Im September 2014 bereiste GWR-Mitherausgeber Mathias Schmidt die Ukraine und führte in Lwiw (Lemberg) für die Graswurzelrevolution das folgende Interview mit ukrainischen Anarchisten. (GWR-Red.)
Graswurzelrevolution (GWR): In Deutschland weiß man allgemein sehr wenig über anarchistische Zusammenhänge in der Ukraine. Was für Gruppen gibt es? Was machen diese Gruppen?
A: Es gibt einige Gruppen in Kiew, aber auch in anderen Städten. Diese sind anarchistisch oder anders links und nicht-autoritär. Es wird momentan darüber diskutiert, dass man mit den autoritären Gruppen nicht zusammen arbeiten sollte. Manche von denen würden nämlich gerne ins Parlament gehen und unterstützen die Volksrepubliken Donezk und Lugansk. Manche linke Gruppen wollen beim Parlament auf gar keinen Fall mitmachen; andere wiederum wollen auf jeden Fall die Zentralregierung der Ukraine unterstützen. Die Anarchisten finden aber keine dieser Fraktionen in Ordnung. Weder die ukrainische Regierung mit ihren Anti-Terror-Operationen, noch die Bewegungen im Osten finden Zuspruch. Da gibt es dann noch eine Gruppe in Kiew und Charkow, das sind Anarchosyndikalisten, die heißen Autonome Arbeiter Union. Außerdem gibt es kleinere Zusammenhänge, die sich aber eher in Bezugsgruppen organisieren, darunter diverse linke und feministische Strömungen. Insgesamt ist man aber eher für sich und die einzige landesweite linke Organisation ist die kommunistische Partei, aber da will keiner mitmachen. Die sind seltsam, recht beschissen und im Parlament. Das ist einfach ziemlich autoritär bei denen.
GWR: Gab es auf dem Maidan auch Anarchistinnen und Anarchisten?
A: Ja, die gab es, aber die waren nicht in Gruppen organisiert. Da wurde auch viel diskutiert, ob man da hin muss oder gar nicht hin darf. Ich glaube, dass die Autonome Arbeiter Union erst dagegen war. Als es die ersten Toten gab, wurde befunden, dass das jeder für sich selbst ausmachen muss. Auf dem Maidan waren auch viele Rechte, insbesondere vom Rechten Sektor, aber zu der Zeit wurde eine Art Burgfrieden geschlossen: Wir mögen uns nicht, aber wir bekämpfen uns jetzt nicht.
Als Linke dann auf dem Maidan eine Selbstverteidigungsgruppe aufgebaut hatten, wurden sie dann doch von den Rechten angegriffen. Allgemein war es eher schwierig dort klare linke Positionen zu vertreten. Beispielsweise hatten ein paar Leute Poster über Gender aufgehängt und diese wurden dann auch von den Rechten dumm angemacht. Es kam immer wieder zu Schlägereien.
GWR: Die Leute auf dem Maidan waren in ihrer Agenda sehr unterschiedlich, ihr gemeinsamer Nenner war lediglich, dass sie gegen Janukowitsch sind.
A: Ja, das hat ja mit dem Versprechen von Janukowitsch angefangen, dass er die Verträge mit dem Westen unterschreiben würde. Das hat er dann kurzfristig widerrufen und darauf sind dann ein paar Studenten auf den Maidan gegangen. Die Polizei hat diese dann in der Nacht verprügelt. Da gab es dann große Empörung darüber und die Masse an Leuten kam erst darauf. Viele Leute konnten Janukowitsch nicht leiden, aber im Osten hatte er anfangs noch Rückhalt. Später hat er aber auch da an Boden verloren und in Donezk gab es Kundgebungen gegen ihn.
GWR: Nach Janukowitsch haben die Leute dann Poroschenko zum Präsidenten gewählt. Poroschenko hatte aber auch unter Janukowitsch schon einflussreiche Positionen in der Politik inne. Er ist Chef des Schokoladenkonzerns Roshen, ist zu großem Wohlstand gekommen und konnte auch seinen politischen Einfluss unter Janukowitsch ausbauen. Warum wurde er und nicht jemand ganz anderes gewählt?
A: Mich hat das auch überrascht. Auf dem Maidan war Poroschenko auch eher ruhig. Es gab diese drei Anführer von den Oppositionsparteien: Klitschko, Jazenjuk und Tjahnybok.
Diese haben dann aber die Erwartungen der Leute auf dem Maidan enttäuscht. Und untereinander konnten sie sich auch nicht drauf einigen, wer der Anführer sein sollte.
Klitschko hat sich beispielsweise auch in die Kampfhandlungen direkt eingemischt und wollte diese stoppen, aber die Leute haben ihn dann weggeschickt. Er stellte auch früh klar, dass alle seine Stimmen an Poroschenko gehen würden, weil die Zeiten eben hart seien und man zusammenhalten müsse.
GWR: Klitschko ist mittlerweile Bürgermeister in Kiew. Es sind aber immer noch Leute auf dem Maidan und Klitschko hat versucht den Platz räumen zu lassen. Was für Leute sind das und warum will Klitschko sie vertreiben?
A: Da war ich nicht dabei. Ich habe gehört, dass auf dem Maidan vor allem noch Marginalisierte sind. Es gab ja immer etwas zum Essen und zu Trinken da und das hat auch viele sehr arme Menschen angezogen. Jetzt ist Janukowitsch weg und die Mehrheit denkt, dass der Maidan nun auch aufhören kann. Auch die Selbstverteidigungsgruppen wollten noch länger bleiben, aber aus anderen Gründen. Die älteren Leute wollten einfach, dass Janukowitsch verschwindet und nun ist er weg. Andere wollten aber etwas Besseres. Viele vom Maidan sind nun selbst in der Regierung und das finden nicht alle sonderlich revolutionär.
GWR: Am 24. August 2014 – dem ukrainischen Unabhängigkeitstag – hat Poroschenko in Kiew eine pompöse Militärparade veranstalten lassen. Gleichzeitig wird im Osten des Landes hart gekämpft und Leute sterben.
A: Das ist militaristische Propaganda. Poroschenko wollte zeigen, was man nicht alles an militärischer Ausrüstung hat und wie stark die Armee ist. Die freiwilligen Kampfverbände, die für die ukrainische Zentralregierung in den Osten gezogen sind, haben sich darauf in den Medien über ihre schlechte Ausrüstung beschwert. Ein Freiwilligen-Bataillon wurde von den pro-russischen Separatisten eingeschlossen und forderte, dass die reguläre Armee sie da rausholen soll. Die haben sich im Stich gelassen gefühlt. Putin veranlasste daraufhin, dass es einen Korridor geben soll, damit das Bataillon abziehen kann. Auf dem Weg aus der Kampfzone heraus wurden sie aber trotzdem angegriffen. Die Leute vom A3OB-Bataillon (1), die vorher auch auf dem Maidan gekämpft haben, drohten daraufhin, dass sie einen neuen Maidan gegen Janukowitsch organisieren würden. Janukowitsch hat die Armee in einem desolaten finanziellen Zustand überlassen. Nun fehlt es an Geld und man ist auf finanzielle Hilfen von außerhalb angewiesen.
GWR: Was für Leute sind das, die freiwillig gegen die pro-russischen Separatisten kämpfen?
A: Das ist ganz unterschiedlich. Überwiegend sind das sehr rechte Leute. Es gibt aber auch ein sogenanntes „antiimperialistisches Bataillon“. Mit denen gab es auf dem Maidan auch schon Probleme. Die sind im Kern auch rechts, aber sie benutzen ein paar Zitate von Bakunin und Kropotkin und gleichzeitig von Bandera (2) und Hitler. Sie nennen sich nicht selber so, aber manche Leute bezeichnen deren Konzept als „anarcho-nationalistisch“. Das sind sehr rechte Leute, die ein paar linke Ideen angenommen haben. Für mich sind die nur rechts und man braucht die nicht unterstützen.
GWR: Momentan sieht man in der Stadt sehr viele nationale Symbole. An Häusern, Autos und öffentlichen Plätzen weht die Nationalfahne. Man kann überall Fahnen, Sticker, Buttons und diversen nationalen Merchandise kaufen. Es gibt auch ein Armeezelt, wo Geld für Soldaten und die hinterbliebenen Familien gesammelt wird. Auch Swoboda (3) hat einen Stand in der Innenstadt und es gibt ein Cafe des Rechten Sektors mit Bandera-Dekoration. Letzte Nacht habe ich auch Angehörige vom A3OB- und Donbass-Bataillon gesehen. Ist diese Omnipräsenz des Nationalistischen neu oder war das schon immer so?
A: Das ist in den letzten Monaten ganz stark angestiegen. Lwiw war aber immer schon Hochburg der Nationalisten. Die Leute unterstützen die Armee sehr stark hier. Es gab vor ein paar Wochen diese SMS-Aktion: Man kann eine SMS mit dem Inhalt „ARMEE“ an eine Nummer schicken und damit Geld spenden. Da ist dann über eine Millionen Griwna zusammengekommen. Viele Leute erklären sich auch dazu bereit, freiwillig Ausrüstung für die Armee zu kaufen. Da wollte eine Gruppe von Leuten Schutzwesten für die Soldaten besorgen. Die sind in Polen aber viel billiger als hier. Sie sind dann mit dem Bus nach Polen gefahren und mussten alle diese Westen selber im Bus am Körper tragen, weil die Einfuhr von Rüstungsmaterial eigentlich verboten ist.
GWR: Was muss passieren, damit die Situation besser wird? Was würdest du dir wünschen?
A: Am besten wäre es, wenn Poroschenko und Putin miteinander sprechen und die Kämpfe aufhören. Das Gesetz über das Verbot oder die Diskriminierung der russischen Sprache muss auch aufgehoben werden. Das ist ein Problem und Russland kann damit auch ganz stark Propaganda machen. Diese Spaltung ist aber auch schon in den Köpfen der Leute drin: Wenn man in Lwiw in einem Geschäft Russisch spricht, wird man manchmal nicht bedient. Umgekehrt kann es auch passieren, dass man nun auf der Krim nicht bedient wird, wenn man Ukrainisch spricht. Das ist mir auch schon persönlich passiert.
GWR: Möchtest du den deutschsprachigen Anarchistinnen und Anarchisten noch etwas mitteilen?
A: Ja! Unterstützt den Krieg nicht! Wenn beide Seiten schlecht sind, muss man sich nicht für eine Seite entscheiden.
GWR: Vielen Dank für das Interview!