Die Kämpfe in der Ostukraine gehen weiter. Der Konflikt liegt zu tief im kollektiven Bewusstsein, um schnell am Verhandlungstisch oder mit der Waffe gelöst werden zu können.
Nahezu täglich wird noch auf dem Donezker Flughafen gekämpft. Trotz der offiziellen Waffenruhe wird hier weiterhin geschossen und gestorben, erobert und zurückerobert.
Hier geht es nicht um eine Landebahn und auch nicht um einen möglicherweise strategisch wichtigen Knotenpunkt. Es geht um die Deutungshoheit über die Geschichte, große Emotionen und Symbole, die nicht ohne die wechselseitige Historie der ukrainisch-russischen Beziehungen zu verstehen sind.
Das umstrittene Erbe des Kiewer Rus
Als ältester ostslawischer Staat gilt die im 9. Jahrhundert gegründete Kiewer Rus. Das Kerngebiet dieses Großreiches erstreckte sich in etwa über die heutigen Territorien von Belarus, der Ukraine und Westrusslands.
Das Erbe der Kiewer Rus wird bis heute insbesondere in Russland und der Ukraine kontrovers diskutiert, wobei selten valide historische Fakten ausgetauscht werden, sondern politisch motivierte Interpretationen der Geschichte miteinander konkurrieren.
Die russische Interpretation der Kiewer Rus geht von der Existenz eines „Altrussischen Volkes“ aus, welches sich aus der multikulturellen Bevölkerung (1) der Rus entwickelt hat. Vereinigende Elemente dieses Volkes waren die dominante slawische Kultur und seit 988 das Bekenntnis zum christlich-orthodoxen Glauben. Das Altrussische Volk bestand dieser Lesart nach aus drei miteinander verwobenen Strängen: den Russen, den Weißrussen und den Kleinrussen (2).
Da die Hauptstadt des Rus‘ anfangs das heute in Russland liegende Nowgorod war, wird „Kiewer Rus“ als irreführend wahrgenommen und die Bezeichnung „Altrussischer Staat“ bevorzugt. Nach dem Auseinanderfallen des Reiches sahen sich Moskauer Fürsten als einzig legitime Nachfolgeherrscher und begründeten das Großfürstentum Moskau, aus dem im Laufe der Geschichte die heutige Russische Föderation hervorging.
Der ukrainische Diskurs verweist dagegen, dass das Machtzentrum des Reiches in Kiew lag. Falls es einen legitimen Rechtsnachfolger des Großreiches gäbe, würde dieser demzufolge die Ukraine sein.
Im Gegensatz zur russischen These, dass die Ukrainer Partikularteilchen der Altrussen seien, versuchte der ukrainische Historiker und spätere Präsident der kurzlebigen Ukrainischen Volksrepublik Mychajlo Hruschuewskyj jeglichen Zusammenhang dieser Identitäten zu widerlegen. Ihm zufolge hätten sich Ukrainer und Russen seit jeher getrennt voneinander entwickelt und die Russen keinen nennenswerten Einfluss auf die Kiewer Rus gehabt.
Es verwundert daher nicht, dass seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 die Kiewer Rus häufig als rein ukrainisches Reich ausgewiesen wird.
Erinnerungen an Sowjetunion, Holodomor und Weltkrieg
Unter sowjetischer Herrschaft stand die formal unabhängige Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik de facto unter dem Einfluss Moskaus.
Um dem theoretischen Rahmen der sowjetischen Vielvölkerrepublik (3) zu genügen, wurde die russische These, dass Ukrainer, Russen und Weißrussen Subidentitäten der Altrussen waren, offiziell verworfen und diese drei Gruppen als sich jeweils eigenständig aus den Altrussen entwickelte Völker ausgewiesen.
Die Unterordnung Kiews unter Moskau wurde gemeinhin nicht begrüßt, jedoch mit dem Blick auf das Schicksal der anderen „autonomen“ Sowjetrepubliken als nicht direkt gegen die Ukrainer gerichtetes Unternehmen interpretiert. Anders verhält es sich bei der sowjetischen Hungersnot 1932-1933, die in der Ukraine als Holodomor (4) bezeichnet wird.
Diese durch wirtschaftliche Fehlplanungen hervorgebrachte Hungerkatastrophe kostete Millionen Menschen in der Ukraine das Leben. Die Schuld wird in der Ukraine der Zentralmacht in Russland zugeschrieben, während diese darauf verweist, dass in der Hungersnot auch viele Nicht-Ukrainer starben.
Bis heute bemüht sich der ukrainische Staat darum, dass der Holodomor als Völkermord an den Ukrainern international anerkannt wird. Umgekehrt bildeten sich unter deutscher Besatzung im Westen der Ukraine antisowjetische Partisanenverbände, die für eine unabhängige Ukraine kämpften und dabei zeitweise mit den Nazis kollaborierten.
Zwischen 1924 und 1954 wurden der Ukraine immer wieder Gebiete der Nachbarstaaten zugeschlagen oder aberkannt. Die 1954 von Chruschtschow an die Ukraine „übergebene“ Krim ist dafür das wohl prominenteste Beispiel.
Durch die häufige Verschiebung von de facto bedeutungslosen Grenzen innerhalb der Sowjetunion und der regional gezielten Ansiedlung von Russen in der Ukraine, bildeten sich zwischen Russen und Ukrainern Verwandtschaften über Staatsgrenzen hinweg aus.
Nach dem Kollaps des realexistierenden Sozialismus und der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 wurden die Menschen durch Grenzen getrennt, denen plötzlich wieder eine Bedeutung zukam.
Die Geschichte der ukrainisch-russischen Beziehungen liefern allerhand Material, um das jeweilige Gegenüber als feindlich wahrnehmen zu können – wenn man sich denn grundsätzlich auf das Konstrukt der Nation als „imaginierte Gemeinschaft“ (5) einlässt.
Bei diesem Konflikt geht es nicht nur um abstrakte Gebilde wie Staatlichkeit oder Rechtsnachfolgen, sondern auch um sehr handfeste Dinge: Glühende Nationalisten beider Lager zanken sich bis heute darum, ob nun Russen oder Ukrainer Wodka, Borschtsch oder Kwas zuerst erfanden.
In diesem Zusammenhang sind auch die Streitigkeiten über die Grenzziehung zwischen den Staaten zu verstehen.
Der stark emotionalisierte Streit um die kulturellen, rechtlichen oder identitären Zugehörigkeiten bestimmter Regionen im ukrainisch-russischen Grenzgebiet ist daher nichts Neues.
Die Geschichte liefert dabei einen umfangreichen Fundus an Untaten, die der Gegenseite vorgehalten werden können.
Separatisten, Soldaten, Rechtsradikale
Nachdem die Menschen vergangenen Winter auf dem Maidan Viktor Janukowitsch verjagt hatten, konstituierte sich eine Übergangsregierung, der neben pro-westlichen Parteien mit Swoboda auch eine offen rechtsradikale und russophobe Gruppierung angehörte.
Im überwiegend russisch geprägten Osten der Ukraine rief diese Entwicklung Ängste vor wirtschaftlichem Niedergang der Region und Diskriminierung durch ukrainische Rechtsradikale hervor.
Im Anschluss riefen bewaffnete separatistische Gruppen die Volksrepubliken Luhansk und Donezk aus, welche sich zusammen als „Föderativer Staat Neurussland“ bezeichnen und etwa 10% der Fläche der Ukraine ausmachen.
Der Begriff „Neurussland“ knüpft an die im 18. Jahrhundert so bezeichnete Grenzregion zwischen der Südostukraine und Russland an. Nicht zufällig ist Pawel Gubarew, seines Zeichens „Volksgouverneur“ von Donezk und Chef der „Volkswehr des Donbass“, Vorsitzender der „Partei Neurussland“, die u.a. vom russischen rechtsintellektuellen Alexander Dugin (6) gegründet wurde.
Vor seinem Posten in der Separatistenrepublik durchlief Gubarew zahlreiche politische Organisationen, darunter auch offen neo-nationalsozialistische Parteien wie der „Allrussischen Nationalen Einheit“.
Gubarews Schicksal als politischer Führer ist jedoch ungewiss: Seit Oktober 2014 liegt er nach einer schweren Verletzung im Koma.
Die beliebte rhetorische Figur der Separatisten, dass in Kiew eine „faschistische Junta“ regieren würde und man mit den Separatistenverbänden lediglich eine antifaschistische Gegenwehr aufgebaut hätte, läuft zumindest mit der Personalie Gubarew ins Leere.
Sowohl aus der Westukraine, als auch aus dem Kernland der Russischen Föderation reisen nationalistisch orientierte junge Männer gezielt in die Krisenregion, um mit der Waffe für ihre historische Wahrheit zu kämpfen und im Zweifel auch zu sterben.
Dabei wird das „Engagement“ der Freiwilligen gezielt dafür genutzt, besonders heikle Operationen zu unternehmen. Eventuelle Menschenrechtsverstöße können so schwieriger geahndet werden und menschliche Opfer fallen aus der offiziellen Statistik der Armee heraus. Der Tod der Freiwilligen wird auch billigend in Kauf genommen, da es für beide Zentralregierungen unvorteilhaft wäre, militärische Formationen im Nacken zu haben, die nicht nur bewaffnet und kampferprobt sind, sondern sich auch mit propagandistisch ausschlachtbaren „Erfolgen“ rühmen können.
Schon jetzt stehen Putin und Poroschenko innenpolitisch unter Druck. Ultrarechte Gruppen, die sich den Kampf bzw. die Verteidigung der Grenzregion auf die Fahne geschrieben haben, kritisieren das militärische Vorgehen der „eigenen“ Seite als zu nachsichtig. Eine totale militärische Eskalation des Konflikts dürfte jedoch nicht im Interesse der Zentralregierungen sein.
Ein für die offiziellen Führungen mögliches Zukunftsszenario, wäre ein eingefrorener Konflikt mit weitgehenden Autonomiezugeständnissen an die Volksrepubliken, bei offiziellem Verbleib in der Ukraine.
Eine gewaltfreie Perspektive?
Die eigentlichen Probleme wären damit selbstredend nicht gelöst. Man wird sich selbst mit viel gutem Willen sehr schwer damit tun, eine Einigung über die Zugehörigkeit der einzelnen Gebiete zu finden.
An dieser Stelle offenbart sich einmal mehr die Dysfunktionalität des Konzepts des Nationalstaats, der für sich beansprucht mit einer Zentralregierung alle Belange der als homogen angenommenen Bevölkerung regeln zu müssen – unabhängig ob das neue „Neurussland“ der Ukraine oder Russland zugestanden wird.
Wie kann eine gewaltfreie Perspektive in diesem kriegerischen Szenario aussehen?
Als erster Schritt muss an den Verhandlungstisch zurückgekehrt werden. Ein mit der Waffe erzwungener Siegfrieden hat noch nirgendwo einen ernsthaft demokratischen Neustart herstellen können.
Langfristig muss der Mythos der Nation dekonstruiert werden, bis sich langjährige Nachbarn nicht mehr als „imperialistische Russen“ oder „faschistische Ukrainer“, sondern als Mitmenschen, KollegInnen oder sogar PartnerInnen verständigen können.
Gewaltfreie AnarchistInnen sowohl in Russland, als auch in der Ukraine, lehnen das Vorgehen beider Konfliktparteien ab.
Anarchistische Bewegungen können in der Region ebenfalls auf eine eigene Geschichte verweisen. (7)
Eine eigenständige anarchistische Position, die alle Menschen primär als Menschen und nicht als Mitglied eines homogenen Volkskollektivs begreift, ist in der Region vorhanden. Leider ist sie viel zu leise, um den Lärm der Gefechte übertönen zu können.
(1) Die ersten Herrscher des Kiewer Rus waren aus Skandinavien stammende Waräger.
(2) Die Kleinrussische Identität wurde letztlich durch die Ukrainische Identität verdrängt.
(3) 1926 erfasste die Sowjetunion offiziell 194 verschiedene Ethnien. Die Sowjetführung verordnete von Oben eine Völkerfreundschaft, die durch inszenierte, vor Folklore strotzenden Ritualen ständig neu beschworen wurde. Vgl.: Uwe Halbach: Das Sowjetische Vielvölkerimperium, Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich 1992.
(4) Wörtlich: Hungertod. "Holodomor" steht sprachlich mit "Holocaust" nicht im Zusammenhang.
(5) Vgl.: Benedict Anderson (1983): Imagined Communities.
(6) Alexander Dugin, rechter Vordenker des russischen "Neo-Eurasismus", welcher Russland weder als europäisch, noch asiatisch, sondern als eigenständige kulturelle Einheit definiert. Durch das Errichten eines neuen Großrussischen Reiches soll eine Gegenmacht zu den USA hergestellt werden.
(7) Beispielsweise mit der nicht sonderlich gewaltfreien, aber immerhin basisdemokratischen Machnowtschina.