bücher

25 Jahre Unrast

Nina Nadig, Bernd Drücke und Horst Blume im Gespräch mit den Verlegern Jörn Essig, Martin Schüring und Markus Kampkötter

Nina Nadig (GWR): Wie ist euer Verlag vor 25 Jahren entstanden?

Jörn Essig (Unrast): Ich bin der einzige von uns dreien, der bei der Gründung 1989 schon dabei war. Wir kommen zwar alle aus dem gleichen politischen Projekt, haben aber nicht in der heutigen Konstellation den Verlag gegründet.

Wir haben zu Studierendenzeiten eine anarchistisch-libertäre Initiative (Alibi) gegründet, um uns in die Hochschulpolitik einzumischen. Diese Phase war relativ kurz, weil wir uns bald als Alibi verstärkt in außeruniversitäre politische Diskussionen und Aktionen eingemischt haben.

Wir waren ausdrücklich eine anarchistische Gruppe, haben uns dann aber auch immer mehr mit der autonomen Bewegung auseinandergesetzt, die in den 80er Jahren von Bedeutung und von anarchistisch bis autonom, libertär bis marxistisch zusammengesetzt war. Wir haben uns da als AnarchistInnen zugehörig gefühlt.

Wir waren eine Gruppe von 25 Menschen und haben uns regelmäßig im Umweltzentrum (UWZ) getroffen und dort irgendwann auch einmal einen Text der autonomen L.U.P.U.S.-Gruppe aus dem Rhein-Main-Gebiet gemeinsam gelesen.

Der hieß: „Stand autonomer Bewegung? Langlauf oder Abfahrt im Sturz“ (1), in dem es nach einer umfassenden Kritik der Praxis der Autonomen im Wesentlichen darum ging, dass man sich als Bewegungslinke institutionalisieren muss, dass man nicht immer nur Aktionen und Kampagnenpolitik machen kann und sich wundert, dass hinterher die Gruppen und Strukturen wieder zerfallen nach solchen Aktionen. Wir haben diese Diskussion als Gruppe aufgegriffen und uns im Ergebnis entschlossen, in Münster ein Libertäres Zentrum zu gründen. Daraus hervorgegangen ist das Themroc, das zwei, drei Jahre existierte…

Bernd Drücke (GWR): Nee, fast vier, von 1988 bis Januar 1992.

Jörn Essig: Zeitgleich mit der Gründung des Themroc gab es eine Zeitungsinitiative, die das anarchistische Magazin PROJEKTil herausgebracht hat. Der Titel klingt martialisch, ein bisschen militaristisch. War gar nicht so gemeint, sondern es war aus dem Wort „Projekt“ abgeleitet.

Wenn man das Cover der Zeitung sieht, ist „Projekt“ in Versalien geschrieben, das „il“ hinten dran klein. Diese Zeitung hat das Themroc leicht überdauert, aber zur Gründungszeit war sie als Zeitung unseres Zentrums gedacht und ist dann aber immer mehr zu einem anarchistischen Lokalblatt geworden. Es gab eine interessante Bewegung zu dieser Zeit, Ende der 80er Jahre in Münster. Da haben wir uns heimisch gefühlt, haben für diese lokale Bewegung und aus ihr heraus diese Zeitung gemacht, die auch überregional Verbreitung fand. Aus diesem Zeitungskollektiv haben sich dann drei Menschen herauskristallisiert und gesagt, wir wollen etwas Nachhaltigeres machen, als nur aktuelle Diskussionen und Flugblätter zu veröffentlichen. Wir wollten auch persönlich weiter gehen und kollektiv arbeiten. Es gab diese Idee: zusammen kämpfen, leben und arbeiten.

Von Anfang an war auch der Aspekt, seinen Lebensunterhalt damit zu verdienen im Hinterkopf. So haben wir 1989 den Unrast Verlag gegründet.

Bernd Drücke: Ich kann mich gut daran erinnern: Als ich 1990 den Atomkraft Nein!-Kalender 91 im Umwälzzentrum (UWZ) zusammengebastelt habe, wurde dort gleichzeitig der erste Antifakalender gemacht, von einer autonomen Kalendergruppe. Das war das erste große Projekt des Unrast Verlages. Der Antifa-Taschenkalender 91 erschien im September 1990 mit einer 8.000er Auflage. Ein Riesenerfolg.

Wenn ihr die libertäre Szene in der Themroc-Zeit mit der heutigen vergleicht, welche Unterschiede seht ihr dann? Wie hat sich das entwickelt? Wie seht ihr die Perspektiven der anarchistischen Bewegung?

Martin Schüring (Unrast): Oh, das sind große Fragen. Heute ist unsere Position ja eine ganz andere. Damals waren wir jung und mittendrin in der Szene.

Das heißt, die gruppierte sich um uns als Zentrum und war sehr lebendig. Wir haben damals im Themroc Veranstaltungen mit mehreren hundert Leuten gemacht. Ich glaube nicht, dass man das heute noch in Münster so auf die Beine stellen könnte. Aus meiner Sicht gab es damals eine breiter aufgestellte anarchistische Szene als heute.

Bernd Drücke: Ich denke, die meisten Leute wissen nicht was Anarchie ist. Was ist Anarchismus? Könnt ihr erläutern, was ihr darunter versteht?

Jörn Essig: Ja, Anarchismus ist für mich die Leitidee von der Freiheit des Menschen als dem größten zu erringenden gesellschaftlichen Gut. Freiheit ist für mich der Leitgedanke, mit dem man alle verschiedenen anarchistischen Denkströmungen zusammenfassen kann. Anarchismus kann man historisch begreifen, auch aktuell und philosophisch.

Es gibt militanten Anarchismus, gewaltfreien Anarchismus, kommunistischen Anarchismus, es gibt sogar Leute die sich als Kapitalisten verstehen und sich Anarchisten nennen, sogenannte „Libertarians“. Es gibt alles, was man gesellschaftlich thematisieren kann, auch in einer anarchistischen Version.

Für mich ist das Entscheidende daran, dass Anarchismus der Leitfaden ist, zu mehr Freiheit, perspektivisch der Herrschaftsfreiheit unter den Menschen auf allen Ebenen. Ich denke, die Graswurzelrevolution-Leser und -Leserinnen verstehen, was ich meine, dass es ein Prozess ist, der langsam und schrittweise voran geht. Es gibt aber auch revolutionäre Strömungen, insbesondere in der Geschichte, die sich als anarchistisch verstehen und sich von einem radikalen gesellschaftlichen Umsturz den richtigen Schritt zur Herrschaftsfreiheit versprechen.

Es gibt Anarchosyndikalisten, die sich gewerkschaftlich organisieren und mühsame Kämpfe in Betrieben führen… usw.

Nina Nadig: Du hast gerade schon etwas erzählt von der Gründung des Unrast-Kollektivs. Wer war damals dabei?

Jörn Essig: Als wir das Unrast-Kollektiv gegründet haben, waren wir zu dritt. Das waren Ines Gutschmidt, die heute die Beratungsstelle des Autonomen Frauenhauses in Münster führt, Willi Bischoff, der heute die Edition Assemblage [vgl. Interview in GWR 387] macht, und ich. Wir drei waren aber auch eingebunden in ein größeres Netzwerk. Also, es gab z.B. – weil Bernd ja auch den Antifa-Kalender angesprochen hat – die Antifa-Kalender-Redaktion noch als Gruppe, aus der dann wieder die Gruppe rat – reihe antifaschistischer texte – entstanden ist, die bis heute Bücher im Unrast Verlag herausbringt. Es gab verschiedene Kerne, die sich um den Verlag herum assoziiert haben. Genannt habe ich ja schon das PROJEKTil, das dann, als es das Themroc nicht mehr gab, ja noch weiter erschienen ist, mit ein paar Ausgaben, die auch als HerausgeberInnengruppe assoziiert waren im weitesten Sinne. Zum Schluss hat der Unrast Verlag dann auch den Vertrieb für das PROJEKTil übernommen, für die letzten Ausgaben. (2)

Heute sind wir zu dritt, auch aus dem gleichen Zusammenhang, aber später zum Kollektiv dazu gestoßen. Es gab praktisch ein paar Umstrukturierungen. Martin ist 1992 dazu gestoßen…

Martin Schüring: …nee, das war 1994 oder 95, genau weiß ich es nicht.

Jörn Essig: Weil wir auch merkten, dass wir uns professionalisieren müssen. Arbeit gab es viel, das Geld war knapp. Ines und ich sind dann 2001 aus dem Verlag ausgestiegen und haben andere Prioritäten gesetzt. Danach haben Willi und Martin den Verlag alleine gemacht. Vor drei Jahren, als es zur Trennung der beiden als Kollektiv kam, bin ich wieder in den Verlag eingestiegen und zwei Jahre später ist Markus dazu gekommen. Zunächst als Azubi, weil dadurch auch eine externe Finanzierung möglich war, für diese zusätzliche Stelle. Und nach seiner Ausbildung zum Medienkaufmann jetzt als vollwertiges Kollektivmitglied (schmunzelt).

Martin Schüring: Wir waren von Anfang an ein Ausbildungsbetrieb. Auch Willi und ich haben praktisch bei Jörn unsere Ausbildung gemacht. Ganz am Anfang war der Unrast Verlag schwer unterbesetzt, deswegen gab es in den ersten Jahren wenige Publikationen, weil Jörn die Ausbildung zum Verlagskaufmann in einer anderen Stadt gemacht hat. Ines hatte gerade ein kleines Kind, das heißt, es war praktisch nur Willi, der dann beschränkt Sachen publizieren konnte. Aber diese Idee, Leute zu qualifizieren und auszubilden, haben wir beibehalten. Markus ist der bisher letzte Auszubildende gewesen, der dann auch wieder in das Kollektiv integriert wurde.

Bernd Drücke: Was bedeutet es für euch, ein Kollektiv zu sein, als Unrast Verlag?

Martin Schüring: Das war von Anfang an ein Kernelement. Das geht auch zurück auf Alibi, auf das Themroc, wo wir uns auch schon als Kollektiv verstanden haben, da waren wir ein 14-Personen Kollektiv, das damals das anarchistische Zentrum Themroc betrieben hat. Irgendwann haben wir uns geöffnet für die Szene, dann war das Kollektiv nicht mehr federführend, sondern ein NutzerInnenplenum hat das Themroc organisiert. Aber der Kollektivgedanke ist von uns weitergeführt worden, im Verlag und auch in der Zeitung. Die beiden Projekte waren von Anfang an kollektiv organisiert. Was im Verlag noch einmal etwas anderes war, weil es da dann irgendwann auch darum ging, dass es da Geld zu verteilen gab, also die Lohnfrage gestellt wurde.

Nina Nadig: Ihr bezeichnet euch in eurem Selbstverständnis als „anarchistisch, feministisch, antirassistisch und antifaschistisch“. Gerade habt ihr erwähnt, dass Ines ausgetreten und beim Verlag nicht mehr dabei ist. Das heißt, ihr seid nur noch Männer im Kollektiv zurzeit. Was bedeutet das für euch in Bezug auf den Feminismus, in wie fern versteht ihr euch als Feministen? Inwiefern können auch Männer Feministen sein?

Markus Kampkötter (Unrast): Ja, ich glaube, dass es für Männer möglich ist Feministen zu sein. Ich würde mich jetzt nicht unbedingt so bezeichnen, aber jetzt weniger, weil ich da große Schwierigkeiten mit habe – wenn das jemand zu mir sagen möchte, darf das auch gerne passieren. Ich bin nur nicht besonders scharf darauf, auf die ganzen Ismen. Vielleicht ist es ein bisschen die Frage dahin, was macht ein Verlag? Es gibt sicher eine Menge Bücher, die wir machen, wo wir nicht hinter jedem einzelnen Wort stehen, was da drin steht. Insofern ist es vielleicht verständlich: wenn eine Autorinnengruppe oder auch eine einzelne Autorin mit dem Thema zu uns kommt, dann können wir das gerne unterstützten. Ansonsten ist man als Mann in einer komfortablen Rolle im Patriarchat, in einer männerdominierten Gesellschaft.

Da kann man auch selber etwas dran machen, für sich tun, Frauen unterstützen, in dem was sie strukturell unterdrückt, das ist in unserem System so, und Feminist_innen versuchen, etwas daran zu verändern.

Martin Schüring: Das war immer ein zentraler inhaltlicher Punkt bei uns, auch zu PROJEKTil-Zeiten, auch die Geschlechterauseinandersetzung mit Geschlechterrollen aus männlicher Sicht.

Wir gehören zu den obskuren Subjekten, die tatsächlich so etwas als Männergruppe gemacht haben in den 80er Jahren, über mehrere Jahre, was es heute, soweit ich weiß, gar nicht mehr gibt. Das erste Buch des Unrast Verlags begründete folgerichtig die Reihe „Feministische Wissenschaften“. Als Ines dann ausgestiegen ist und uns der direkte Draht gefehlt hat, gab es erst mal ein Loch, weil wir die Projekte nicht mehr an den Start gebracht haben. Es war aber immer auch ein inhaltlicher Anspruch, in diesem Themenbereich zu veröffentlichen und mittlerweile haben wir auch wieder gute Kontakte geknüpft und machen wieder relativ viele Titel in diesem Bereich.

Bernd Drücke: Stellt bitte mal das Verlagsprogramm vor. Welche Bücher habt ihr publiziert? Wie sieht das aktuelle Programm aus?

Martin Schüring: Schwerpunktmäßig machen wir links-politische Sachbücher, in den Bereichen Antifa, Antirassismus, Anarchismus, Kommunismus, Ökologie, Feminismus, Pädagogik,… Wir sind breit aufgestellt und versuchen diese Bereiche zu bedienen, mit unserm Programm.

Jetzt publizieren wir gerade 26 neue Bücher aus allen Sparten. Wir haben auch Reihen, wie zum Beispiel die Edition DISS, vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung, die sehr renommiert ist. Wir haben die Reihe „Klassiker der Sozialrevolte“. Wir verstehen uns als kleiner, linker Publikumsverlag, der nicht eindimensional publiziert, sondern möglichst das abdeckt, was relevant ist für linke, emanzipatorische Bewegungen.

Jörn Essig: Wir haben eben viel über Anarchismus gesprochen. Das ist unser persönliches Selbstverständnis. Als Verlag haben wir eher das Selbstverständnis eines politischen Dienstleisters, sozialkritische, emanzipatorische Diskussionen aus verschiedenen Richtungen zusammenzubringen bzw. in einen öffentlichen Diskussionsraum zu werfen, und was dann das Publikum daraus macht, das ist dann ein nächster Schritt. Das kriegen wir leider selten mit, es gibt leider nur wenig Feedback. Am ehesten noch von Rezensenten oder Rezensentinnen, die sich mit den Büchern dann etwas intensiver auseinandersetzen und darüber schreiben.

Wichtig ist mir zu sagen, der Schritt Richtung Emanzipation, Richtung herrschaftsfreie Gesellschaft, schließt auch die Auseinandersetzung mit verschiedenen anderen Denkrichtungen ein, denen ich ebenfalls den nötigen Raum geben will, auch wenn ich mich persönlich als Anarchist verstehe.

Horst Blume (GWR): Ihr habt auch eine umfangreiche Reihe anarchistischer Klassiker. Da ist nun auch Pierre Joseph Proudhons „Was ist das Eigentum?“ erschienen. Proudhon ist zu Recht umstritten, weil er auch antifeministische und antisemitische Äußerungen getätigt hat. Warum habt ihr ausgerechnet den Proudhon jetzt bei euch im Programm?

Jörn Essig: Diese Reihe ist keine rein anarchistische Klassikerreihe, auch wenn die anarchistischen Klassiker und die wenigen anarchistischen Klassikerinnen darin dominieren. Die Reihe „Klassiker der Sozialrevolte“ soll ein Stück weit die historische Reihe im Unrast Verlag sein.

Das ist ein bisschen mein Kind. Und die Reihe will versuchen aus verschiedenen Spektren, von Klassenkämpfen, von sozialen Kämpfen, von der Bauernbewegung im ausgehenden Mittelalter bis in die APO-Jahre, Klassiker zur Verfügung zu halten. Vieles leistet heute das Internet, aber als wir diese Reihe angefangen und gedacht haben, dass das wichtig ist, gab es das noch nicht. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, da gab es einfach nur das Medium gedrucktes Buch, das so etwas wie sozialrevolutionäre Geschichte bewahren konnte.

Vieles davon verstaubte in Bibliotheken und der Anspruch war, das mal wieder öffentlich zur Verfügung zu stellen, für ein breiteres Publikum. Das haben wir dann getan. Das fällt einem am Anfang leicht, da kann man seine Lieblingsklassiker bringen und später muss man dann schon einiges an Energie reinstecken. Ich teile deine Einschätzung: Proudhon war Antifeminist, er war Antisemit. Das – muss ich ehrlicherweise zugeben – ist mir auch erst mit der Beschäftigung mit ihm näher aufgefallen. Wir haben ihn trotzdem ins Programm genommen. Ich habe das entsprechend kommentiert, in Fußnoten an den Stellen, in denen das anklingt. Warum haben wir dennoch Proudhon „Was ist das Eigentum?“ neu herausgebracht? Proudhon war einer der ersten, Godwin ist noch ein anderer Zweig, des frühen Anarchismus, einer der sogenannten „Väter des Anarchismus“. Er hat wesentliche Prinzipien des Anarchismus in seinen Schriften zusammengebracht: Mutualismus, Föderalismus, Antiklerikalismus, Antistaatlichkeit. Er hat radikal das Recht auf Eigentum infrage gestellt, was seinerzeit infam war. Das war Grund genug, ihn in dieser Klassikerreihe zu präsentieren, mit dem heutigen Blick mit kritischen Kommentaren zu versehen, aber eben auch, um den Text breiter zur Diskussion zu stellen. Proudhon ist ja im Hinblick auf Antisemitismus und proletarischen Antifeminismus kein Einzelfall. Wir können heute sicher einiges besser machen, als die Jungs vor 150, 200 Jahren.

Horst Blume: Ich habe eine kritische Frage. Mir ist aufgefallen, dass in eurem Programm kaum Gewaltfreiheit und gewaltfreie Aktionen thematisiert werden. Möchtet ihr euch zu diesem Themenkomplex nicht positionieren oder kommt da vielleicht noch einmal was?

Martin Schüring: Da muss man vielleicht mal schauen, wie denn Unrast-Bücher überhaupt zustande kommen? Es gibt mindestens zwei Wege. Der eine ist, wir initiieren selber Projekte, dann hängt es von unserem eigenen persönlichen Interesse ab. Wir kommen jetzt alle nicht aus der gewaltfreien Ecke, sondern eher aus der Ecke der autonomen Politik, also jeder von uns hat schon einmal einen Pflasterstein von Weitem gesehen. Von daher würde ich persönlich jetzt von mir aus wahrscheinlich so ein Projekt nicht initiieren. Aber die andere Seite ist, wir machen auch viele Bücher, die uns angeboten werden und da ist uns bisher in dem Themenbereich nichts angeboten worden, vermutlich weil die alle zur Graswurzelrevolution gehen. (lacht)

Jörn Essig: Ich möchte das gerne persönlich ergänzen. Ich bin politisch als Anarchist sozialisiert worden in einer Graswurzelgruppe seinerzeit. Da war ich noch Schüler. Also, ich habe die gewaltfreien Aktionen trainiert und eingesetzt, habe sie dann zwischenzeitlich für unproduktiv empfunden. Eine Zeit lang hab ich mich dann zu einem militanten Anarchismus bekannt.

Mittlerweile bin ich über diese Spaltung aber hinweg, weil ich glaube, Aktionsformen und -strategien sind das eine, die Inhalte und Themen, die dahinter stehen, sind das andere und die sind mir mittlerweile deutlich wichtiger. Ich rüttele nicht mehr an jedem Bauzaun, wir alle wahrscheinlich nicht mehr. Das haben wir aber gemacht. Wir haben explizit in einer Zeit agiert, in der es einen unfassbaren Ausbruch faschistischer Gewalt in Deutschland gab, gegen MigrantInnen, gegen AsylbewerberInnen, da haben Wohnheime gebrannt, Menschen sind ermordet worden und kurz darauf wurde das Asylgesetz faktisch abgeschafft: 1993.

Wir haben uns viel um Antifaschismus gekümmert. Die pragmatische Form von Antifaschismus ist meiner Ansicht nach, nicht die zweite Wange hinzuhalten, damals zumindest nicht gewesen, sondern die war militant. Dazu werden voraussichtlich im Herbst zwei gute Bücher bei uns erscheinen. Eines heißt „Antifa heißt Angriff. Zur Geschichte der antifaschistischen Bewegung in den 80er Jahren“.

Um auf deine Eingangsfrage zurückzukommen: Wir haben auch Bücher in unserem Programm wie „Spaßguerilla“, da sind konkrete Beispiele gewaltfreier Aktionen drin beschrieben.

Nina Nadig: Könnt ihr etwas erzählen zu den „Sorgenkindern“, die ihr in der Verlagsgeschichte hattet? Was waren Projekte, die nicht so gut gelaufen sind? Wo ihr Bauchschmerzen mit hattet?

Martin Schüring: Unser größtes Sorgenkind war die Belletristik. Wir haben etwa 20 Romane in der Verlagsgeschichte publiziert. Ich glaube von den 20 sind zwei in den schwarzen Zahlen gelandet, alle andern haben ein deutliches Minus geschrieben, obwohl das gute Bücher waren, obwohl die teilweise auch gut besprochen worden sind. Mein Lieblingsbeispiel ist Kaan Arslanoglu, ein türkischer Autor, der das Buch „Charaktere“ geschrieben hat. In der Türkei ist das zu einem der hundert besten Bücher gewählt worden, die je erschienen sind. Wir hatten eine halbseitige Besprechung in der FAZ. Trotzdem war das der größte Flopp, den wir je produziert haben. Da ist nichts passiert. Daraufhin haben wir die Belletristik dann leider beerdigen müssen, weil wir gesagt haben, das schaffen wir finanziell nicht. Das war das größte, was wir je versenkt haben.

Bernd Drücke: Ich möchte auf das eingehen, was Jörn gerade in Bezug auf Gewaltfreiheit gesagt hat. Gewaltfreiheit heißt für gewaltfreie Anarchistinnen und Anarchisten ja nicht, die zweite Wange hinzuhalten. Gewaltfreier Widerstand ist eine effektive, menschenfreundliche Form des Widerstandes. Das würde vielleicht in diesem Fall bedeuten, dass du den Schläger aufhältst und ihm entschieden klar machst: „Lass das sein!“ Ihn also daran hinderst, weiter Gewalt auszuüben, ohne ihn zu verletzen. Ziel sollte ja sein, dass sich die eigene Utopie schon in den eigenen, kreativen Widerstandsformen widerspiegelt. Direkte gewaltfreie Aktionen, Sabotage zum Beispiel, das sind Aktionen, bei denen kein Mensch verletzt werden soll. Es geht ja darum, die Menschen zu erreichen, Widerstand zu leisten, ohne zu verletzen oder gar zu töten, das ist das Konzept der Graswurzelrevolution, der gewaltfreien Revolution.

Jörn Essig: In Bezug auf das Sabotage-Konzept stimme ich dir zu 100 Prozent zu, aber das ist natürlich ein militantes Konzept.

Bernd Drücke: Nee, Sabotage ist ein gewaltfreies Konzept des Sozialen Kampfes. Sabotage, der Begriff kommt aus dem Französischen: „Le sabot“, das ist der Holzschuh, den die Streikenden in die Maschinen geworfen haben, um diese zu stoppen. Das ist also eine klassische direkte gewaltfreie Aktion und hat mit Gewalt in dem Sinne nichts zu tun.

Durch Sabotage im sozialrevolutionären Sinne wird kein Mensch verletzt oder gar getötet. Sie richtet sich gegen Herrschaft, Ausbeutung und Gewalt. Maschinen oder andere Dinge, die durch Sabotage gestoppt werden, empfinden keinen Schmerz, das kann von daher keine gewalttätige Aktion gewesen sein. Auch Spaß- und Kommunikationsguerillaaktionen verstehe ich in diesem Sinne als sozialrevolutionäre Sabotageformen und gewaltfreie Aktionen, die Augen öffnen und ein befreiendes Verlachen von Herrschaft bewirken können.

Jörn Essig: Militant heißt ja auch nicht gewalttätig. Militant, das bedeutet kämpferisch.

Bernd Drücke: Genau, und gewaltfrei heißt nicht, die andere Wange hinzuhalten. (lacht)

Jörn Essig: Na ja, ich habe diese gewaltfreie Trainingsgeschichte mitgemacht und gerade bei Blockaden ist es schon so etwas wie die zweite Wange hinhalten gewesen. Sich ohne Gegenwehr von Bullen wegzerren, verprügeln, verletzen zu lassen, oder hätte ich jetzt besser „Polizisten“ sagen müssen? (lacht)

Bernd Drücke: Vielleicht einigen wir uns auf „PoliZysten“? Ne, im Ernst, Gewaltfreiheit kann man nicht mit Wehrlosigkeit gleichsetzen. Im Gegenteil. Gewaltfreier Widerstand erfordert Mut, Selbstdisziplin, Kreativität und oft auch Humor. Und wenn wir uns die aktuellen Entwicklungen z.B. in Syrien anschauen, können wir feststellen, dass sich das, was der Anarchopazifist Bart de Ligt 1936 geschrieben hat, immer wieder bewahrheitet: „Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution“.

Nina Nadig: Mich interessiert, was für Aufgaben ihr einzeln im Verlag habt? Du hast gerade gesagt, das ist eine Frage für dich. Warum? Was sind eure speziellen Aufgaben im Verlag?

Markus Kampkötter: Es gibt reichlich Aufgaben. Vielleicht kann man es an dem Entstehungsprozess eines Buches deutlich machen. Also, als erstes müssen Kontakte hergestellt werden, das hängt wieder davon ab, welche Programmsegmente bedient werden müssen. Wo muss man sich kümmern, wenn man sieht, wir haben hier kein Angebot, wen sprechen wir an? Dann müssen die Bücher produziert werden, was im Vorfeld heißt, dass der Kontakt mit den Autor_innen hergestellt und gepflegt werden muss. Das machen wir alle drei. Für die einzelnen Buchprojekte dann, das kann man jetzt im Vorhinein gar nicht sagen, einer von uns macht nur Antifa, die anderen dann Kommunismus und der andere macht Feminismus, sondern das verteilen wir auch vor dem Hintergrund, das hat auch etwas mit Spaß zu tun, Arbeit darf Spaß machen.

Trotzdem ist es auch so, dass, wenn jetzt ein theoretischer Titel, mit viel marxistischen Auseinandersetzungen kommt, dass das dann jemand machen sollte, der da vielleicht auch schon in der Vergangenheit zu gearbeitet hat. Dann gibt es Vertriebsaufgaben. Unsere Internetseite muss gepflegt, Neuerscheinungen reingestellt, das Ganze muss kaufmännisch erfasst werden.

Martin Schüring: Im kaufmännischen Bereich sind wir glücklicherweise flexibel. Jörn und ich haben z.B. gerade Arbeitsbereiche getauscht. Was ich sehr nett fand. Wenn man jahrelang immer dasselbe macht, ist es gut, wenn man sagen kann, okay jetzt gebe ich mal die Finanzbuchhaltung ab und mach stattdessen Werbung. Das ist auch ein Teil von Kollektivität.

Jörn Essig: Im Ursprung des Verlags, in der Gründungsphase gab es so einen Kollektivanspruch, der lautete, alle müssen immer alles können, in allen Bereichen des Verlags arbeiten können. Dann gab es eine Art Professionalisierungsschub, kurz bevor Martin dazu gestoßen ist, wo wir gemerkt haben, wenn man etwas richtig gut machen will, muss man sich auch ein Stück weit darauf spezialisieren. Also haben wir dann Arbeitsbereiche geschaffen und entsprechende Verantwortlichkeiten ausgekegelt, haben die eher langweiligen kaufmännischen Sachen unter uns möglichst fair aufgeteilt, also wer ist für Mahnungen zuständig, wer muss die Rezensionen betreuen, wer kümmert sich um Werbung, wer macht den Versand usw. Aber wir haben auch versucht, ein bisschen inhaltliche Struktur reinzubringen. Ines hat die Genderdebatte und die Bücher und Projekte dazu betreut. Martin hatte sich stark spezialisiert auf die Belletristik in dieser Zeit…

Martin: …und Internationalismus.

Bernd Drücke: Welche Perspektiven seht ihr für den Unrast Verlag? Und was wollt ihr unbedingt noch loswerden?

Jörn Essig: Ich fange mal mit den Perspektiven an. Das sind jedenfalls keine weiteren 25 Jahre mehr für uns, so wie wir hier sitzen.

Das heißt, wir denken darüber nach, wie wir uns als Kollektiv verjüngen könnten. Wir sind alle drei jetzt 50 Jahre alt, …

Martin Schüring: …zusammen… (lachen)

Bernd Drücke: … 150 Jahre – Anarchie! (lachen)

Jörn Essig: Als Kollektiv müssen wir schauen, dass wir uns verjüngen. Wir haben vorhin, vor der Sendung, ja schon über Beispiele von linken Verlagen gesprochen, die das versäumt haben. Die dann irgendwann von der Bildfläche verschwinden werden. Das fände ich sehr schade. Ein stückweit ist dieser Verlag ja unser Kind, das man ungern scheitern sehen möchte.

Perspektiven? Wir hoffen, dass wir weiterhin beitragen zur libertären Entwicklung weltweit, dass wir weiterhin eng mit sozialkritischen, kommunistischen, anarchistischen und feministischen Bewegungen, und denen, die da noch kommen werden, zusammenarbeiten. Na ja, eben große und kleine Schritte gehen, die eine Gesellschaft auch weiterbringen. Und wir würden euch alle gerne mit unseren Büchern dabei begleiten.

Nina, Horst und Bernd: Herzlichen Dank für das Gespräch.