen, immerhin 35 % der PalästinenserInnen in Gaza, Westbank und Ost-Jerusalem, gerade die so bedeutsamen Jugendlichen. Ergebnis: Es gebe eine Mischung aus Hass und Verzweiflung. Die Menschen in Gaza fühlten sich kriegsmüde, belagert und wüssten nicht, wohin sie flüchten könnten. Perlov im Wortlaut:

„Die Mehrheit der PalästinenserInnen in Gaza unterstützt die Hamas nicht mehr. (…) Das bisschen Solidarität, das bleibt, verringert sich von Tag zu Tag, und die Hamas weiß das gut. (…) Tatsächlich sagen die Menschen in Gaza dreifach Nein: Nein zur Hamas, Nein zu Abbas und Nein zu Israel.“

Warum sie dann nicht aus Protest gegen die Hamas auf die Straße gehen? Weil sie Angst haben, so Perlov weiter, „sie wissen, dass die Hamas nicht zögern würde, auf sie zu schießen.“ Und nun Perlovs entscheidender Satz: „Sie glauben im Übrigen nicht mehr an den gewaltsamen Widerstand.“

Und weiter: „Die PalästinenserInnen in Gaza betrachten die Autonomie-Behörde [Abbas] als vollkommen korrupt. Zu 100%, so sagen sie! Als sie für die Hamas stimmten, glaubten sie, diese wäre weniger marode. Heute finden sie sie genauso korrupt. Sie haben entdeckt, dass die in Gaza gegrabenen Tunnel dem Schmuggel von Geldern für die Hamas dienten, während sie geglaubt hatten, sie wären zur Versorgung mit Nahrungsmitteln gegraben worden. Sie sind völlig desillusioniert. Ihre Überzeugung ist heute, dass jemand, sobald er an die Macht kommt, genauso korrupt wird wie die anderen.“ (3)

Unterscheidung: Vertreibung versus bewusste Massenflucht

Wenn diese Feststellungen von Orit Perlov eher stimmen sollten als die suggerierte nationale Einheit, bleibt der Gaza-Bevölkerung nur die Wahl zwischen Resignation und der im Folgenden dargestellten Widerstandsutopie. Kriegsmüdigkeit nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg hat in Afrika bereits Wunder bewirkt: Die Frauen in Liberia (Gbowee, Johnson-Sirleaf) haben vor einigen Jahren ihren Männer-Kriegern den Frieden aufgezwungen.

Ich hoffe, dass diese Utopie nicht als arroganter Vorschlag oder eurozentrischer Ratschlag aus sicherer Entfernung missverstanden wird, dazu ist schon die transnationale Reichweite der GWR zu gering. Es geht bei diesem Gedankenexperiment um die Obstination der Phantasie, die in Kriegszeiten ständig unterdrückt wird. Ob es real je zu einer auch nur ähnlichen Utopie kommen wird, werden die Menschen in Gaza selbst entscheiden. Die realitätsgerechten Bedingungen dafür wären jedoch mit Perlovs Diagnose vorhanden.

Eine Voraussetzung der Utopie ist die Feststellung, dass die palästinensische Bevölkerung meiner Meinung nach tatsächlich von Staat und Militär Israels unterdrückt wird; dass niemand von ihr verlangen kann, nichts zu tun und alles hinzunehmen, sondern dass es für sie legitim ist, sich gewaltfrei oder unbewaffnet zu wehren – und insofern sie das tut, damit inhaltlich gleichzeitig kundtut, dass es ihr gerade nicht darum geht, Israelis kollektiv „ins Meer zu werfen“.

Daraus ergibt sich, dass von gewaltfreier Seite auf den Vorwurf aller bewaffneten Kämpfer und ihrer Solidaritätsszene, dass ein gewaltfreier Widerstand der PalästinenserInnen nicht möglich, ja lächerlich (oder zynisch) sei, mit dem Aufzeigen einer potentiellen Widerstandsalternative reagiert werden muss. Bereits die palästinensische Widerstandgeschichte zeigt, dass der Vorwurf in seiner Pauschalität nicht haltbar ist: In der ersten Intifada nach 1989 gab es das „Palästinensische Zentrum für Gewaltfreiheit“ mit Mubarak Awad; in Folge des Barrierenbaus ab 2003 gab es zahlreiche und ausführlich dokumentierte gewaltfreie Aktionen in der Westbank, die zusammen mit israelischen AnarchistInnen eine Wirkung entfalten konnten. (4) Warum sollte sich nicht auch in Gaza so ein Phänomen – in anderer Form – entwickeln können?

Die hier vorgestellte Utopie einer bewussten, aus der verzweifelten Situation heraus entstehenden Massenflucht aus Gaza (Gaza-Exodus) darf zudem nicht mit einer Vertreibung verwechselt werden. Da gibt es klare definitorische Unterschiede: Die ChristInnen und JesidInnen im Irak werden derzeit von den brutalen IslamistInnen des Islamischen Staates (IS) massenhaft vertrieben (zum Teil ermordet); auch die Nakba der PalästinenserInnen nach dem Unabhängigkeitskrieg 1948/49 war eine Massenvertreibung (und nicht etwa ein Genozid). Davon unterscheidet sich die bewusste Massenflucht aus einem Gebiet, in dem die Regierung die flüchtende Bevölkerung halten, ja zurückhalten will, weil sie sie für ihre Macht- und Herrschaftslegitimation braucht. Historische Vorbilder für die Utopie Gaza-Exodus wären also – neben dem biblischen Beispiel, nämlich dem bewussten Auszug der jüdischen Bevölkerung aus dem diktatorischen Ägypten – in der jüngeren Widerstandsgeschichte vor allem die Massenflucht aus der DDR im Sommer 1989 (gerade 25 Jahre her – und schon vergessen!) sowie die Boat-People-Massenflucht der VietnamesInnen 1979-1982.

Drei Optionen: Ägypten, das Meer, Israel

Ausgangspunkt dieser Widerstandsutopie ist die unbarmherzige Realität heute: Von vielen BeobachterInnen ist Gaza mit ihren 4700 BewohnerInnen pro Quadratkilometer als „Freiluftgefängnis“ beschrieben worden. Die israelische Armee hat im Krieg Flugblätter abgeworfen mit der Aufforderung an die Menschen, ihre Häuser zu verlassen. Fluchtorte wie UN-Schulen wurden trotzdem mehrfach bombardiert; eine interne Revolte gegen die Hamas-Kriegsführung kann, wie wir von Perlov erfahren, aus Angst vor Erschießung nicht stattfinden. Die bewusste Massenflucht wird so zur realen Möglichkeit, und wenn sie auch von allen BeobachterInnen faktisch für unmöglich erklärt wird.

Wenn Gaza tatsächlich ein „Gefängnis“ ist – dann ist auch der Gedanke an Ausbruch legitim.

Sehen wir uns die drei Flucht(un)möglichkeiten genauer an

Ägypten (über Rafah im Süden): Die Grenze ist derzeit geschlossen aufgrund der Feindschaft von Ägyptens Militärdiktator al-Sisi und der Hamas. Einem Militärdiktator ist auch nicht zu vermitteln, das es einen Gegensatz zwischen großen Teilen der Bevölkerung und der Regierung geben könnte – eine solche Sicht würde die ägyptische Militärdiktatur selbst bloßstellen. Aber erinnern wir uns an die Tunnel, die in früheren Zeiten schon einmal für die Waffen- und Nahrungshilfe in Gaza gegraben wurden und in früheren Kriegen von Israel zerstört wurden. Und erinnern wir uns an die zweieinhalb Jahre zwischen der ägyptischen Revolte 2011 und dem Putsch vom Juli 2013, als in Ägypten über die Grenzöffnung nach Gaza diskutiert worden ist und es zeitweise zu Lockerungen kam. Solche historischen Zeitfenster hat es gegeben, warum sollten sie nicht wiederkommen – oder durch Massenflucht erzwungen werden?

Israel (im Osten und Norden): Die 32 Tunnel von Gaza nach Israel, die nun vom israelischen Militär unter hohen Verlusten (67 SoldatInnen unter den 70 getöteten Israelis) zerstört wurden, haben bewaffneten Kämpfern gedient, um Israel zu infiltrieren und Kibbuzim anzugreifen. Durch Perlov erfahren wir, dass dadurch auch Gelder verschoben wurden: Warum könnten so nicht auch Menschen flüchten?

Stellen wir uns vor, PalästinenserInnen benutzten massenhaft solche Tunnels zur Flucht, wären unbewaffnet und würden in Israel vor allem die ersten Kibbuzim, die bewaffnete Angriffe fürchten, weiträumig umgehen, um das israelische Militär in eine unhaltbare Lage vor der Weltöffentlichkeit zu bringen und es so konkret am Schießen auf Unbewaffnete zu hindern (Gefahr der Gleichsetzung mit der IS). Sicher, die Hamas würde das nicht zulassen, aber denkbar ist eine solche Verwendung von Tunnelsystemen doch – eventuell auch von Flüchtenden unabhängig von der Hamas selbst gegraben.

Übers Meer (im Westen): Das Meer im Westen sei eine absolute Grenze, heißt es. Flüchtlinge aus Afrika dagegen überschreiten solche Grenzen fast alltäglich, fliehen in höchster Überlebensnot und riskieren, von Frontex-Booten am Zugang nach Europa gehindert zu werden. Warum wären palästinensische Boatpeople, massenhaft und auf einen Schlag, wie die vietnamesischen Boatpeople, nicht auch für Gaza denkbar?

1979-1982 wurde die Meeresflüchtlingsorganisation Cap Anamur gegründet, um Boatpeople aufzunehmen. Das war weltweit populär – und sogar ein Sartre kehrte damals der vietnamesischen KP den Rücken, die er so lange unterstützt hatte. Die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit würde ein Übriges tun, um Israel international zu beschämen – ohne jeden Schuss – und vielleicht mit größerer Wirkung für israelische Zugeständnisse als es der bewaffnete Widerstand je bewirken könnte.

Es müsste eine gleichzeitige Massenflucht in kurzem Zeitraum in wenigstens ein oder zwei dieser Richtungen sein. Eine Massenflucht ist eine historisch belegte Ausformung unbewaffneten Massenprotests. Sicher, aus der DDR sind 1989 spontan in kurzer Zeit Massen geflohen, weil die letzten offenen DDR-Grenzen zur CSSR und zu Ungarn erst drohten, geschlossen zu werden.

In Gaza sind sie schon zu. Die Drohung neuer Kriege könnte ein Auslöser sein. Erst die Massenflucht aus der DDR brachte Spaltungen im Regime hervor und führte zur Revolte im Innern – gegen alle Angst vor dem Schießbefehl der Volksarmee. Schon heute gibt es Brüche zwischen der politischen Führung der Hamas und ihrem bewaffneten Kassam-Flügel unter Mohammed Deif. Eine Massenflucht würde die Spaltungen vertiefen und evtl. sogar anti-autoritäre Perspektiven im Innern Gazas eröffnen.

Einfach undenkbar? Nur wenn alle Krieg und Gegengewalt weiter befürworten und damit ihr Interesse bekunden, jegliches Nachdenken über Widerstandsutopien zu unterdrücken.