bücher

Applaus dem Dingsda

| Joseph Steinbeiß

James C. Scott, Applaus dem Anarchismus. Über Autonomie, Würde, gute Arbeit und Spiel, Edition Trickster im Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2014, 175 Seiten

Das Ärgerliche an einem Missverständnis ist, dass für gewöhnlich alle Beteiligten in dem sicheren Bewusstsein auseinandergehen, sie hätten sich verstanden. Wer eine der mittlerweile in erstaunlicher Zahl auch auf dem deutschen Markt erscheinenden US-amerikanischen Veröffentlichungen zum Thema Anarchismus aufschlägt, sollte sich auf ein solches Missverständnis gefasst machen: Denn der Begriff Anarchismus bezeichnet in der (zumal akademischen) Kulturlandschaft der Vereinigten Staaten für gewöhnlich etwas ziemlich anderes als in Europa. Wir reden hier immerhin von einem Land, in dem sich einmal eine „Libertäre Partei“ zu nationalen Wahlen stellte, bestehend aus Reichen und Superreichen, deren Programm einzig darin bestand, keine Steuern mehr zahlen zu wollen.

So manch breitschultriger texanischer Truckdriver nennt sich in bester Überzeugung einen „revolutionären Anarchisten“, schlicht, weil er sich an keine Geschwindigkeitsbegrenzungen hält. Und tatsächlich gibt es bis heute viele in Europa lebende Amerikanerinnen und Amerikaner, die ihren Landsleuten jenseits des großen Teichs eine genetische Affinität zum Anarchismus nachsagen, eine Art angeborenen Freiheitsdrang und eine natürliche Neigung zu staatsferner Selbstorganisation, die sie gerne mit dem Erbe des American Frontier, der Cowboys, Trapper und Self-made-men erklären. Anarchismus wird in diesem Zusammenhang zu übersteigertem Individualismus, der auch noch zum nationalen Identitätszeichen hochgejubelt wird: zu einer Art Cowboyhut mit großem, schwarzem Stern.

Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat

Die politisch belesenen unter solchen Autorinnen und Autoren berufen sich für ihre wunderliche Nationalpathologie gerne (im Stillen oder ausdrücklich) auf einen Klassiker der anarchistischen Weltliteratur: Henry David Thoreaus „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat“. In diesem Text, der einen großen Einfluss auf das Politik- und Aktionsverständnis sowohl Mahatma Gandhis als auch Martin Luther King Jr. hatte, schildert ein Ich-Erzähler (vermutlich Thoreau), wie man ihn in den USA Mitte des 19. Jahrhunderts für einige Tage ins Gefängnis wirft, weil er sich weigert, eine neu erhobene Steuer zu bezahlen. Wer diese Verweigerung für sich genommen schon für anarchistisch hält, sollte den Text lieber noch einmal lesen. Denn das, was Thoreaus Aktion tatsächlich zu einem Akt des gewaltfreien, anarchistischen Widerstands macht, ist nicht seine Weigerung, Steuern zu zahlen, sondern seine Begründung dieser Weigerung und das politische Ziel, das er damit verfolgt – nämlich die Abschaffung der Sklaverei und der Widerstand gegen einen imperialistischen Krieg der USA gegen Mexiko. Der politische Gehalt einer Aktion ergibt sich aus ihrer Zielsetzung – und aus sonst gar nichts. Andernfalls müsste man wohl mit Fug und Recht die rechtsextreme Tea Party für ebenso anarchistisch halten wie Thoreau. Wer freilich glaubt, mit tausenden wohlhabenden Steuerbetrügern eine gerechtere, solidarische Gesellschaft aufbauen zu können, dem sollte man viel Glück wünschen – und ihm vielleicht noch rasch den Weg zur nächsten Nervenheilanstalt erläutern.

Thoreau mag so etwas wie der Stammvater des US-amerikanischen Individualanarchismus sein. Die Politik jedoch ist aus seinen Ausführungen „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat“ keineswegs gewichen. Die in der US-Amerikanischen Diskussion zurzeit wissenschaftlich dominierenden individualistischen und anthropologischen Strömungen dagegen drohen, den Anarchismus in aller Öffentlichkeit zu entpolitisieren.

Diesen Vorwurf muss sich – leider – auch James C. Scott gefallen lassen. Dabei ist sein Buch „Applaus dem Anarchismus“ eigentlich eine überaus erfreuliche Erscheinung.

Es ist witzig, geistvoll, anregend, angenehm zu lesen und voller interessanter Fakten und Ideen. Scott arbeitet als Professor für Politologie und Anthropologie an der US-amerikanischen Eliteuniversität Yale, einer konservativen Kaderschmiede, die erst vor einigen Jahren den anarchistischen Anthropologen David Graeber vom Hof gejagt hat. Vielleicht hat dieses Ereignis Scott vorsichtig werden lassen.

Nach eigener Aussage hat er die Skizze zu seinem Buch zwanzig Jahre lang (!) in der Schublade liegen lassen, ehe er sich dazu durchringen konnte, sie zu veröffentlichen. Es kommt in letzter Zeit ja auffällig häufig vor, dass sich vor allem in Würden ergraute Emeriti, also ordentlich pensionierte Professorinnen und Professoren, plötzlich zum Anarchismus bekennen.

Warum sie ihre revolutionäre Gesinnung zu ihrer aktiven Zeit im Hörsaal so schamhaft verborgen hielten, erörtern sie freilich nur selten. Mag sein, dass eine privilegierte Stellung auf Lebenszeit nicht unbedingt die politische Courage steigert. Aber das nur nebenbei.

Scotts Buch ist episodisch aufgebaut und geht im Grunde der Frage nach, was geschehen müsste (und historisch zuweilen auch geschah), um einen radikalen gesellschaftlichen Umbruch zu bewirken. Revolution bedeutet für Scott dabei vor allem einen Wandel der Perspektive.

Ein wichtiges Konzept, das er bereits im Rahmen seiner zu Recht viel beachteten Forschungen zu bäuerlichen Widerstandspraktiken auf dem asiatischen Kontinent in die wissenschaftliche Diskussion eingebracht hat, ist dabei das der „Infrapolitik“.

Mit Infrapolitik bezeichnet Scott Praktiken des Regelbruchs oder der Regeldehnung, deren Akteure gerade kein Interesse haben an einer wie auch immer gearteten Öffentlichkeit. Vor allem die schwächsten Mitglieder einer Gesellschaft bedienten sich, so Scott, infrapolitischer Praktiken, nicht selten aus purer Überlebensnotwendigkeit: „Unter Infrapolitik verstehe ich Aktionen wie Verzögerung, Wildern, Stibitzen, Verstellung, Sabotage, Desertion, Fernbleiben, Besetzung und Flucht“ (S. 18).

Wer an postkolonialer Theorie geschult ist, insbesondere an den wegweisenden, aber sprachlich garstigen Arbeiten Gayatri Chakravorty Spivaks, wird beim Lesen von Scotts Darlegungen des Öfteren in sich hinein schmunzeln: Die Subalterne kann also doch sprechen! Nur will sie es meistens gar nicht.

Denn infrapolitische Praktiken funktionieren nur so lange, wie ihre Akteurinnen und Akteure unentdeckt bleiben.

Sie sind daher, weit mehr noch als Formen des öffentlichen, politischen Protestes oder des offenen Widerstands, auf solidarische Netzwerke angewiesen, die sie stützen, decken oder auch von ihnen profitieren: „Man könnte sagen, dass historisch gesehen das Ziel von Bauern und subalternen Klassen darin besteht, in den Archiven nicht präsent zu sein. Wenn sie in Erscheinung treten, dann kann man ziemlich sicher sein, dass irgendetwas schrecklich schiefgegangen ist“ (S. 37).

Man hat es also letztlich mit einer Verdopplung der sozialen Ordnung zu tun: Auf der einen Seite gibt es die sichtbare, offizielle, nicht selten ästhetisierte Ordnung, die sich in Gesetzen niederschlägt, von Lehrern vermittelt und von Polizisten geschützt werden soll. Auf der anderen Seite jedoch gibt es auch die funktionale Ordnung, die das (Über)Leben einer Gesellschaft in Wahrheit sicherstellt.

Diese Duplizität der Ordnungen, so Scott, verschafft den niederen Schichten ihr politisches Gestaltungspotential: „[der] Grundrespekt für die Handlungsfähigkeit der Nicht-Eliten scheint nicht nur staatlicherseits, sondern auch durch die sozialwissenschaftliche Praxis verraten worden zu sein […] Je besser ein soziales oder wirtschaftliches Ordnungssystem geplant, geregelt und formalisiert ist, desto wahrscheinlicher ist es von informellen Prozessen abhängig, die das formale System nicht anerkennt, ohne die es aber nicht weiterexistieren könnte, Prozessen nämlich, die das formale System allein nicht hervorbringen und erhalten kann“ (S. 21, 69).

Scott macht überzeugend deutlich, dass infrapolitische Eingriffe nicht selten verantwortlich waren für den Ausgang großer politischer Konflikte. Etwa während des Amerikanischen Bürgerkriegs: Die Niederlage der Südstaaten sei in dem Moment besiegelt gewesen, als tausende von Soldaten desertierten, um sich an der Erntearbeit auf ihren kleinen Farmen zu beteiligen.

Sklaven konnten sich ohnehin nur die reichen Großgrundbesitzer leisten. Eine mögliche Aufhebung der Sklaverei berührte die einfachen Soldaten daher überhaupt nicht. Ohne die Jahresernte jedoch hätte das Überleben ihrer Familien auf dem Spiel gestanden. Diese Massendesertion sei, so Scott, gewiss kein bewusster, politischer Protest gewesen. Den Ausgang des Kriegs (mit)entschieden habe sie aber trotzdem. Auch die Differenz von sichtbarer und funktionaler Ordnung illustriert Scott an einer ganzen Reihe von Beispielen. Besonders erheiternd ist sein Bericht über einen „Streik“, der nur dadurch die Produktion lahmgelegt habe, dass die Arbeiter die Anweisungen ihrer Ingenieure bis aufs i-Tüpfelchen befolgt hätten. Sie wussten genau, dass die Regularien der sichtbaren Ordnung das Werk ins Chaos stürzen würden. Scott versteht die politische Entwicklung der letzten Jahrzehnte als großangelegten Versuch des Staates und der gesellschaftlichen Eliten, diese funktionalen Ordnungen zugunsten einer immer straffer und technischer werdenden zentralisierten, ästhetischen Ordnung zurückzudrängen. Hier setzt auch seine Forderung nach einem Wandel der Perspektive an: „[wir] machen alle gerne den Fehler, sichtbare Ordnung mit funktionaler Ordnung und sichtbare Komplexität mit Unordnung gleichzusetzen“ (S. 71).

Man kann Scotts Position mit einem recht banalen Beispiel verdeutlichen: Ein Paragraphenreiter, der nicht bereit ist, auch nur ein Jota vom formellen Gesetzestext abzuweichen, obwohl es dafür gute Gründe gäbe, maßt sich im Grunde eine Perspektive an, die ihm gar nicht zukommt. Denn eine sichtbare, ästhetische Ordnung erkennt man in ihrer Gesamtheit immer nur von oben – und von außen. Er sieht sich, dieweil er seine Mitbürgerinnen und Mitbürger schikaniert, also gewissermaßen auf dem Balkon des Königs, Präsidenten oder Industriekapitäns stehen. Dass er in Wahrheit nur ein Kraut im Garten der Herrschaft ist, kann er für den Moment vergessen.

Da die Nicht-Eliten in Scotts Modell die Kraft zur politischen Gestaltung bereits „von Natur aus“ haben, liegt ihr Problem somit vor allem in einer mangelnden Bewusstwerdung. „Applaus dem Anarchismus“ beginnt denn auch folgerichtig mit einer Episode, in der sich der junge Scott, zu Besuch im deutschen Osten, belehren lassen muss, er könne nicht einfach so bei Rot über die Ampel gehen, auch wenn weit und breit kein Auto zu sehen sei. „Warum eigentlich nicht?“, fragt er sich. Infrapolitische Regelverletzungen – wie etwa, bei Rot über die Ampel zu gehen – nennt Scott „anarchistische Freiübungen“ (S. 29).

Er hält sie für einen unverzichtbaren Beitrag zur Bewusstwerdung der eigenen Möglichkeiten, alternative Ordnungen zu verwirklichen. Denn Ideen und politische Strukturen entwickeln sich nach Scotts Überzeugung aus Handlungen, nicht umgekehrt: „[…] die großen emanzipatorischen Zugewinne für die menschliche Freiheit [sind] nicht das Ergebnis ordnungsgemäßer institutioneller Vorgänge, sondern [verdanken] sich den unordentlichen, unvorhersehbaren, spontanen Aktionen […], die die Sozialordnung von unten her aufgesprengt haben“ (S. 163). Also: Wenn wir von nun an alle brav bei Rot über die Ampel laufen, dann kommt die Anarchie, richtig?

Kinder, Kinder, Kinder.

Das Problem an Scotts auf den ersten Blick durchaus ansprechender Argumentation ist, dass er sein Augenmerk einzig und allein auf die Formen sozialer Aktionen richtet, und nicht auf deren Ziele. Fast möchte man meinen, die gesamte (durchaus anspruchsvolle) anarchistisch-anthropologische Forschung der letzten Jahrzehnte hätte sich zur Aufgabe gemacht, das alte Graffiti: „Anarchie ist machbar, Herr Nachbar“ wissenschaftlich zu untermauern. Nun ist es ja gewiss sehr schön zu wissen, dass es schon in weit zurückliegender Zeit herrschaftsfreie Strukturen, sagen wir, innerhalb der Kleinbauernschaft Indonesiens gab, oder dass in einer armen Kleinstadt auf Madagaskar die Bevölkerung chronisch an ihrem Bürgermeister vorbei entscheidet.

Bleibt nur die Frage: Was nützt das alles?

Die bloße Tatsache, dass Menschen sich zusammenschließen und sich etablierten Ordnungssystemen phantasievoll wiedersetzen können, sagt nämlich nicht das Geringste darüber aus, warum sie so etwas tun. Auch Scott ist natürlich klar, dass die funktionale Ordnung in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle die sichtbare Ordnung stützt, anstatt sie zu gefährden. Anarchistisch ist an ihrer bloßen Existenz gar nichts. Freie Zusammenschlüsse und infrapolitische Praktiken können ebenso gut dazu dienen, die Einrichtung von Flüchtlingsheimen zu verhindern, Arme aus wohlhabenden Stadtvierteln zu verjagen oder ausländische Gemüseläden in Brand zu stecken, wenn die eigene Fußballnationalmannschaft verloren hat. Mit fortgesetzten Verweisen auf eine vorgebliche kulturanthropologische Konstante des Anarchismus in der Menschheitsgeschichte lassen sich die drängenden politischen Probleme der Gegenwart weder lösen noch vernünftig angehen. Im Gegenteil: Bücher wie „Applaus dem Anarchismus“ erwecken – sicherlich, ohne es zu wollen – den Eindruck, als hätte Anarchismus mit Politik gar nichts zu tun; als gäbe es eine unerkannte, verdeckte, naturnotwendige Gemeinschaftlichkeit unter den Menschen, die man mit ein paar Übertretungen der Verkehrsregeln ins Bewusstsein locken kann – so man beim Überqueren der Ampel nicht doch überfahren wird. Es ist schon merkwürdig, dass Scott sich zu Recht gegen die Entpolitisierung wichtiger gesellschaftlicher Prozesse durch ihre Standardisierung, Technisierung und Quantifizierung wendet, aber nicht bemerkt, wie sehr er selber zur Entpolitisierung einer revolutionären Idee beiträgt. Wenn ein im Sinne Scotts, Graebers und anderer verstandener Anarchismus tatsächlich schon immer zur natürlichen Lebenswirklichkeit der Menschheit gehörte – wieso sieht dann die Welt so aus, wie sie aussieht?

Die Schwierigkeiten liegen längst nicht mehr darin, den Menschen bewusst zu machen, dass sie auf ihr Schicksal grundsätzlich Einfluss nehmen können. Die Schwierigkeiten liegen darin, Kriterien für eine wünschenswerte soziale Ordnung zu entwickeln und zu vermitteln, die das Überleben auf diesem Planeten vielleicht noch sicherstellen kann.

Dass so etwas nur in einem weiten, offenen, extrem konfliktbeladenen Diskussionsprozess über einen sehr langen Zeitraum hinweg (wenn überhaupt) möglich ist, weiß jeder, der sich auch nur einmal in ein Stadtviertelkomitee gesetzt hat. Die Entideologisierung des Anarchismus hat seiner sozialen Wirksamkeit gut getan. Seine drohende Entpolitisierung allerdings wird ihn von der soziokulturellen Landkarte verschwinden lassen.

Analytisch bietet „Applaus dem Anarchismus“ ohne Zweifel nützliche und originelle Geisteswerkzeuge (auch wenn Scotts „zweifaches Hoch auf die Kleinbürger“ (S. 106-123), die er unbedenklich mit den Kleinbauern zusammenwirft, eher albern ist).

Es finden sich sogar literarische Perlen, etwa Scotts beißende Satire über eine zukünftige Reform an seiner Universität Yale, in der die Quantifizierung menschlicher Leistungen endgültig Amok läuft und der Zitationsindex auf einem an der Stirn der Professoren angebrachten Minibildschirm permanent ablesbar sein wird. Politisch aber ist sein Buch, wieder einmal, ein eher trübes Produkt US-Amerikanischer Individualismusverherrlichung.

Applaudiert wird in „Applaus dem Anarchismus“ nicht dem Anarchismus als politischer Idee, sondern einem ungreifbaren, obskuren, anscheinend naturwüchsigen, unverbindlichen, weitgehend konfliktfreien Geistergebilde. Einem extrapolitischen Dingsda.