antimilitarismus

Waffen für Rojava?

Widersprüche des linken "Antimilitarismus"

| Wallflower

In den kurdischen Siedlungsgebieten der Türkei, des Iraks, Irans und Syriens leben heute etwa 30 Millionen Kurdinnen und Kurden. Der Anteil Syriens an diesen Gebieten wird von den Kurdinnen und Kurden als Rojava (Westkurdistan) bezeichnet. Die Kantone Efrîn, Kobanê und Cizîrê stehen in Syrien als de facto autonome Gebiete unter kurdischer Kontrolle. Sie wurden von der kurdischen Partiya Yekitîya Demokrat (PYD), der christlichen, assyrisch-aramäischen Suryoye Einheitspartei und weiteren Kleinparteien während des syrischen Bürgerkrieges proklamiert.

Linke und libertäre Gruppen mobilisieren seit Wochen mit Flugblättern, Aufrufen, Demos, Veranstaltungen und in Diskussionen linker Zeitschriften für Waffenhilfe an Kobanê/Rojava in Solidarität mit der Verteidigung der dortigen "demokratischen Selbstverwaltung" oder gar "sozialen Revolution". Grundsätzlich ist die Bekundung internationaler Solidarität begrüßenswert, zeigt sie doch, dass die Kriege und Abläufe in anderen Teilen der Welt einem Teil der "Linken" nicht gleichgültig sind. Soweit besteht Übereinstimmung. Nicht jedoch bei einer einzigen, leider die Praxis dominierenden Form der Solidarität, konkret: bei der Forderung nach Waffenhilfe. (GWR-Red.)

Die Menschen in Kobanê/Rojava wählen die Formen der Verteidigung ihres Experimentes der demokratischen Selbstverwaltung selbst.

Allerdings werden sie von vielen Linken hierzulande oft für eigene politische Phantasien instrumentalisiert. Dabei ändern auch Besuche vor Ort kaum etwas, denn jede/r BesucherIn der deutschsprachigen Linken stellt die Situation gemäß der eigenen politischen Wunschwahrnehmung dar.

So schreibt etwa der Wiener Thomas Schmidinger zur Forderung nach alliierten Bodentruppen aus Kobanê: „Es bleibt unklar, ob diese nun von Seiten der kurdischen VerteidigerInnen der Stadt erwünscht sind oder nicht.“ (1)

Schmidinger ist seit Jahren kompromissloser Kriegspropagandist für alliierte Militärinterventionen im Nahen und Mittleren Osten. Deren bisheriges fatales Scheitern scheint ihn nicht zu bekümmern. Er ist Autor des soeben im Mandelbaum Verlag erschienen Buches „Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan“ und hat dieses am 22.10.2014 in Wien vorgestellt. Dabei forderte er explizit den Einmarsch von NATO-Bodentruppen in Rojava. Die Lieferung von Waffen hielt er nicht für sinnvoll, da sich KurdInnen damit ob ihrer inneren Konflikte dann nur gegenseitig töten würden. (2)

Trotz dieser Positionen wurde sein Text als Leitartikel im ak abgedruckt und Schmidinger dadurch als seriöser Journalist der Linken anerkannt. Dem Artikel von Schmidinger widersprach in einer Presseerklärung vehement und in mehreren Punkten Ercan Ayboga von der Informationsstelle Kurdistan in Hamburg: „Die demokratische Selbstverwaltung von Kobanê hat nie internationale Bodentruppen verlangt, sondern Waffen und insbesondere einen dauerhaften Korridor von der Türkei aus nach Kobanê. Der Korridor wird immer mehr zur Hauptforderung der Menschen von Kobanê.“ (3)

Sowohl Schmidinger für seine Buchrecherchen und viele Interviews mit regionalen BewohnerInnen als auch Ercan Ayboga als Beteiligter einer Besuchsgruppe im Mai 2014 in der Region Cizîrê waren also vor Ort. Und sie widersprechen sich diametral.

Die Widersprüchlichkeit linker Aufrufe als Legitimierung der Rüstungsindustrie

In dieser Kritik geht es jedoch ausschließlich um die deutschsprachige Linke bzw. libertäre Gruppen.

Die diversen linken oder libertären Aufrufe für Waffenhilfe in Kobanê, ob international oder national, für die Demos vom 1. November oder später, sind widersprüchlich, wenn man sich die Forderungen genau ansieht: Mal werden die Bundeswehr und deutsche Rüstungsfirmen explizit von der Waffenhilfe ausgeschlossen und deren Lieferungen an die Türkei und die Golfstaaten kritisiert, mal ist das nicht der Fall. Mal werden Bodentruppen explizit gefordert, mal zumindest durch die Lagebeschreibung und die Logik der Argumentation nahe gelegt. Dabei ist oft ein Umschlag um 180 Grad in der Lagebeschreibung noch gegenüber grundsätzlichen kriegskritischen Positionen vor ca. einem halben Jahr zu beobachten. Plötzlich werden nicht mehr die Militärinterventionen der „internationalen Koalition“ (und damit auch der Bundeswehr) im Mittleren Osten kritisiert, sondern nun wird, ganz im Gegenteil, dazu aufgefordert, gerade „effektiver“ als bisher militärisch einzugreifen.

Für diesen Zweck werden für Kobanê/Rojava die alliierten Luftschläge in ihrer Wirksamkeit drastisch herabgesetzt – ganz im Gegensatz zu einigen Verlautbarungen der VerteidigerInnen von Kobanê während der Zeit, als die Stadt in die Hände des IS zu fallen drohte. So hieß es etwa schon im Internationalen Aufruf für die Demos am 1. November: „Die sogenannte internationale Koalition im Kampf gegen den IS hat dem kurdischen Widerstand nicht effektiv geholfen.“ (4)

Im Aufruf zur Solidaritätsdemo während der Linken Literaturmesse in Nürnberg am 1. November hieß es: „Die internationale Staatengemeinschaft verweigert ihnen [den ‚Volksverteidigungskräften‘ der YPG] nicht nur humanitäre Hilfe, sondern auch die dringend benötigten modernen Waffen.“ (5)

Fakt ist aber, dass die US-Armee während der Tage des Kampfes sowohl Nahrungsmittel wie Waffen über dem kurdischen Teil der Stadt abgeworfen hat, was Erdogan scharf kritisiert hat. (6)

In einem Rostocker Aufruf heißt es: „Die multiethnischen und multireligiösen Selbstverwaltungsstrukturen im Kanton Kobanê und Rojava müssen endlich anerkannt und auf allen Ebenen – auch mit effektiven Waffen – unterstützt werden.“ (7)

Und Schmidinger meint nur lapidar, die IS-Banden seien „nicht mit einigen kosmetischen Luftangriffen aufzuhalten.“ (8)

Diese Denunziation angeblicher Ineffizienz dient immer nur einer Logik der Argumentation für Bodentruppen, ob sie nun explizit gefordert werden oder nicht.

Die Widersprüchlichkeit der Aufrufe zeigt die große Schwäche der Argumentation dieser „militaristischen“ Teile der Linken, die auch die Waffenhilfe nicht immer konsequent und durchweg direkt als Zahlung an Kobanê/Rojava verstanden wissen will. Doch auch wenn die Spenden für Waffen direkt an Kobanê/Rojava geleitet werden, bleibt der Grundwiderspruch: Die Waffen müssen ja gekauft werden, auf dem Schwarzmarkt gibt es nur veraltete Waffen, wer „moderne Waffen“ kaufen will, und darunter tun es Forderungen aus der deutschsprachigen Linken nie, fordert damit notwendig staatliche Rüstungsexporte und kurbelt die Profitmaximierung deutscher und internationaler Rüstungsfirmen an. Indem sie etwas nicht explizit ausschließt; indem sie an existierende Herrschaftsstrukturen Forderungen heranträgt, die nur auf vorhersehbare Weise darauf reagieren können, trägt diese Bewegung dann allerdings zur Konfusion und zur möglichen Instrumentalisierung der Forderung nach Waffenhilfe für Rojava bei.

Die herrschenden Medien, die Parteien, Grüne, Linke, SPD bis hin zur Bundesregierung fühlen sich nun auch von linker Seite generell zu weiteren Waffenlieferungen durch deutsche Rüstungsfirmen (seien das nun Diehl, Heckler & Koch, EADS, MAN, Krauss-Maffei, Messerschmitt usw.) in alle Welt und zu weiteren potentiellen Bundeswehreinsätzen legitimiert, denn die Begrenzung auf Rojava machen sie nie mit.

Die Verwirrung unter autonomen AntimilitaristInnen

Seit Jahren gibt es die antimilitaristischen Sommercamps „War Starts Here!“ gegen das Gefechtsübungs-Zentrum der Bundeswehr (GÜZ) in der Colbitz-Letzlinger Heide, zuletzt mit einem Camp gewaltfreier Aktionsgruppen und einem Camp autonomer AntimilitaristInnen (vgl. GWR 390 ff.). In Letzterem wurde bei der Volksküche ein Banner mit dem Bild eines Peschmerga-Kämpfers mit MG aufgespannt, das zwar kritisiert, aber auch nicht abgehängt wurde. Vor allem ältere Autonome auf dem Camp wollten eine Pressemitteilung veröffentlichen, in der explizit Waffenlieferungen der Bundeswehr nach Kobanê abgelehnt wurden.

Sie ahnten wohl, dass sie den Widerstand gegen ein Übungszentrum der Bundeswehr gleich lassen können, wenn gutgeheißen wird, dass die Bundeswehr nun nicht mehr nur Peschmerga-KämpferInnen an modernen Waffen ausbilden soll, sondern alsbald auch KämpferInnen aus Kobanê. Obwohl es intern viel Zustimmung dafür gab, wurde die Pressemitteilung schließlich doch nicht veröffentlicht.

In der Orga-Gruppe und bei Nachbereitungstreffen sind es vor allem jüngere Autonome zwischen 20 und 30 Jahren, die sich einerseits antimilitaristisch nennen, gleichzeitig aber auch für „Waffen für Rojava“ spenden. Sie diskutieren emphatisch die Unterschiede zwischen Militär, Miliz, Guerilla und Partisanenverbänden. Sie sehen dabei in der Regel das Problem, was Krieg aus Menschen macht, bleiben aber trotzdem bei ihrer Position. (9)

Dieselben Probleme und Widersprüche dürften sich bei der kommenden Mobilisierung für die jedes Jahr stattfindenden Proteste gegen die militärische Sicherheitskonferenz in München auftun, die ursprünglich ebenfalls von antimilitaristischen autonomen Gruppen initiiert worden sind. Sie alle stehen in dem Dilemma, einerseits die Bundeswehr als Waffenlieferer für die Türkei und via türkische Waffenlieferungen für den IS als mitverantwortlich für den mörderischen IS-Krieg zu erklären und gleichzeitig an diese Bundesregierung, diese Bundeswehr und die deutschen Rüstungsfirmen Lieferungen „moderner“ und „effektiver“ Waffen herantragen zu müssen. Aus diesem Widerspruch gibt es kein Entkommen und daraus resultiert notwendig eine öffentlichkeitswirksame Legitimierung von Bundeswehr und Waffenindustrie von linksradikaler Seite.

Es zeigt sich hier überhaupt das Dilemma eines bestimmten Verständnisses von Antimilitarismus – und gleichzeitig der Grund dafür, warum gewaltfreie AktivistInnen den eindeutigen Begriff gewaltfreier Anarchismus vorziehen. Schon in der Geschichte sozialrevolutionärer Bewegungen war mit antimilitaristischer Kritik zunächst nur die bürgerliche, zaristische oder franquistische Armee mit klaren Befehlsstrukturen und Offizieren gemeint. Partisanen, Guerilla, Milizen konnten demnach als „antimilitaristisch“ gelten, obwohl sowohl die Russische Revolution 1917 wie auch die Spanische Revolution 1936 zeigten, dass die wechselnde Wahl der Befehlshaber bei jedem Angriff nie lange durchzuhalten war, sich militärisch als nicht „effektiv“ zeigte und binnen kürzester Zeit einer „Militarisierung der Milizen“ notwendig weichen musste. Die benannten Widersprüche des heutigen autonomen Antimilitarismus sind nur ein Spiegelbild dieser mehrfach belegten historischen Erfahrung.

Die schiefen Vergleiche mit der Spanischen Revolution von 1936

In nahezu allen Aufrufen wird ein Vergleich gezogen zwischen der militärischen Verteidigung der Spanischen Revolution (manchmal auch „Republik“) von 1936 und der Verteidigung von Kobanê/Rojava. Auch wenn die sozialen Errungenschaften von Kobanê gerade im Vergleich mit IS unzweifelhaft vorzuziehen und verteidigenswert sind, gibt es bei diesem Vergleich doch mehrere Schieflagen:

Die Militarisierung der Milizen in Spanien führte zum Verlust jedes revolutionären und emanzipativen Inhalts, längst vor dem Sieg Francos. Es war der Krieg, der damals die Revolution zunichte machte. Revolution kann sich in einem dauerhaften Bürgerkrieg nicht entwickeln und wird immer wieder durch militärische Imperative zurückgedrängt und hierarchisiert! Die Form bestimmt über den Inhalt.

Dies bestätigt eine Bemerkung von Ercan Ayboga in seiner Antwort auf den Schmidinger-Artikel. Schmidinger hatte kritisiert, dass der parteiunabhängige Premierminister von Cizîrê zu den „reichsten Unternehmern und Landbesitzern Syriens“ gehörte. Ayboga konnte hier faktisch nicht widersprechen, verteidigte aber die kleinbäuerliche Struktur, nach der nur 20 % des Landes Großgrundbesitzern gehörten, sowie dass von syrischen Truppen verlassenes staatliches Land verteilt worden sei und die aufgebauten Kooperativen Fortschritte machten. Dennoch gab er zu: „Die ungerechte Landverteilung ist dem MRGK [Volksrat Westkurdistans, andernorts auch DSV, demokratische Selbstverwaltung, genannt] bewusst. Aus diversen und verständlichen (Krieg, Embargo, Bewusstsein in der Gesellschaft etc.) Gründen wird diese Frage zunächst nach hinten gestellt.“ (10)

In Spanien war das „Bewusstsein in der Gesellschaft“ am Anfang verbreitet, der Landbesitz und die kapitalistischen Betriebe bis hin zu Kleinbetrieben wurden aktiv kollektiviert, hier hingegen wird diese Absicht „nach hinten gestellt“. Erst soll der Krieg gewonnen werden.

Das aber muss gerade Spanien-KennerInnen bekannt vorkommen: In Spanien bedeutete, dem Krieg Vorrang vor der Kollektivierung zu geben, das Ende der Revolution und die Zerstörung der Kollektive. Der militärische Imperativ des Krieges drängt die Kollektivierung in Kobanê sofort nach hinten, in Spanien war sie das spätere Opfer dieses Imperativs.

Außerdem haben die Westmächte trotz aller Aufrufe aus Spanien nie auf Seiten der Republik/Revolution eingegriffen oder Waffen geliefert und die Waffenhilfe der Sowjetunion andererseits diente der militärischen Durchsetzung der stalinistischen KP im republikanischen Lager.

Was aber kann im Irak seit 1991 bis heute und seit den Waffenlieferungen seit Ende 2011 auch an Oppositionelle in Syrien beobachtet werden? Permanente westliche Militärinterventionen seit 25 Jahren, die genau dazu geführt haben, wofür heute der IS steht. Siehe gleichfalls die bezeichnende Entwicklung in Libyen, das von Anfang der Revolte 2011 von der internationalen Waffenindustrie mit Waffen geradezu vollgestopft worden ist und wo nun militaristisch-islamistische Warlords dominieren.

So ähnelt bei diesen Konstellationen kaum etwas Spanien 1936.

Wie so oft bei historischen Bezügen und herbeizitierten Parallelen handelt es sich um eine Projektion, um den Versuch, momentane Stellungnahmen und Interessen durch historische Bezugspunkte mit scheinbar eindeutigen Botschaften plausibel erscheinen zu lassen.

Militaristische Propaganda: Frauen mit Knarre allüberall

Militarismus definiert sich dadurch, militärische Kampfformen, Kampfanzüge, Normen, Ikonographien, Filme und Fotos auf die gesamte Gesellschaft auszudehnen. Genau das geschieht in der derzeitigen Kampagne „Waffen für Rojava“ vor allem bei der linken Propaganda mit Frauen an der Knarre, die fast zu einem ikonographischen Fetisch wird. Es wird suggeriert, bewaffnet kämpfende Frauen seien der Gipfel der Emanzipation. Die Gegenbehauptung wäre, dass Frauen hier durch Linke und Libertäre aus der BRD für ihre eigenen Phantasien vom bewaffneten Kampf paternalistisch instrumentalisiert werden.

Wieder werden Form und Inhalt verwechselt. Die Form, Frauen an der Knarre, zeigt eben nicht den Inhalt, dass nämlich Frauen tatsächlich überproportional an der gesellschaftlichen Selbstorganisation von Rojava beteiligt sind, weil sie dort verantwortliche Positionen übernehmen; dass tatsächlich etwas aufbricht und Frauen auch in der Familie nicht mehr geschlagen werden.

Warum werden gerade von Seiten der Linken nicht hauptsächlich Fotos mit Frauen in diesen gesellschaftlichen Funktionen und im öffentlichen Leben gezeigt? Durch die bewaffnete Ikonographie wird suggeriert, dass nur bewaffnete Kämpfe und bewaffnete Frauen emanzipatorisch sind. Doch formal gibt es auch in der iranischen Armee separate Frauenbataillone.

Und wie in einer gemischten Militäreinheit von Kobanê werden seit Jahrzehnten einige hundert Kilometer westlich dieser Stadt, in der israelischen Armee nämlich, seit Jahrzehnten bewaffnete Frauen gleichberechtigt in gemischten Armeeeinheiten eingesetzt. Ist aufgrund dieser Form die israelische Armee qua Biologismus eine Befreiungsarmee – oder ist sie nicht doch eher eine Besatzungs- und Unterdrückungsarmee mit Frauen als Mit-Täterinnen? Die Frau an der Knarre zeigt eben nicht den spezifischen Inhalt ihrer gesellschaftlichen Stellung.

Abzuwarten bleibt schließlich, ob nicht die militärische Notwendigkeit des schieren Mangels an militärischem Personal gewissen Einfluss auf die Frauenmobilisierung in Rojava hatte und nicht doch – wie in so vielen antikolonialen Befreiungsbewegungen – nach der Befreiung/Stabilisierung ein Rollback stattfinden wird.

Für eine Spaltung und Isolierung des IS

Was m.E. heute in Syrien und im Irak stattfindet, ist ein auf unbegrenzte Zeit propagierter Warlord-Krieg epochalen Ausmaßes. Der IS ist ein Ungeheuer, das im Irak Jahrzehnte des Bürgerkriegs und Hunderttausende Tote durch die Invasion der alliierten Armeen hervorgebracht haben (trotz der Autonomie in Nord-Kurdistan). Und in Syrien wurde der IS seit dem Übergang der syrischen Opposition vom monatelangen, bewunderungswürdigen gewaltfreien Kampf zum bewaffneten Kampf durch den jahrelangen Bürgerkrieg nach oben gespült, von Anfang an befeuert durch die westliche Rüstungsindustrie, Geheimdienste und Waffenhändler, die die Opposition vom Libanon aus bewaffneten. Ist es so undenkbar, dass IS vielleicht nicht einmal das letzte Ungeheuer sein wird, das dieser großregionale Warlord-Krieg produziert, wenn der Abwehrkampf in einen lang andauernden Krieg, mit erweiterten internationalen Interventionen und nicht endenden Lieferungen moderner Waffensysteme übergeht?

Damit muss radikal gebrochen werden, gerade durch libertäre und antimilitaristische Gruppen. Und bedarf es da nicht eines prinzipiellen Rückgrats, diesen Bruch nicht schon wieder bei der ersten unterstützenswerten Entwicklung oder Bewegung, die es immer wieder geben wird, aufzugeben?

Es wird hier nicht behauptet, für jeden Fall und zu jeder Stunde innerhalb dieses großregionalen Krieges eine Lösung parat zu haben. Kobanê/Rojava verteidigt sich, wie es das in dieser Situation kann und für sich will.

Aber die Macht des IS muss eher aus dem Innern seines eigenen Herrschaftsbereichs gebrochen werden. Das ist keineswegs unrealistisch: Im Irak 2006/2007 hat es bereits sunnitische Aufstände gegen Al-Qaida gegeben, als Letztere kein Geld mehr für die Grundversorgung der armen Schichten ihrer tragenden Kernbevölkerung hatte.

Erst Ende Oktober 2014 wurde ein sunnitischer Aufstand gegen den IS im westirakischen Anbar brutal niedergeschlagen, aber er beweist zunächst, dass es ein Potential für Revolten bei den SunnitInnen im IS-Herrschaftsbereich gibt, nur vorerst keine Gleichzeitigkeit. Wenn die IS-Unterstützung durch die Türkei, Katar und Saudi-Arabien gestoppt und der Erlös aus dem Ölhandel, sowie die internationalen Geschäfte des IS abgeschnitten werden, sind weitere solche Aufstände möglich.

Mit der Forderung nach effizienterer Bombardierung, mit vereinzelten Aufrufen für alliierte Bodentruppen in Syrien und mit den Kampagnen für die Lieferung moderner Waffen wird die sunnitische Bevölkerung dagegen gerade in die Hände des IS getrieben. (11)

Die Millionen Flüchtlinge u.a. aus Syrien, dem Irak und Afghanistan brauchen offene Grenzen, Asyl, Nahrung und warme Kleidung für den anbrechenden Winter.

(1) T. Schmidinger: "Umzingeltes Kobanê", in: ak Nr. 598, Hamburg, 14.10.2014.

(2) Informationen nach einem Besucher der Buchvorstellung vom 22.10.2014, der sie an den Autor weiterleitete.

(3) Unmittelbare Antwort auf Schmidingers ak-Artikel von Ercan Ayboga, Tatort Kurdistan Kampagne, Hamburg, Internet: https://www.facebook.com/hamburgfuerrojava, Eintrag 30.10.2014.

(4) Unterzeichnet hatten diesen internationalen Aufruf für den 1. November u.a. Noam Chomsky, David Graeber und Janet Biehl.

(5) Den Aufruf unterzeichneten neben diversen migrantischen und deutschen K-Gruppen auch "Organisierte Autonome".

(6) Diverse Presseberichte am 22.10.2014, z.B. www.zeit.de/politik/ausland/2014-10/erdogan-usa-kobani

(7) "Gemeinsam gegen den faschistischen Terror des Islamischen Staates (IS)", Kundgebung am 12.10. in Rostock: https://m.facebook.com/events/1485726538380046

(8) Schmidinger, a.a.O.

(9) Informationen eines mit der Graswurzelrevolution sympathisierenden Campbeteiligten, der sie an den Autor weiterleitete.

(10) Ercan Ayboga, siehe Anm. 3, a.a.O.

(11) Im Text wurden einzelne Passagen verarbeitet, die aus der Vorlage eines kritischen Flugblatts von "einigen Leuten aus der langjährigen antimilitaristischen, antinationalistischen und gewaltfrei-anarchistischen Bewegung" stammen, welches auf der Linken Literaturmesse Nürnberg am 1. November 2014 verteilt wurde.