Buchgruppe Offene Arbeit (Hrsg.): Alles verändert sich, wenn wir es verändern. Die Offene Arbeit Erfurt im Wandel der Zeiten (1979-2014): Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg, Oktober 2014, 242 Seiten, 75 Abbildungen, 16,90 Euro, ISBN 978-3-939045-24-3
Die Räume der „Offenen Arbeit“ in der Erfurter Allerheiligenstraße waren überfüllt, als am 30. Oktober die Buchgruppe der OA das gerade gedruckte Werk „Alles verändert sich, wenn wir es verändern“ vorstellte. Alte Verbündete und frühere Erfurter waren z.T. weit gereist, aus Halle, aus der Schweriner Gegend, aus Berlin.
Wolfgang Musigmann erinnerte an das 1991 erschienene Buch „Offene Arbeit – Selbstauskünfte“, lange vergriffen. Zuerst war eine Überlegung, das Buch neu herauszugeben, aber die Entscheidung fiel dann, lieber die heutigen Probleme, Erfahrungen seit dieser Zeit in den Mittelpunkt eines ganz anderen Buches zu stellen.
Denn die Opposition der Offenen Arbeit gegen Hierarchien, Ausgrenzungen und Gewalt ist weiterhin notwendig, und so hat die Projektgruppe (Bernd Löffler, Renate Lützkendorf, Karl Meyerbeer, Wolfgang Musigmann und Matthias Weiß) aus dem Selbstauskünfte-Buch nur einige charakteristische Zitate übernommen und neben dem Rückblick eine problemorientierte Festschrift zum 35jährigen Bestehen der OA im Verlag Graswurzelrevolution veröffentlicht. Es ist ein schönes Buch geworden, mit vielen Fotos, Reproduktionen alter Plakate und der Titelseiten von Untergrundzeitschriften.
Zum Inhalt
Den Anfang macht ein langer und viele Aspekte der DDR-Gesellschaft, der Opposition, der kulturellen Umbrüche und jugendlichen Subkulturen behandelnder Artikel von Bernd Gehrke (1989 Mitbegründer der Vereinigten Linken und der Grünen Liga).
Wie kam es überhaupt, dass unter dem Dach der evangelischen Kirche in der etatistischen DDR ein solcher kritischer Freiraum für eine politisch-kulturelle Gegengesellschaft entstehen konnte, die sonst tabuisierte Themen aufgriff? Nach der militärischen Unterdrückung des Arbeiteraufstands vom 17. Juni 1953 war es zu einem dauerhaften Bruch zwischen der Bevölkerungsmehrheit, besonders der Arbeiterschaft, die offiziell die Legitimationsbasis der SED-Herrschaft bildete, mit der Diktatur gekommen (S. 24), die Milieus des proletarischen Widerstands wurden zerstört, dem Staat stand eine atomisierte und resignierte Mehrheit gegenüber; in der DDR beendete das Jahr 1968 (Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die CSSR) kollektive betriebliche Proteste. Gleichzeitig trugen Modernisierungsprozesse dazu bei, dass die Verbesserung des individuellen Lebensstandards als individueller Ausweg eröffnet wurde.
Zum bürokratisch-tayloristischen Modernisierungsschub gehört auch, dass die SED-Herrschaft verstärkt auf Prävention statt Repression setzte: Das expandierende Spitzelwesen sollte abweichendes Verhalten früh erkennen; dieses Verhalten wurde dann durch organisierte Misserfolgserlebnisse entmutigt, während Konformismus belohnt wurde, auch materiell. Von nun an waren es oft Jugendliche, die protestierten und vor allem einen subkulturell-transnationalen Lebensstil suchten; erste Ansätze dazu hatte die Beatkultur der 60er Jahre gezeigt, vom Regime noch durch „gewaltsames Haareschneiden, Schulrelegationen oder durch die Verurteilung zu ‚sechs Wochen Tagebau'“ (S. 33) geahndet.
Jugendliche, die noch nicht der sozialen Kontrolle in Betrieben unterlagen (und in der DDR war das soziale Leben weitgehend über die Betriebe vermittelt) erlebten die Widersprüche der DDR-Gesellschaft noch intensiver als die schon geschlagenen Eltern. Sie wagten Abweichungen und eine offene, manchmal demonstrative Identitätssuche, die sie oft auch nach „westlichen“ Medien und Modellen des „Aussteigens“ blicken ließ.
Vergleichbare Problemlagen entfremdeter Industriegesellschaften legten auch Protestformen und Fluchtversuche nahe, die manches gemeinsam hatten. Seit 1978 genoss die Evangelische Kirche in der DDR erweiterte Autonomierechte, in diesen Schutzraum drängten jene, die gegen Wehrkundeunterricht, Umweltzerstörung und individualistischen Konsum eingestellt waren, es entstanden auch in der DDR „neue soziale Bewegungen“. Vom Regime ausgegrenzte Gruppen der Intelligenz verbanden sich mit den jugendlichen Aussteigern und nicht integrierten Arbeiterjugendlichen zu den Bewegungen, die dann eine begrenzte Öffentlichkeit oppositioneller Strömungen erreichten und 1989 in einem kurzen Herbst der Anarchie ihre Forderungen nach einem repressionsfreien Leben auf die Straßen trugen.
Zuvor galt für große Teile der DDR-Gesellschaft, dass man öffentlich angepasst war und mitmachte was gefordert wurde, alles fassadenhaft: Man geht zur Wahl, man leistet Lippenbekenntnisse zur offiziellen Ideologie, das wirkliche Leben beginnt irgendwo jenseits davon in privaten Konsumsphären.
Ist es nicht heute in den Betrieben und öffentlichen Diskussionen ähnlich?
Einzelne Nonkonformisten, mutige Protestanten wie Walter Schilling, dessen Eltern der Bekennenden Kirche angehört hatten, der nicht in der DDR studieren konnte, sondern als Werkstudent nach Westdeutschland gegangen war, ein Nichtwähler, ein Anhänger Martin Luther Kings, der 1973 einen Deserteur auf Kirchengelände versteckte (alle Informationen aus Bernd Gehrkes Text über ihn im besprochenen Band S.225 ff), hielten der Repression stand und ließen für die unangepassten Jugendlichen „Rüstzeitheime“ wie in Braunsdorf zu einem Freiraum werden.
So wurde eine Jugendarbeit, die nicht missionieren oder reglementieren wollte, allmählich durchgesetzt und schließlich als „Offene Arbeit“ in Kirche und Gesellschaft geduldet, eine zwar „kirchlich angebundene, aber eigenständige und selbstorganisierte Bewegung“ (S. 54).
Offenheit bedeutete zunehmend: Die Marginalisierten nicht anpassen wollen, sondern eine Gesellschaft verändern, die ausgrenzt. Und so ging es bald nicht mehr um Jugendliche allein, diese wurden älter, blieben aber unangepasst. Von Thüringen aus verbreitete sich ein Netzwerk, das sich mit der „Kirche von unten“ in der Endphase der DDR sehr verbreitet hatte und Keimzelle vieler anderer Oppositionsgruppen war.
Heute existieren Gruppen der „Offenen Arbeit“ noch in Berlin, Erfurt und Jena, aber immerhin – die anderen Strömungen der DDR-Opposition sind verschwunden. „Nicht gedacht soll ihrer werden“ scheint der heimliche Lehrplan der Gedenktage zu sein; auch die BRD versteht sich gut darauf, die Opposition durch Mißerfolgserfahrungen zu entmutigen. Und Kohl läßt verlauten, die gesellschaftlichen Strömungen und Gorbatschows Politik seien ohnehin egal, die Staaten des Warschauer Pakts seien einfach ökonomisch „Am Arsch“ gewesen.
Das Buch läßt verschiedene MitstreiterInnen auf ihren Weg zur OA zurückblicken, fragt ob 1989 eine „Wende“ oder eine „friedliche Revolution“ (oder was sonst? Die Ansichten, wie die Erfahrungen seit 1989 zu beschreiben sind, gehen auseinander: Was ist der soziale Kern und welche Erfahrungen hält ein Begriff fest, welche schließt er aus?) stattgefunden hat, welche kritischen Punkte und positive Erfahrungen seitdem gemacht worden sind, erinnert an die Spitzel, die Besetzung der Stasi-Gebäude. Ein Kapitel voller Spannungen bildet auch das Verhalten der Punker in der eher von „Hippies“ geprägten Offenen Arbeit.
Der Band enthält viele programmatische und selbstkritische Texte, die den Begriff der „Offenheit“ mit neuem Inhalt füllen und sich den Problemen des Jahres 2014 (und weiter!) stellen. So diskutiert Matthias Weiß Probleme der Basisdemokratie, die Gefahr, dass Entscheidungsprozesse sich auf die Hauptamtlichen verlagern, Renate Lützkendorf fragt nach den Frauen und frauenspezifischen Themen, Bernd Löffler behandelt das Spannungsverhältnis AnarchistInnen – Kirche. Überraschend und erfreulich fand ich, wie positiv sich wichtige VertreterInnen der Kirche zur Offenen Arbeit äußern, etwa Elfriede Teresa Begrich: Sie sei „das Festhalten am ureigentlichsten Auftrag der Kirche“ (S.188).
Oder Heino Falcke, der mit Bonhoeffers Theologie klärt, was „Kirche für andere“ bedeuten kann und „ein paternalistisches, dirigistisches Fürsein von oben nach unten“ (S. 217) ausschließt. Kein Gottesglaube wird vorausgesetzt, aber auch der „Gewohnheitsatheismus“ muß sich mit Levinas in Frage stellen lassen.
Heutige Schwerpunkte sind: Antifaschismus, Antirassismus, Widerstand gegen Atomenergie und Krieg: „Die Offene Arbeit gehört zu jenen Gruppen in der Evangelischen Kirche, die nach wie vor für Konfliktlösungen ohne Gewalt und Militär stehen. Es geht um die Auflösung aller Armeen und die Abrüstung aller Waffen.“ (S. 130)
Aber es gibt immer auch ein konstruktives Programm: Bildungsarbeit, Angebote für Kinder, Jugendliche, alle, „die sonst keiner so richtig haben will. Die kein Geld haben für Räume, deren Ideen aus dem gesellschaftlichen Rahmen fallen, die bunt und anders sind.“ (Susann Hagen S.199).
Wie die Texte wurde auch der Abend der Buchvorstellung stark von der Frage nach den nächsten 35 Jahren bestimmt, die HerausgeberInnen hatten durch Lesungen und kurze Statements auch Probleme und mögliche Fehlentwicklungen zwischen Selbstbeschränkung und Hochglanzmarketing benannt, wie schwierig es ist, für neue Leute offen zu bleiben. Ihre Fragen, wie aus Konflikten zwischen verschiedenen Überzeugungen und Lebensstilen und Generationen etwas Produktives entstehen kann, zwischen politischen Ansprüchen und Wünschen nach einem Schonraum als Lebensmittelpunkt, sind auch für andere Gruppen wichtig. „Achtsame und antiautoritäre Spontaneität“ benennt etwa Karl Meyerbeer als politische Perspektive, mit Widersprüchen emanzipatorisch umzugehen.
Es wurde viel von den Rolling Stones gespielt an dem Abend, und obwohl ich sie für Betriebswirte halte, hat mir das gut gefallen, denn es hat mich an alte Zeiten erinnert. Und es gibt ja auch Zeilen in den Liedern, die immer passen: „You can’t always get what you want …“.
„Frei wie noch nie“ ist das Jahresthema der „Offenen Arbeit“; es geht um die Frage, wie Freiheit mehr sein/werden kann als die Wahl zwischen Konsumgütern.
Anmerkungen
Am 31. Oktober 2014 wurde in der Erfurter Michaeliskirche eine Ausstellung von MitarbeiterInnen der Offenen Arbeit eröffnet: "Herbst '89: Frei-Sein! Und heute?"
Zum Umgang mit der Freiheit
Die Ausstellung öffnet den Blick auf den Umgang mit der Freiheit. Hierbei geht es nicht um eine Analyse oder die chronologische Darstellung es Umbruches im Herbst 1989. Vielmehr geht es um die Sichtweise von Menschen, die sich aktiv an den Demonstrationen in Erfurt beteiligten. Für welche Freiheit haben sie sich vor 25 Jahren, was ist aus ihnen geworden und welche Sichtweise haben sie heute zur Freiheit.