anarchismus

Anarchistisch älter werden

Wie geht das?

| Gerald Grüneklee

"Wer mit sechzehn nicht Anarchist ist, ist ein Idiot. Aber wer es mit 40 noch ist, ist es auch", so der französische Politiker Georges Clemenceau (1841-1929). Tatsächlich scheint Anarchismus vielen im Nachhinein eher eine peinliche, pubertierende "Jugendsünde" zu sein, was aber wohl eher mit einem sehr begrenzten Verständnis von Anarchismus zusammenhängt. "Der Anarchismus ist generationsübergreifend und hält jung. Es ist nie zu spät, Anarchist oder Anarchistin zu werden", meint demgegenüber Bernd Drücke (1).

In einer Veranstaltung auf dem anarchistischen Sommercamp 2014 wollten wir der Frage nachgehen, warum doch anscheinend meist relativ wenig angegraute Menschen im anarchistischen Milieu sichtbar sind (2). Folgende Thesen dienten zunächst der Veranstaltungsvorbereitung, sie wurden dann von mir ergänzt um Aspekte, die im Rahmen der Diskussion angeschnitten wurden (3).

1. Anarchismus ist historisch keine „Jugendbewegung“

Auch aktuell ist die anarchistische Bewegung an den weltweit wenigen Orten, wo es eine lange durchgängige anarchistische Tradition gibt (z.B. Carrara/ Italien), erkennbar generationsgemischt. Jedoch scheint der Anarchismus weltweit männerdominiert zu sein – ein bislang ebenfalls zu wenig reflektierter Umstand.

2. Im deutschsprachigen Raum ist das, jedenfalls nach der optischen Wahrnehmung, anders.

Hier wirkt offenbar noch die Geschichte des Nationalsozialismus nach: stärker noch als z.B. in Italien wurde im deutschen Faschismus (2.Weltkrieg) eine ganze Generation „verheizt“.

Nach 1945 gab es in der BRD nur wenige überlebende „Alt-Anarchisten“, die Organisationen aufzubauen versuchten, bis auf wenige Ausnahmen jedoch den Kontakt zur heranwachsenden Jugend nicht (mehr) fanden. So gingen auch diese Versuche langsam ein, bis es ab 1968 eine gewisse Renaissance gab, jedoch als Neuorganisierung im Zuge der StudentInnenbewegung, wiederum ohne Kontakte zu den NS-Überlebenden. Aufgrund des Faschismus wurden zudem ältere Menschen vielfach pauschal der Nähe zum NS-System bezichtigt. Folge war ein starkes Abgrenzungsbedürfnis.

Erst die Geschichtswerkstätten in den 1980er Jahren versuchten vor Ort wieder in größerem Umfang überlebende (antifaschistische) AugenzeugInnen aufzutun, die nun allerdings nach und nach wegstarben.

3. Eine weitere anarchistische „Welle“ gab es im deutschsprachigen Raum (Österreich, Deutschland, Schweiz) ab 1980, vor allem im Zuge der HausbesetzerInnenbewegung. Diese setzte sich vielfach vom „Habitus“ (Kleidung, Sprachgebrauch, ästhetische Gestaltung der Treffpunkte etc.) stark von den „Älteren“ ab, so dass dies wiederum eine „Jugendbewegung“ blieb. Lange Jahre wirkte ein „linksradikaler Dresscode“ ausgrenzend.

4. Die starke „subkulturelle Inszenierung“ hatte zur Folge, dass es vielen im Zuge des Älterwerdens nicht mehr attraktiv schien, an der „Szene“ teilzuhaben (z.B. schmälerten Beruf, Kinder etc. auch die zeitlichen Möglichkeiten, an zähen, oft zeitlich ausufernden Plena und nächtlichen Konzerten etc. teilzunehmen. Der stark informelle „Touch“ der Szene (wer nicht „gesehen“ wird bei den einschlägigen Demos und Veranstaltungen ist nicht richtig „dabei“, vom Informationsfluss ausgenommen etc.) tat ein Übriges. Anarchismus wurde daher nicht mehr als eine Praxis angesehen, die über das Ende des Studiums bzw. den Eintritt ins Berufsleben hinaus lebbar ist.

5. Demgegenüber fällt bei Gesprächen auf, dass viele Ältere die anarchistische Theorie bis in die Gegenwart richtig finden.

Punktuell sind diese Menschen dann durchaus mobilisierbar (etwa bei Kampagnen gegen Gentrifizierung und Atomkraft, Themen also, die die Lebenswelt über die Generationen hinweg berühren), allerdings scheinen die „Älteren“ oft nicht mehr an vielen Punkten zugleich aktiv sein zu können/ zu wollen, sondern suchen sich eher für sie zentrale spezifische Themen/ Aktionsfelder aus.

In den wenigen Orten, wo es relativ kontinuierliche und größere von anarchistischen Gedanken mit getragene Zusammenhänge gibt (z.B. Hamburg, Berlin) sind noch vergleichsweise viele Ü40er/50er aktiv, Menschen also, die sich in den Bewegungen der 80er Jahre politisiert hatten.

6. Welche Beispiele zumindest zeitweise erfolgreicher anarchistischer Bewegungen fallen uns ein (ein sporadisches Beispiel wie das Stören eines Gipfels oder eine Nazi-Aufmarsch-Blockade zählt nicht!)?

Wenn wir zur Beantwortung dieser Frage mal locker drei Generationen in die Vergangenheit schauen müssen, dann ist klar, dass der Anarchismus ein ewiger Verlierer in der Geschichte ist. Kein Wunder, sind wir doch die ewigen „natürlichen“ Feinde jeder Macht, und ist herrschaftsförmiges Denken als vermeintlich „alternativlos“ doch in den allermeisten Hirnen fest verankert. Im Alltag müssen wir kleine Brötchen backen – eine starke Kluft zu den hohen Zielen und Idealen. Eine große Frustrationstoleranzgrenze ist da nötig. Nicht alle haben die psychische Struktur, „singend mit der Pfeife im Mund Niederlagen zu ertragen“ (4), ohne daran zu verzweifeln. Da ist es wenig erstaunlich, dass sich viele nach einigen Jahren der Aktivität resigniert oder ausgebrannt zurückziehen.

Unter diesen Umständen ist die „Szene“ von hoher Fluktuation gekennzeichnet. Kontinuierlichere Strukturen gibt es kaum.

7. Aufgrund von Unverbindlichkeit und Frust, allzu wenigen Aktiven (die sich oft zu viel aufbürden), Erfolglosigkeit und Perspektivlosigkeit etc. überfordern sich viele derer, die sich über einen längeren Zeitraum in der anarchistischen Bewegung engagieren – physisch, psychisch, finanziell. Ein „Ausstieg“ erscheint vielen als einzig mögliche Konsequenz. Ein blinder Fleck ist auch der hohe Anteil jener Menschen in linken und alternativen Bewegungen die regelmäßig Drogen konsumieren, Psychiatrieerfahrungen haben etc. – auch wenn es dafür natürlich mehr Ursachen gibt als die latente Überforderung, so sollte dies allein schon Grund genug sein, über Auswege und Perspektiven nachzudenken, die aus einer offenkundig verfahrenen Situation hinausführen.

8. In eine zusätzliche Falle scheinen wir oft mit einem unreflektierten Autonomie-Begriff selbst zu tapsen: wenn Menschen soziale Wesen sind, so beinhaltet dies auch, dass sie voneinander abhängig und mit zunehmendem Alter hilfsbedürftig werden.

Diese Tatsache wird oft von AnarchistInnen ignoriert, Freiheit und Unabhängigkeit werden auf eine Weise idealisiert, die an das vom Marlboro-Cowboy in der Zigarettenwerbung verkörperte Bild denken lässt – und so nebenbei gesagt so auch leicht durch neoliberale Praxen der Individualisierung integrierbar ist.

Älterwerden (wie auch generell eine anarchistische Perspektive) erforderte also einen Freiheitsbegriff, der Autonomie nicht als Selbstzweck in den Mittelpunkt stellt, sondern stets in den Zusammenhang nötiger – und erstrebenswerter! – tragfähiger sozialer Bezüge stellt. Mit anderen Worten: das zugrunde liegende Menschenbild braucht eine zentrale Stellung in Diskussionen um anarchistische Perspektiven.

9. Gemeinschaft fällt nicht vom Himmel, das bekommen gerade diejenigen zu spüren, die versuchen, mal mehrere jener Menschen an einen Tisch zu bekommen, die sich anarchistisch nennen. Generell scheinen gegenwärtig gerade die bestehenden anarchistischen Strukturen im deutschsprachigen Raum einen stark individualistischen Touch zu haben. Aufeinander zuzugehen und dabei Kompromisse einzugehen scheint keine Stärke der Menschen im anarchistischen Spektrum zu sein – einer Szene, die zwar schnell von Solidarität, gegenseitiger Hilfe etc. redet, diese Begriffe aber selten definiert und füllt: von „freiwilliger Vereinbarung“ bleibt oft nur noch „freiwillig“ übrig, und so schafft sich jede/r ganz postmodern und „bedürfnisorientiert“ seine/ ihre eigene Welt und muckelt vor sich hin (Theorie ist ja ohnehin vielfach „verdächtig“). Gemeinschaftlichkeit jenseits der Klein- oder Patchworkfamilie muss heutzutage offenbar geübt – aber auch erlebt – werden, die Bereitschaft dazu scheint aber gering.

10. Um stabile anarchistische Strukturen zu bilden, die auch biographisch eine Einbindung über die Jahrzehnte hinweg ermöglichen wäre also nötig:

  • es als Bereicherung wahrzunehmen, sich (wechselseitig!) zwischen den Generationen auszutauschen und so von den unterschiedlichen Erfahrungen zu profitieren.
  • Begriffe wie Freiheit und Autonomie nicht zu verabsolutieren, sondern zu hinterfragen und um Aspekte wie Gegenseitigkeit, Sozialität, Bedürftigkeit etc. zu ergänzen.
  • unterschiedliche Aktions- und Interventionsformen als gleichberechtigt anzusehen (wie dies z.B. im Wendland bei den Protesten gegen die Castor-Transporte gelingt) – wer eine Hüft-Operation hinter sich hat, kann vielleicht nicht mehr an jeder Aktion auf der Straße teilnehmen, doch eine gute Infrastruktur bereitzuhalten und für Schlafplätze und warme – oder kalte, je nach Jahreszeit – Getränke zu sorgen ist nicht minder wichtig. Ebenso legitim muss es sein, sich „Auszeiten“ zu gönnen.
  • einen „identitären Anarchismus“ (über Lifestyle-Attribute wie z.B. Kleidung nach außen getragen, weniger über Positionen/ sichtbare Aktionen) in einen „inhaltlichen Anarchismus“ zu überführen, in dem sich Menschen unterschiedlichen Alters wohlfühlen und bei dem es nicht auf das Aussehen, körperliche Agilität etc. ankommt.
  • generell Praxen nicht-ausgrenzender Verhaltensweisen und gegenseitiger Akzeptanz sowie eines wohlwollenden Miteinanders zu entwickeln, in denen „Detailfragen“ vielleicht nicht ganz so wichtig sind und eine hundertprozentige Übereinstimmung auch nicht erforderlich ist, ohne deshalb entweder Widersprüche zu ignorieren oder sich gleich wieder zu spalten.
  • die vorangestellten Aspekte als Voraussetzung für den Aufbau tragfähiger Strukturen zu nehmen, die sowohl psychologische Perspektiven („ich fühle mich in diesen Strukturen wohl, weiß, dass ich geschätzt werde wie ich bin, und es ist nicht so schlimm, wenn ich es nicht schaffe, immer überall dabei zu sein“) und persönliche/ soziale Perspektiven (z.B. Mehrgenerationen-Wohnprojekte, Kommunen) wie auch ökonomische Perspektiven (z.B. selbstverwaltete Betriebe, Genossenschaften/ solidarische Ökonomie, „Projekte-Anarchismus“) beinhalten.

„Empörung alleine reicht nicht. Sie muss konstruktiv werden“, schrieben die GenossInnen vom A-Laden Berlin mal. Stimmt.

Denn eine politische Perspektive, die diese genannten Aspekte nicht als Grundlage hat, scheint mir eine Kopfgeburt zu sein. Die zentrale Frage ist also, wie aus den bisherigen gesellschaftlich wenig relevanten anarchistischen Fragmenten eine Bewegung entstehen könnte, die diesen hohen Ansprüchen Rechnung trägt, ohne angesichts oft trister Realitäten vorschnell wieder in Resignation umzuschlagen.

(1) in: Bernd Drücke (Hg.): Anarchismus Hoch 2 - Soziale Bewegung, Utopie, Realität, Zukunft; Karin Kramer Verlag, Berlin 2014, S. 47

(2) die Initiative zu dieser Veranstaltung und die Stichworte für den Ausgangspunkt der Diskussion kamen von M.K. von der anarchistischen Siebdruckerei Hönkeldruck, mit dem ich die Veranstaltung durchführte

(3) für wichtige Anmerkungen habe ich zudem Antje Schrupp, Claus Kristen und Uwe Kurzbein zu danken

(4) Wolf-Dieter Narr, in: Anarchismus Hoch 2, s. Anm. 1, S. 168