Die gewaltfreie Anarchistin Aimée Köster (1) hat von 1919 bis 1924 mit Die Schaffende Frau eine der interessantesten deutschsprachigen Zeitschriften des 20. Jahrhunderts herausgegeben. Mit Untertiteln wie "Sozialistische Zeitschrift mit Modenbeilage" und "Zeitschrift für soziale Fragen, Pazifismus, Erziehungs-, Schul- und Frauenfragen, Moden neuer Richtung, Schneiderei und Handarbeiten" erschien das von ihr verantwortete anarchistisch-pazifistische Blatt. Der folgende Beitrag erschien zum 10. Jahrestag des Ersten Weltkriegs im August 1924 in Die Schaffende Frau Nr. 54 und ist auch heute, 100 Jahre nach dem Ersten und 75 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, erstaunlich aktuell. (GWR-Red.)
Die drei Worte „Nie wieder Krieg“ sind im Laufe der Jahre zu Schlagworten geworden.
Sie werden immer wieder in die Welt gerufen. Mit dem Motto: Nie wieder Krieg! werden Protestveranstaltungen abgehalten, Resolutionen gefasst, Zeitungsartikel geschrieben, erregte Diskussionen abgehalten, alles zu dem Zweck, die große Forderung: Nie wieder Krieg! in die Herzen und Hirne der Menschen einzutrichtern.
Und trotz dieser heißen und aufrechten Bemühungen überzeugter, idealistischer Menschen bin ich persönlich nicht ganz davon überzeugt, dass die Menschen sich bewusst sind, was sie, wenn sie in die Welt rufen: Nie wieder Krieg! verpflichtet sind, im Kriegsfalle zu tun.
Denn es wäre Unsinn zu glauben, dass die Regierungen bei plötzlicher Kriegsgefahr ihre kriegslüsternen Ideen fallen ließen und der Militarismus und seine Verfechter zur Einsicht kämen, einzig allein, weil eine bestimmte Anzahl Idealisten die drei Worte: Nie wieder Krieg! in die Welt gerufen haben.
Nein, eine Regierung kehrt sich nicht an Protestversammlungen, nicht die Regierung ist es, die die Worte: Nie wieder Krieg! zur Tat wird reifen lassen.
Nie wieder Krieg! Nicht Lippenbekenntnis, sondern Tat!
Zehn Jahre [Aimée Köster schrieb den Artikel 1924; Red.] sind es her, dass der große Krieg entbrannte, an dem alle Staaten, die daran beteiligt waren und sich seit Jahrzehnten zum Kriege gerüstet hatten, schuldig sind. Alle sind schuldig an dem Weltverbrechen, nicht nur Deutschland allein. Und deshalb will es eine gerechte Nemesis [Göttin der ausgleichenden Gerechtigkeit; Red.], dass kein Staat aus dem ungerechten und blutigen Kriege sich Lorbeeren geholt und seine Mitbürger glücklich gemacht hat.
Sogar das stolze und reiche Amerika hat wirtschaftliche Not, hat Erwerbslose, die nirgends unterzubringen sind, hat verzweifelte Menschen, die arbeiten möchten und nicht Arbeit finden können.
Diese Nachwirkungen des Krieges kennen wir alle: Und es ist nicht nur eine ethische, sondern auch eine durchaus wirtschaftliche und rechnerische Kulturfrage für jedes Land, dass die Kriege auch dann, wenn ein Land sich „angegriffen“ glaubt, abgeschafft werden müssen!
Keine noch so große Kriegsentschädigung von Seiten des Besiegten kann groß genug sein, um das Leid um die vielen Toten, Verwundeten, Verstümmelten, die Kriegsfolgen des Hungers, des Elends, der zerstörten Verbindung zwischen den Nationen zu stillen. Kein Sieg ist entscheidend genug, um die Lasten, die wirtschaftliche Vernichtung eines Landes zu entschädigen.
In wirtschaftlicher Hinsicht ist jeder Krieg ein vollständiger Konkurs. Übrigens ist es ein Unding, die Kriegsfrage rechnerisch beleuchten zu wollen, aber da die Kriege im Grunde genommen rein kapitalistisch sind und um materielle Fragen geführt werden, ist es auch logisch, den grundsätzlichen Rechnungsfehler der Kriege besonders hervorzuheben.
Jene Menschen aber, die den Ruf: Nie wieder Krieg! ertönen lassen, sind keine Rechner, keine Menschen, die die Kriege verabscheuen, weil sie den Staaten den gewünschten Nutzen nicht bringen.
Nein, die Präger und Verfechter dieser drei Worte sind Idealisten und verabscheuen den Krieg, weil der Krieg unmenschlich ist, weil der Krieg eine Kulturschande ist, weil der Krieger, der bewaffnet einem Menschenbruder gegenübersteht, den er nie gesehen hat, der ihm nie etwas zuleide getan hat, und den er auf Befehl eines Vorgesetzten kalten Blutes ermorden soll, ein seelenloser, grausamer, gewissenloser Missetäter ist.
Es ist eine unglaubliche Rohheit, wenn Nationen sich bekriegen und strategischer Vorteile halber den Kampf durch Niederträchtigkeiten, Spionage, Betrug, Verrat, Verhetzung, alle möglichen Lügen unterstützen, wobei der Volksbetrug und die Presselüge die größten Schändlichkeiten sind.
Ja, jene Menschen, welche protestieren gegen den Krieg, sind in den meisten Fällen Idealisten und handeln in vollster Überzeugung, auch wenn wir gegenwärtig keinen Krieg haben, und dieser Ruf ganz gefahrlos ist.
Ich selber halte ja diese Propaganda nicht gerade für aussichtslos, aber befürchte, dass auch hier in sehr vielen Fällen die drei Worte: Nie wieder Krieg! nur Worte bleiben werden und der Antimilitarismus nicht immer zur Tat reifen wird.
Aber die Worte: Nie wieder Krieg! dürfen nicht nur ein Lippengebet sein, man muss auch willens sein, im Falle eines Krieges seine Persönlichkeit für dieses Gelübde in die Waagschale zu werfen.
Der Aufruf einer italienischen Mutter gegen den Krieg
In dem schönen Aufruf einer Mutter, den ich auf der ersten Seite [dieser selben Ausgabe von „Die schaffende Frau“] veröffentlichte und der im Jahre 1918 im „Pionier“, einer sozialrevolutionären Wochenzeitung Berlins (2), erschien, wendet sich eine italienische Frau an die Menschheit, die wie sie den Krieg verabscheut.
Dieser Aufruf erschien in kriegsschwangerer Zeit, bewirkte die Beschlagnahme der betreffenden Nummer des „Pioniers“ und beglückwünschte den verantwortlichen Schriftleiter mit einer Gefängnisstrafe von einem Monat. Im Originaltext, der zur Zeit des tripolitanischen Krieges [1911-12 zwischen Italien und der Türkei, wobei Libyen von Italien besetzt wurde; GWR-Red.] in der italienischen Zeitung „La Pace“ veröffentlicht worden war, hatte das Prosapoem von der italienischen Zensur keine Beachtung erfahren. Ein Beweis, dass die kaiserliche Regierung in Deutschland bezüglich der Schärfe der Zensur immer einen meilenweiten Vorsprung hatte.
Selten hat wohl eine Frau heißere, überzeugtere Worte gegen den Krieg gesprochen als diese unbekannte Italienerin. Ja, sie belehrt die Frauen, wie sie ihre Sönne erziehen sollen, sie betont klipp und klar, dass der überzeugte Mensch die Pflicht hat, nicht nur den Krieg mit Worten zu verdammen, sondern auch für seine Überzeugung mit seiner Person einzustehen und jeden Gedanken an Teilnehmerschaft am Kriege fallen zu lassen. Diese Frau ist echt und groß, und ihre Worte sollten von jeder Mutter, von jedem jungen Genossen, jeder jungen Genossin auswendig gelernt werden.
Von den jungen Genossen zur eigenen Wegrichtung, von den Müttern, Bräuten und Schwestern als Warnungsruf im Falle, dass Sohn, Bruder oder Geliebter der antimilitaristischen Ideale untreu werden. Wir haben in Deutschland auch Kriegsgegner gehabt. Mehrere sind mir dem Namen nach bekannt, viele natürlich haben einsam gelitten, sind einsam erschossen worden und haben, ohne dass ein Hahn nach ihnen krähte, geschweige eine weiche [sic!] Frauenhand ihnen die Augen zudrückte, einen furchtbaren Tod gefunden, sind verurteilt, gemartert, erschossen worden von eigenen Volksgenossen.
Welch bitterer Tod! Und welche Schande für den Militarismus!
Die Entscheidung eines Kriegsdienstverweigerers im Angesicht des Mordens
Vielleicht ist es gut, wenn ich meinen Leserinnen die Geschichte eines Kriegsdienstgegners erzähle, der es gewagt hat, während der fürchterlichsten Zeit dem Scheusal Krieg die Stirn zu bieten. Ich erfuhr die Begebenheit aus dem Munde des Vaters dieses Soldaten, eines unserer aufrechtesten Genossen. Sein Sohn, ein junger Mann von etwa 24 Jahren, der eine junge Frau und einen kleinen Sohn hatte, wurde aufgefordert, sich seinem Regiment zu stellen.
Dieser junge Mann hatte eine durchaus antimilitaristische Erziehung erhalten. Der reine Sozialismus herrschte im väterlichen Heim und jeder, sowohl Vater als Sohn, waren fest entschlossen, im Kriegsfall keine Waffe zu ergreifen.
Als der junge Mann die Aufforderung bekam, begann der schwere Gewissenskampf. Er eilte zu seinem Vater und wollte sich Rat holen. „Was soll ich tun?“, fragte er den alten Vater. Erschüttert erwiderte dieser: „Ich weiß es nicht!“ – „Vater“, rief der Sohn, „Du hast mir gesagt, dass der Sozialist nicht zur Waffe greifen darf und jetzt versagst Du mir die Antwort!“ – „Ich kann Dir nicht raten“, erwiderte der Vater, „wenn Du in den Krieg ziehst, so handelst Du gegen die Grundsätze des Menschentums, gegen alles, was wir hochhalten und was wir glauben. Wenn Du in den Krieg ziehst, bist Du ein Abtrünniger unserer Weltanschauung. – Wenn du nicht hingehst, um Brüder zu morden, so wirst Du erschossen. – Weiß ich denn, was ich Dir raten soll, weiß ich denn, ob Du die Kraft aufbringst, Deine Weltanschauung hochzuhalten?“ – Stumm verflossen einige Minuten. Dann begann der Sohn von neuem: „Was tätest Du, Vater, an meiner Stelle?“ – Und wieder lautete die Antwort des alten Vaters: „Ich weiß es nicht – ich kann es nicht wissen!“
Der gerechte Krieg der christlichen Religionen
Dann erfolgte der Abschied, ein tränenloser, stummer, furchtbarer Abschied!
Der Sohn wurde Soldat. Solange das Regiment nicht an der Front war, tat der Soldat seine so genannte Soldatenpflicht. Monate verstrichen, ohne dass das Regiment Kanonendonner hörte. Als aber der Leutnant an einem schönen Morgen der Mannschaft erklärte, dass der nächste Tag die Feuertaufe bringen würde, trat unser Genosse vor die Front des Regiments und erklärte dem Leutnant, dass seine Weltanschauung ihm verbiete, auf Menschenbrüder zu zielen. Der Leutnant war wütend und ließ den widerspenstigen Soldaten abführen. In den nächsten Tagen bearbeiteten den jungen Genossen die Geistlichen beider Konfessionen. Der protestantische Pastor wechselte [sich] ab mit seinem Kollegen, dem katholischen Feldgeistlichen.
Jeder bemühte sich im Namen Gottes dem Soldaten zu erklären, dass es seine Pflicht sei, sich am Weltbrudermorde zu beteiligen. Aber keiner erreichte sein Ziel. Der Soldat blieb dabei, dass, solange man von ihm nicht verlangt habe zu morden, er seine Pflicht als Soldat getan habe, dass aber von der Stunde an, da sein Handwerk das eines Menschenmörders sein müsse, seine Menschenpflicht höher stände als die Soldatenpflicht.
Psychiatrisierung und Haft unter unmenschlichen Bedingungen
Als die beiden christlichen Seelsorger nichts erreichten, versuchte man es mit einem Irrenarzt. Dieser untersuchte den jungen Mann darauf hin, ob seine intellektuellen Fähigkeiten nicht Schaden gelitten hätten. Aber sowohl der Leutnant als auch seine anderen Vorgesetzten mussten zugeben, dass unser Genosse ein gehorsamer, pflichttreuer Soldat sei, leider aber habe er ganz „verworrene“ Ansichten. Und dann kam der Schluss. Kriegsgericht und Verurteilung zu 11 Monaten Festungshaft. Während dieser Haft litt der junge Mann furchtbar. Kälte, Hunger, harte Arbeit, Strapazen jeder Art wurden sein Los. Jeden Monat hatte er die Erlaubnis, Post zu empfangen und Post abzusenden.
Die Nachrichten aus der Heimat lauteten tieftraurig, der Krieg wütete weiter, der Hunger herrschte im Land, das deutsche Volk war stumm geworden.
In der Festung aber herrschte die Willkür, die Grausamkeit des Militarismus, die entmenschte Tyrannei. Langsam, langsam verstrichen die 11 Monate. Als die Haft vorüber war, wurde der Soldat in seine Heimat gebracht. Er war so geschwächt, dass seine Beine ihn nicht mehr tragen und er nicht mehr aufrecht stehen konnte. Eine Stunde gab man ihm Zeit, um unter Aufsicht eines Offiziers mit seinen Eltern, seiner jungen Frau und seinem Kind Rücksprache zu halten. Dann wurde er ins Lazarett befördert. Hier wurde er, soweit es möglich war, gesund gepflegt. Und seine Angehörigen hatten die Erlaubnis, ihn ab und zu zu besuchen. Als er halbwegs gesund war, fing der Tanz um seine Seele wieder an. Aber jetzt war er noch fester, entschlossener als je, nicht nachzugeben. Die 11 Monate der Tortur und der Willkür sollten nicht umsonst gewesen [im Original: gebracht; Red.] sein. Allerdings konnte er nicht daran zweifeln, dass eine neue Verurteilung den Tod bedeuten würde, denn sein geschwächter Körper konnte die gleichen seelischen und körperlichen Erschütterungen nicht noch einmal ertragen. Aber jetzt geschah ein Wunder. Man steckte den Soldaten nicht mehr ins Heer, sondern beförderte ihn zum Eisenbahner. Hier blieb er bis zum Kriegsabschluss.
Wahrscheinlich hatte der Vorgesetzte seines Regiments nicht mehr gewagt, diesen unnachgiebigen Antimilitaristen wieder ins Regiment zu stellen. Die Propaganda dieses unentwegten Kriegsdienstgegners erschien dem militärischen Vorgesetzten als zu gefährlich.
Kriegsdienstverweigerung aus Überzeugung
Dies ist ja nicht das einzige Beispiel, dass ein deutscher Soldat aus Verantwortungsgefühl, aus Überzeugungstreue sich geweigert hat, auf Menschenbrüder zu schießen. Es ist aber unter vielen, die mir sonst bekannt wurden, der interessanteste Fall. Und zwar war die Verweigerung des Kriegsdienstes eine Folge der inneren Überzeugung. Wie viele haben sich geweigert, in den Krieg zu ziehen und bedienten sich dabei aller möglichen Listen. Die selbstbewusste, unzweideutige Weigerung vor den militärischen Vorgesetzten macht diesen Fall besonders hochwertig.
Ich vergaß zu erwähnen, dass der Vater des betreffenden Genossen versucht hatte, dieses Kriegsurteil im Auslande bekannt zu machen. Doch die Zensur gestattete ja keine Nachrichten ins Ausland. Und doch kam die Nachricht durch die List in die Schweiz und der ganze Fall wurde in der Schweizer Presse veröffentlicht.
Wenn man bedenkt, wie ein einziger Fall von entschlossener Kriegsdienstverweigerung Beispiel gebend wirken kann, so bedauert man besonders, dass so viel geredet und so wenig gehandelt wird, wenn der Moment da ist. Hundert und tausend junge und ältere Genossen demonstrieren: Nie wieder Krieg! und wie viele werden es sein, die auch mit ihrem Leben, mit ihrer Freiheit diese drei Worte zur Tat werden lassen, wenn einmal der Moment da ist?
Pfarrer [Leonhard] Ragaz, ein bekannter antimilitaristischer schweizerischer Pfarrer, hat einmal gesagt: Der Militarismus wird erst dann geschlagen werden, wenn zuerst einer, dann zehn, dann hundert, dann tausend für die Idee des Antimilitarismus gelitten und gestritten und ihre Freiheit hingegeben haben. So lange aber der Militarismus stärker ist als die moralische Kraft des Einzelnen, wird er auch nicht verschwinden. Und so ist es auch! Freilich ist es schwer, vor dem Kriegsgericht zu stehen und die Folgen der Kriegsdienstverweigerung auf sich zu nehmen, aber nur die furchtlose, aufrechte, entschlossene Weigerung, auf Brüder zu schießen, wird dem Militarismus zu Leibe rücken.
Bei dieser Gelegenheit erinnere ich noch einmal an das prächtige Buch „Friedenskrieger des Hinterlandes“ von Pierre Ramus [österreichischer gewaltfreier Anarchist, 1882-1942; Red.], das ebenfalls in ausführlichen Schilderungen die Kämpfe und Leiden eines Kriegsdienstverweigerers schildert.
Wer also in den letzten Wochen und Tagen in den Ruf: Nie wieder Krieg! gedankenlos oder überzeugungsvoll eingestimmt hat, dem erwächst die Menschenpflicht, im Kriegsfalle diesen Schwur auch mit seiner Freiheit zu betätigen. Und den Frauen erwächst die Pflicht, darauf zu wachen, dass ihre Söhne von Kindheit an begreifen und erfassen, wie viel daran liegt, die Worte: Nie wieder Krieg! auch wirklich zu leben!