Auch ein großer Historiker muss klein anfangen. „Als ich jung war“, erinnert sich Josep Termes in seiner monumentalen Historia del anarquismo en España (1870-1980) [‚Geschichte des Anarchismus in Spanien (1870-1980)‘], „und im zerstörten Nachkriegsbarcelona gerade angefangen hatte, in einer bescheidenen Kneipe im Arbeiter- und Handwerkerviertel Gràcia zu arbeiten, sangen mir ein paar Kunden oft die revolutionären Lieder der Anarchisten vor: ‚Söhne des Volkes, noch binden dich Ketten‘, ‚Auf die Barrikaden!‘, mit solchen Versen wie: ‚Erhebe dich, Arbeitervolk/ auf zum Kampf/ wir müssen die Reaktion niederwerfen‘ und ‚Feindliche Stürme durchtoben die Lüfte‘ […]. All diese Lieder gehören zu meiner jugendlichen Vorstellungswelt […]. Ich habe bis heute keinen Text und keine Melodie vergessen. Und das, obwohl, als ich mit Zwanzig an die Universität ging, dort unter meinen jungen Verschwörerfreunden eigentlich nur die kommunistischen Lieder gesungen wurden: ‚Die Internationale‘, ‚Die junge Garde‘, ‚Das Heer vom Ebro‘ und ‚Bella Ciao'“.
In dieser Anekdote bündeln sich anschaulich Wirkung und Dilemma der Lieder des Spanischen Bürgerkriegs (1936-1939), von denen einige bis heute Hymnen der antifaschistischen Linken geblieben sind.
Man hat den Bürgerkrieg, der Spanien von 1936 bis 1939 verwüstete, einen „Krieg der Dichter“ genannt. Aber er war auch ein Krieg der Lieder.
Vor allem aber war er ein Krieg in Liedern. Ganz gleich, ob nun die Faschisten mit ausgestrecktem Arm „Cara al Sol“ [‚Gesicht zur Sonne‘] schmetterten, die Internationalen Brigaden zur Melodie eines alten Schlachtlieds aus der Zeit der antinapoleonischen Kriege drohend rumpelnde Kampfgesänge – „Rumbara Rumbarara“ – über die Front sandten oder die Anarchisten zu Tausenden die Hymne ihrer Massengewerkschaft Confederación Nacional del Trabajo (CNT) [‚Nationale Föderation der Arbeit‘], „¡A las Barricadas!“ [‚Auf die Barrikaden!‘] sangen: keine politische Gruppe des Bürgerkriegs wollte auf die einigende, Kraft spendende und propagandistisch wirksame Macht der Lieder verzichten. Lieder, zumal politische Hymnen, sind Symbole kollektiver Identität. Symbole in Aktion allerdings, performative Symbole, deren Wirkung sich bei jedem (vorzugsweise gemeinsamen) Singen neu erfahren lässt. Wer allerdings das Augenmerk ganz auf die vereinigende Kraft von Hymnen richtet, sollte beachten, dass Vereinigung ohne Abgrenzung nicht denkbar ist.
Der Spanische Bürgerkrieg war einer der letzten großen ideologischen Konflikte des 20. Jahrhunderts: Ein Krieg, in dem sich Angehörige sämtlicher politischer Fraktionen Europas unmittelbar gegenüberstanden.
Die Konflikte innerhalb des linkspolitischen Lagers etwa, zwischen Kommunisten, Anarchisten und stalinkritischen Sozialisten, waren mitunter ähnlich grausam wie das Kriegsgeschehen an der Front.
Die proletarisch-revolutionäre Einheit, die viele Lieder des Bürgerkriegs in der republikanischen Zone besangen, war eine Chimäre, oder, schlimmer noch, eine Lüge mit bösen Hintergedanken: der Versuch, die eigene Dominanz zu festigen und den Gegner aus der kulturellen Wahrnehmung zu tilgen. Denn politische Lieder repräsentieren – implizit oder explizit – immer auch eine bestimmte Lesart der Geschichte.
Sie vereinheitlichen und emotionalisieren sie, entwickeln dadurch große Wirkungskraft und Langlebigkeit, und häufig ist es nicht so sehr ihr Text als vielmehr ihr Kontext (Wann werden sie gesungen? Wo werden sie gesungen? Wer singt sie?
Wer hört zu? Wie werden sie inszeniert? usw.), der ihre politische Aussage bestimmt. Wer ein Lied der eigenen Fraktion zum musikalischen Monument eines historischen Ereignisses machen kann, beeinflusst damit die Deutung dieses Ereignisses oft mehr als eine Horde kritische Einwände murmelnder Historiker.
Aufgrund einer schwer zu verstehenden Neigung, künstlerische Erzeugnisse (zumal Lieder) als etwas anzusehen, das abseits der Politik existiere, kann so zuweilen bis heute ein Kampf um politische Hegemonie fortgeführt werden. Trotzdem, oder gerade deshalb, sind politische Lieder natürlich eine kulturhistorische Quelle ersten Ranges.
Lieder aus der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs waren bisher schwer zu bekommen.
Historische Originalaufnahmen waren oft nur in Archiven zu hören und wären, wenn sie tatsächlich einmal in Spanien oder anderswo auf einer Plattenbörse aufgetaucht wären, praktisch unbezahlbar gewesen.
Einzelne Lieder fanden sich auf obskuren Samplern mit winziger Auflage, tauchten verstreut im Programm politischer Liedermacher oder Folksänger auf, und auch in gedruckter Form war die Ausbeute lange Zeit mager: eine Reihe oft zweitklassiger Anthologien, bei denen man sich nie sicher sein konnte, ob dieser oder jener Text auch wirklich korrekt und vollständig wiedergegeben worden sei. Historische Zusammenstellungen politischer Liedtexte und Partituren dagegen lagen wiederum meist in den Archiven und sind außerdem für gewöhnlich strikt nach politischer Zugehörigkeit getrennt. Es bestand also Bedarf nach einer umfassenden, gut erarbeiteten, solide recherchierten und sinnvoll zusammengestellten Sammlung (vor allem) historischer Originalaufnahmen aus der Zeit des Bürgerkriegs.
Bei aller Kritik, die im Folgenden noch geäußert werden soll: In dieser Hinsicht ist das monumentale Box-Set „Spanien im Herzen“, das das Berliner Bear Family-Label dieses Jahr auf den Markt gebracht hat, ein großer Schritt vorwärts.
Auf sieben CDs versammeln die Herausgeber mehr als 120 Lieder, allerdings zum Teil die gleichen Lieder in unterschiedlichen Versionen. Die achte CD enthält den Dokumentarfilm „300 Juden gegen Franco“, eine ebenso aufschlussreiche, wie schwer zu beschaffende, Quelle. Einige der CDs sind zweigeteilt: Sie beginnen mit aktuellen Versionen bekannter Lieder aus der Zeit des Bürgerkriegs, die zum Teil erst lange nach dessen Ende aufgenommen wurden, nicht selten wiederentdeckt und interpretiert von politischen KünstlerInnen des sogenannten Folk-Revivals der sechziger und siebziger Jahre. Andere Aufnahmen sind echte Entdeckungen, wie beispielsweise das Album des US-amerikanischen ehemaligen Interbrigadisten Max Parker, der 1981 eine Reihe von spanischen Liedern (mit grausigem englischem Akzent) aufnahm, die er während des Bürgerkrieges und (vor allem) während seiner Haft im berüchtigten Kloster San Pedro de la Cardeña gelernt hatte. Im zweiten Teil finden sich historische Originalaufnahmen: knarrende, knirschende und rumpelnde Shellac-Schätzchen, die vom Label mithilfe digitaler Technik hörbar bearbeitet und in ihrer Klangqualität verbessert wurden. Manchmal vielleicht sogar ein bisschen zu sehr: einige Lieder klingen fast schon klinisch, als hätte man sie akustisch unter eine antibakterielle Gaze-Decke geschoben.
Nach 78 Jahren darf eine historische Originalaufnahme aber ruhig ein wenig Lärm machen…
Das Begleitbuch kommt ähnlich beeindruckend daher wie die Box: 318 Seiten in Hochglanz, sämtliche Liedtexte in drei Sprachen (Spanisch/Englisch/Deutsch), reich illustriert, ein Gesamtgewicht von fast zwei Kilo. Wer „Spanien im Herzen“ in der Hand hielt, hätte leicht meinen mögen, die definitive Sammlung zur Musik des Spanischen Bürgerkriegs endlich gefunden zu haben.
Bei aller Nützlichkeit des dargebotenen Materials – uneingeschränkt zutreffend ist diese Wahrnehmung leider nicht.
Problematisch bei „Spanien im Herzen“ ist vor allem das Begleitbuch: Zunächst einmal ist nicht recht einzusehen, warum gleich zu Beginn desselben 23 Seiten für Reproduktionen von Ankündigungsplakaten, Textauszügen und Filmstills [Standfotos] der Hollywood-Version von Ernest Hemingways berühmtem Bürgerkriegsroman „Wem die Stunde schlägt“ geopfert werden.
Was, bitte schön, hat dieser Film mit den Liedern des Spanischen Bürgerkriegs zu tun? Seltene und begehrte Sammlerstücke mögen solche Filmschätze ja sein. Aber sonst? Als Lehrer hätte man verärgert: „Thema!“ an den Rand geschrieben.
Die Sammlerleidenschaft der Herausgeber geht noch ein weiteres Mal mit ihnen durch: Denn die letzten 42 Seiten des Begleitbuchs haben wieder nichts mit den Liedern des Spanischen Bürgerkriegs zu tun. Hier finden sich, prachtvoll aufgemacht, farbige Nachdrucke der berühmten „Estampas de la Revolución Española. 19 de julio de 1936“ [‚Drucke der Spanischen Revolution. 19. Juli 1936′], die die Propagandaabteilung der CNT im gleichen Jahr in Auftrag gegeben hatte. Auf zahllosen Büchern und Broschüren zum Spanischen Bürgerkrieg waren diese „Estampas“ im Laufe der folgenden Jahrzehnte immer wieder als Titelillustrationen zu sehen gewesen.
Die vollständige Sammlung galt lange als verschollen und ist ein wertvoller künstlerischer Schatz. Aber wiederum: Was hat er hier verloren? Das Begleitbuch gleicht an diesen Stellen einem unaufgeräumtem Antiquitätenladen. Mit etwas größerer thematischer Disziplin hätte man es bequem um 65 Seiten (!) kürzen können – bei einem Kaufpreis von 173 Euro möglicherweise keine schlechte Idee. Die Energie, die bei der Jagd nach seltenen Bürgerkriegsartefakten vergeudet wurde, wäre zudem für die inhaltliche Erarbeitung des Themas, sinnvoller zu nutzen gewesen. Denn auch hier ist manches in „Spanien im Herzen“ mehr goldschimmernde Patina auf Gips als solider Unterbau. Dies betrifft insbesondere die (spärlichen) Informationen über die Anarchistinnen und Anarchisten.
Der verantwortliche Herausgeber des Begleitbuchs, Jürgen Schebera, ist ein ausgewiesener Kenner des musikalischen Schaffens des Sängers Ernst Busch und des Komponisten Hanns Eisler.
So dominieren in „Spanien im Herzen“ denn auch, wenig überraschend, die Lieder der Internationalen Brigaden, zumal jene, die Busch 1937 unter den Bomben der franquistischen Luftwaffe in Barcelona einsang und die – auf mehrere Schallplatten gepresst – so etwas wie ein internationales Hit-Album des Bürgerkriegs wurden. Was dagegen fast völlig fehlt, sind die Lieder der spanischen AnarchistInnen. Diese waren jedoch oft die Hauptakteure und -akteurinnen der revolutionären Ereignisse, und ihre kulturelle Produktivität übertraf jene der anderen politischen Fraktionen bei weitem.Ganze drei Lieder (!) sind in die Sammlung aufgenommen worden, und zwei davon sind auch noch die zentralen Hymnen der Bewegung: „Hijos del Pueblo“ [‚Söhne des Volkes‘] und „¡A las Barricadas!“. Lieder also, die man wirklich schlecht hätte auslassen können, die aber naturgemäß auch wenig neue (Er)Kenntnisse über die Musik des Bürgerkriegs vermitteln.
Wie dürftig Scheberas Kenntnisse über die anarchistische Bewegung Spaniens und ihre Lieder tatsächlich sind, offenbaren seine auffällig knappen Anmerkungen. So soll „Hijos del Pueblo“ zum Beispiel „1931 für den Gewerkschaftsverband CNT“ entstanden sein. Tatsächlich stammt das Lied aus dem 19. Jahrhundert. Es wurde erstmals auf dem Segundo Certamen Socialista, einer kulturellen Großveranstaltung der Bewegung in Barcelona im Jahre 1889, öffentlich vorgeführt, wurde quasi über Nacht berühmt und spiegelt in seinem Text das damals dominierende „kulturalistische“ Politikverständnis der sogenannten „Anarchokollektivisten“ wieder. Die CNT wurde erst 21 Jahre später gegründet.
Ein Ausrutscher? Eher nicht.
Denn auch Scheberas Informationen zu „¡A las Barricadas!“, einem der berühmtesten anarchistischen Lieder überhaupt, sind eher kurios. Dessen Text entstand nämlich nicht, wie der Herausgeber behauptet, „unmittelbar nach Beginn des Franco-Putsches“, sondern wurde im November 1933 – also volle drei Jahre zuvor! – im Supplement der Zeitschrift der Federación Anarquista Ibérica (FAI), Tierra y Libertad [‚Land und Freiheit‘] veröffentlicht.
Was tatsächlich „unmittelbar nach Beginn des Franco-Putsches“ entstand, war eine kriegerische Umdichtung des Textes von „Hijos del Pueblo“ für die (bis zum Jahr 2010) letzte große Aufnahme beider Lieder mit vollem Orchester. Zwar stellt Schebera richtig fest, dass Text und Musik von „¡A las Barricadas!“ ein altes polnisches Arbeiterlied zugrunde liegt. Dessen Titel jedoch – „Waszawianka“ – kann er noch nicht einmal richtig schreiben. Eine solche Auflistung von Fehlern wäre nichts weiter als besserwisserische Erbsenzählerei, wenn „Spanien im Herzen“ nicht gleichzeitig bis weit über die Ellenbogen in die Wundertüte kommunistischer Bürgerkriegsmythisierung greifen würde und sich alle Mühe gäbe, diese – im wahrsten Sinne des Wortes – in leuchtenden Farben auszumalen.
Alle sind sie vertreten, die traditionellen Helden der Komintern: Hans Beimler, Ilja Ehrenburg, Arthur Koestler (später kommunistischer Dissident), Erich Weinert, Dolores Ibárruri, Ludwig Renn, Alfred Kantorowicz. Zum Teil werden sie im Begleitbuch mit seitenlangen Zitaten gewürdigt, und im Falle der Pasionaria Dolores Ibárruri, der Madonna der Kommunisten im Bürgerkrieg, wird der ganze Text auch noch in grellem Rot unterlegt. Miss zu verstehen ist hier wenig: Dies ist keine wertfreie Darstellung, dies ist ein heroisches Pantheon. Die exklusive Dominanz kommunistischer Bürgerkriegsdeutung ist nahezu bruchlos.
Vergleicht man darüber hinaus die präzisen und oft aufschlussreichen Informationen, die Schebera über Lieder und KünstlerInnen des kommunistischen Lagers zu bieten hat, mit seinen spärlichen, schlampigen und fehlerhaften Bemerkungen über die AnarchistInnen, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier ein weiteres Mal, wissentlich oder unwissentlich, politische Dominanzen festgeklopft werden – so aberwitzig dies nach 75 Jahren auch erscheinen mag.
„Spanien im Herzen“ hätte bei seiner politischen Gewichtung auch mühelos in der DDR veröffentlicht werden können.
Die gesamte kritische Bürgerkriegsforschung der vergangenen Jahrzehnte scheint an den Herausgebern der Box vorbeigegangen zu sein.
Die einzigen Autoren, die Schebera als Grundlage seiner Ausführungen zum Bürgerkrieg nennt, sind denn auch Brihuega und Bernecker – wichtige Autoren zweifellos, aber doch so etwas wie das kleine Einmaleins der Bürgerkriegsforschung.
Wer derartig lustlos die historischen Hintergründe seines Themas erarbeitet, läuft in der Tat Gefahr, parteiische Heldenmythen für die Wirklichkeit zu verkaufen. Angesichts des beträchtlichen Kaufpreises und des lobenswerten Aufwands, den das Bear Family-Label, wie gewohnt, für seine Veröffentlichung betrieben hat, sind solche Schwächen ärgerlich. Weil sie, schlicht und ergreifend, nicht nötig gewesen wären.
So ist „Spanien im Herzen“ leider nicht das erhoffte Referenzwerk zu den Liedern des Spanischen Bürgerkriegs geworden.
Was man vor sich hat, ist eine nützliche Sammlung politischer Lieder mit spürbar parteiischem Einschlag. Auf eine wissenschaftlich solide erarbeitete Materialsammlung mit verlässlichen Hintergrundinformationen wird man weiter warten müssen. Es sei denn, es gibt eine zweite Auflage.