transnationales / gewaltfreiheit

Der Aufstand der Regenschirme

Chronologie der Entstehung von "Occupy Central", der gewaltfreien Massenbewegung in Hongkong 2013/2014

| wf

Der Ursprung der neuen, in ihren überwältigenden Teilen gewaltfreien Massenbewegung in Hongkong geht auf die weltweite Occupy-Bewegung zurück und zeigt, zu welch ungeahnten Entwicklungen auf globaler Ebene diese Bewegung fähig ist. Während viele Länder Afrikas, die Ukraine, der Nahe und Mittlere Osten in den letzten Jahren in bewaffneten Auseinandersetzungen und Bürgerkriegen versunken sind, war diese Bewegung ein Lichtblick für gewaltfreie AktivistInnen - leider oft am Rande oder mit Falschdarstellungen von den herrschenden Medien in der BRD begleitet, besonders was Gewalttaten betrifft, die fast ausschließlich von der Hongkonger Polizei verübt wurden. (GWR-Red.)

Alles begann am 16.1.2013, als Benny Tai Yiu-ting, Professor an der Uni Hongkong, in einem Zeitungsartikel zu zivilem Ungehorsam und zur Besetzung der Innenstadt aufrief.

Gegen bekannt gewordene Pläne zur künftigen Dominanz Pekings forderte er dabei auch die freie Wahl des Hongkonger Regierungschefs für 2017 (bisher existierten keineswegs allgemeine Wahlen in Hongkong, sondern Wahlberechtigte und Gewählte des Stadtparlamentes stammten aus einer Wirtschafts- und Verwaltungselite, dem Besitzbürgertum).

Die Bewegung nannte sich „Occupy central with love and peace“ (OCLP). Peking veröffentlichte im März 2013 eine erste Warnung an diese Demokratiebewegung und proklamierte, der Hongkonger Regierungschef müsse „China ebenso lieben wie Hongkong“.

Darauf riefen die Gründer von OCLP, neben Benny Tai sind das Chang Kin-Man und Reverend Chu, zu einem offenen Dialog mit den BürgerInnen Hongkongs über die Zukunft der Stadt auf. Die Kampagne entwickelte einen Vier-Stufen-Plan: Bürgerdialog, Beratung, Referendum, ziviler Ungehorsam.

Am 1. Juli 2013, dem 16. Jahrestag der Unabhängigkeit von Großbritannien, demonstrierten 430.000 Menschen für mehr Demokratie und das Recht Hongkongs, ihre eigenen KandidatInnen bestimmen zu können. Nach einer Generalprobe für ein selbst durchgeführtes Referendum am 1. Januar 2014, an der bei einer elektronischen Abstimmung 62.000 Menschen teilnahmen, organisierte die Bewegung im Juni 2014 tatsächlich ein selbstorganisiertes Referendum gegen die Auflagen des Pekinger Nationalen Volkskongresses. 22 % aller Hongkonger EinwohnerInnen nahmen teil; 88 % davon sprachen sich gegen die Pekinger Pläne aus. Peking erklärte das Referendum für illegal, in Hongkong trat eine Pro-China-Fraktion gegen die Occupy-Central-Bewegung mit einer Unterschriftenliste auf den Plan.

Die „Big Four“, die vier größten Wirtschaftsprüfungsunternehmen Hongkongs, stellen sich, ebenfalls im Juni 2014, auf Druck Pekings gegen die Occupy-Bewegung: Es wurde dadurch klar, dass es in der Auseinandersetzung zwar (noch?) nicht um Kapitalismus versus Sozialismus geht, aber um Formen eines demokratischen Anti-Trust-Kapitalismus versus des diktatorischen Kapitalismus Pekinger Machart, der mittlerweile die Ökonomen in ganz Asien fasziniert und auch in Europa mehr und mehr als zukunftsträchtiges, autoritäres Modell gepriesen wird. Doch die soziale Bewegung verfolgte ihre Strategie gewaltfreier Aktion weiter, es gelang ihr immer wieder, Sympathien in der Bevölkerung zu wecken, sodass sie sich kontinuierlich ausweiten konnte.

Im Juli 2014 veranstaltete Occupy-Central zum 17. Jahrestag der Rückgabe von Großbritannien eine Massendemo mit anschließender Sitzblockade des Finanzzentrums in der Innenstadt. Im August 2014 versuchte eine Anti-Occupy-Gruppe „Silent Majority“, bestehend aus regierungsnahen Wirtschaftsverbänden und WissenschaftlerInnen, gegen die Bewegung zu demonstrieren, konnte aber nur ein paar tausend TeilnehmerInnen mobilisieren.

Peking kündigte am 31. August einerseits an, dass ab 2017 tatsächlich erstmals nach allgemeinem Wahlrecht die gesamte Bevölkerung wählen könne, andererseits aber die wählbaren KandidatInnen durch von Peking bestimmtes Nominierungskomitee anerkannt werden müssten. Dagegen forderte Benny Tai am 9. September 2014 zu erneuten Massenprotesten auf.

Die heiße Phase der Massenbewegung begann dann am 22. September 2014 mit einem einwöchigen Streik von SchülerInnen und StudentInnen. Jüngere gewaltfreie Aktivisten nahmen nun den Protest verkörpernde Funktionen als Sprecher ein und erfuhren mediale Aufmerksamkeit, durchaus mit Unterstützung der älteren OCLP-Gründer, die darin einen unterstützenswerten Generationenwechsel sahen: Alex Chow Yong-kang, der schon bei Occupy Central dabei war, gleichzeitig Vorsitzender der Hongkonger Studentenvereinigung (HK-Federation of Students; HKFS); Lester Shum ebenfalls von der HKFS oder auch der Student Joshua Wong von der Studentengruppe „Scholarism“.

Mehr als 100.000 HongkongerInnen waren in dieser Streikwoche auf den Straßen, ganze Straßenzüge wurden besetzt, der öffentliche Nahverkehr kam zum Erliegen, die Polizei führte erste Massenfestnahmen durch.

Am 26. September 2014 durchbrachen StudentInnen vor allem von Scholarism eine Polizeireihe und wollten eine Sitzblockade vor dem Regierungssitz abhalten. Es kam zu starker Polizeigewalt und Massenfestnahmen, wodurch HKFS und OCLP ihre Pläne änderten und zur Fortsetzung des zivilen Ungehorsams aufriefen.

Was als „gewaltsame“ Auseinandersetzungen in den BRD-Medien kolportiert wurde, waren in dieser Zeit vor allem Polizeieinsätze mit Pfefferspray und Tränengas sowie direkte Angriffe von BürgerInnen auf die Protestierenden, die versuchten, von DemonstrantInnen errichtete Absperrungen oder Barrikaden einzureißen.

Die DemonstrantInnen vermuten, dass diese „Aktivbürger“ zu den „Triaden“ gehören, der chinesischen Mafia. In der Streikwoche vom 22. bis 27. September 2014 regnete es heftig.

So wurde der Alltagsgegenstand des Regenschirms zum Symbol des Aufstands, denn neben Schutz vor Regen eignete sich ein aufgespannter Regenschirm bestens dazu, sich unmittelbar vor Pfefferspray und Tränengas von Seiten der Polizei zu schützen.

Anfang Oktober 2014 rief Joshua Wong zu Langzeitprotesten auf: „Bringt eure Schlafsäcke mit auf die Straßen, wir werden bis zum Ende bleiben.“

In den Straßen Admiralty, Causeway Bay und im Geschäftsviertel Mongkok wurden Zeltstädte errichtet, die im Verlauf des November mehrfach von der Polizei angegriffen und geräumt, danach aber von den BesetzerInnen oft wiederbesetzt und wiedererrichtet wurden.

Zwischenzeitlich gelang es der gewaltfreien Massenbewegung, die Polizei nach öffentlichkeitswirksamer Dokumentation von Polizeimisshandlungen so sehr zu entlegitimieren, dass sich die Lokalregierung ab dem 16. Oktober zu Gesprächen und Verhandlungen bereit erklärte.

Diese wurden im Verlauf der Kämpfe dann mehrfach angekündigt, aufgenommen und wieder abgebrochen, nachdem deutlich wurde, dass eine Annäherung nicht erkennbar blieb.

Anmerkungen

Quellen: Alle Infos stammen aus Jonas Becker: "Occupy Central: Chronik des Hipsteraufstands", in: 21China, 6.10.2014 sowie aus einer Zusammenstellung von arte: "Die Schlüsseldaten der Hongkonger Proteste." Aktuelle Entwicklungen können auch verfolgt werden unter: #umbrellarevolutionhongkong