transnationales

No escape

Die Totalverweigerung Europas bei der syrischen Flüchtlingskrise

| Yasemin Ashvan / Karl Kopp

Ein ganzes Land auf der Flucht. Über 3,2 Millionen Menschen aus Syrien sind bereits in die Nachbarstaaten geflohen. Sieben Millionen sind im eigenen Land vertrieben. Aufgrund mangelnder Finanzierung musste das UN World Food Programme (WFP) phasenweise die lebensrettende Hilfe für die syrischen Flüchtlinge einstellen. Mit dem Wintereinbruch wird die Situation von Millionen Flüchtlingen aus dem Irak und Syrien lebensbedrohlich.

Entwicklungsminister Gerd Müller warnte im Oktober 2014: „Jetzt regnet es, dann kommt der Winter, dann kommt der Tod“.

Selbst wenn im Zuge neuer dramatischer Appelle der UN, sich einige Staaten erbarmen ihre Mittel aufzustocken: Nothilfe allein reicht nicht. Es gibt keine Schutzkapazitäten mehr in den unmittelbaren Nachbarstaaten Syriens.

Die dringend erforderliche Hilfe vor Ort muss durch großzügige Aufnahmeprogramme der EU-Staaten flankiert werden. Im vierten Jahr des Bürgerkrieges in Syrien betreibt Europa jedoch immer noch eine Totalverweigerung bezogen auf die Flüchtlingskrise.

Der Libanon – 25 Prozent der Bevölkerung sind mittlerweile syrische Flüchtlinge – hatte im Oktober 2014 noch einmal eindringlich dazu aufgerufen, nicht nur Geld zu geben, sondern auch Flüchtlinge aufzunehmen.

Der libanesische Ministerpräsident Tammam Salam erklärte, sein Land sei am Ende seiner Kräfte.

Die Hauptaufnahmestaaten wie die Türkei, der Libanon und Jordanien machen mehr und mehr ihre Grenzen dicht. Sie folgen dem negativen Beispiel der Europäischen Union. Es herrscht Krieg, aber es gibt kaum noch Fluchtwege aus der unmittelbaren Gefahrenzone. „No escape“ heißt der Bericht des Norwegischen Flüchtlingsrat und des International Rescue Committe vom 13. November 2014.

Die Grenzschließungen der Nachbarstaaten Syriens haben dazu geführt, dass im Oktober 2014 nur 18.453 Schutzsuchende aus dem Bürgerkriegsland fliehen konnten – im Jahr 2013 waren es im Durchschnitt noch 150.000 pro Monat.

Dieser dramatische Rückgang findet statt, obwohl der Vormarsch des terroristischen „Islamischen Staates“ die Fluchtbewegungen in Syrien und dem Irak massiv verstärkt.

Ende November 2014 meldete das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR), dass seit Jahresanfang etwa 2 Millionen Menschen im Irak vertrieben wurden. Über 60.000 Menschen leben in acht Zeltlagern, aktuell werden neue Lager gebaut, um etwa 300.000 provisorisch unterzubringen. Etwa 700.000 Binnenvertriebene fristen ein erbärmliches Leben in Parks, Bauruinen oder unter Brücken.

Die Türkei beherbergt mittlerweile – nach eigenen Angaben – über 1,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien. Etwa 220.000 Schutzsuchende leben in 22 von dem staatlichen Katastrophenschutz AFAD betriebenen Lagern. Der Rest versucht sich draußen durchzuschlagen – über 300.000 Flüchtlinge kämpfen allein in Istanbul um ihr tägliches Überleben.

Die etwa 150.000 Flüchtlinge aus dem kurdischen Teil Syriens und dem Nordirak – überwiegend Schutz suchende YezidInnen aus der Region Shingal -, werden von den kurdischen Gemeinden und Städten in der Türkei unter schwierigsten Bedingungen versorgt.

Diese Solidarität in Batman, Diyarbakir, Suruc und anderswo ist bemerkenswert und überlebensnotwendig.

Die AKP-Regierung macht für diese beiden Flüchtlingsgruppen de-facto keinen Finger krumm.

Sie sind unliebsame „Gäste“, trotz gegenteiliger öffentlicher Bekundungen. Umgekehrt haben kurdische und yezidische Schutzsuchende keinen Grund, den türkischen Behörden zu vertrauen.

Die kurdischen Kommunen und die von ihnen aufgenommen Flüchtlinge werden im Stich gelassen. Sie sind abgeschnitten von staatlichen Geldern aus Ankara, aber auch von den internationalen Hilfen, die dort eintreffen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die internationale humanitäre Hilfe direkt an die Vereinigung der Südostanatolischen Gemeinden (GABB) zufließt.

Europa lässt die Flüchtlinge und die Nachbarstaaten im Stich

Die Türkei hat bereits jetzt zehnmal mehr Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen als der Club der 28 EU-Staaten zusammen. Lediglich etwa 150.000 Schutzsuchende aus Syrien haben es seit März 2011 lebend in die Nachbarregion Europa geschafft.

Diese vergleichsweise geringe Zahl zeigt auf dramatische Weise, wie verriegelt der Zugang auf das europäische Territorium ist. Tausende starben auf dem Weg in den „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, so die EU-Selbstbezeichnung.

Syrische Flüchtlinge, überhaupt Fliehende, werden auf die Boote, die Seelenverkäufer, getrieben, weil Europa keine legalen Wege eröffnet und außerdem die beiden wichtigsten Landgrenzen zur Türkei fast hermetisch abgeschottet hat. Im Sommer 2012 wurde die griechisch-türkische Landgrenze auf Druck von Deutschland und anderer Mitgliedsstaaten im Zentrum der EU abgeriegelt.

Seit Ende 2013 folgt Bulgarien dem griechischen Modell und schottete die bulgarisch-türkische Landgrenze ab. Neue Zäune und Mauern als zusätzlichen Schutzwall gegen Fliehende wurden errichtet.

Die Fluchtrouten haben sich in Folge dieser Grenzaufrüstungen verlagert – mit fatalen Konsequenzen. Neue Zahlen von UNHCR zeigen, dass bis Ende November 2014 aufgrund fehlender legaler Fluchtwege 163.368 Menschen über das zentrale Mittelmeer flohen – unter Lebensgefahr. Knapp die Hälfte aller in Italien ankommenden Bootsflüchtlinge floh vor dem Konflikt in Syrien oder vor Verfolgung durch die Militärdiktatur Eritrea. Über 3.420 Menschen starben bei der Flucht über den mittlerweile tödlichsten Seeweg der Welt.

UNHCR geht davon aus, dass rund 10 Prozent der 3,2 Millionen Flüchtlinge in Syriens Nachbarländern aktuell besonders schutzbedürftig sind und Resettlement, also einen dauerhaften Aufnahmeplatz in einem Drittland, benötigen. 320.000 Zusagen werden bei dieser eher vorsichtigen Berechnung benötigt – am 11. Dezember 2014 wurden jedoch weltweit lediglich 67.638 Resettlementplätze in Aussicht gestellt, eingerechnet sind dabei auch die etwa 30.000 Aufnahmeplätze in Deutschland – das sieht in dieser erbärmlichen Gesamtbilanz großzügig aus.

Wenn dann der neue EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos diese de-facto gescheiterte internationale Syrienkonferenz am 9. Dezember 2014 auch noch freudig mit den Worten „I am pleased to note that so far, more than 34.000 places have been offered by EU States“ kommentiert, sehen wir die Abgründe europäischer Flüchtlingspolitik.

4800 Aufnahmeplätze hat der Rest der EU in Aussicht gestellt.

Die vermeintliche deutsche Großzügigkeit ist dem Engagement der syrischen Community und der Zivilgesellschaft geschuldet. Der dadurch entstandene gesellschaftliche Druck hat zu drei Bundesprogrammen und einem Länderprogramm geführt. Aber auch diese haben bei weitem nicht den realen Bedarf gedeckt. 80.000 Anträge für Angehörige der hier lebenden syrischen Community wurden bereits gestellt – der Großteil hat keine Chance mehr im Rahmen eines Kontingents oder eines Länderprogramms legal und gefahrenfrei einzureisen.

Für Irak-Flüchtlinge gibt es bisher überhaupt keine Programme. Allen Forderungen nach neuen Aufnahmeprogrammen wird lapidar entgegengehalten, dass Deutschland im EU-Vergleich besonders viele Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen habe.

Ein Vorschlag, um diese völlig festgefahrene Debatte zu öffnen, kommt derzeit aus Bremen. Die Bremische Bürgerschaft hat am 25.09.2014 einem Antrag der Linken zugestimmt. Der Stadtstaat hat beschlossen, dass Bremer Bürgerinnen und Bürger Angehörige, die vor dem IS-Terror fliehen mussten, zu sich in Sicherheit bringen können. Dabei würden sie, wenn nötig, auch finanziell unterstützt.

Doch bisher bleibt der Vorstoß zunächst Symbolpolitik, denn ohne Zustimmung des Bundesinnenministeriums kann kein Aufnahmeprogramm beschlossen werden.

Würde der Bremer Beschluss auf Bundesebene umgesetzt und würden andere EU-Staaten dem Beispiel folgen, wäre Tausenden Flüchtlingen und auch den Erstaufnahmestaaten tatsächlich geholfen.

Angesichts des unendlichen Flüchtlingsleids und des tausendfachen Sterbens an den europäischen Außengrenzen muss es uns gelingen, eine Revitalisierung der Aufnahmekampagne in Deutschland und Europa gemeinsam mit den Communities zu bewerkstelligen.

Anmerkungen

Karl Kopp ist Europareferent von Pro Asyl und Vorstandsmitglied von ECRE, dem europäischen Flüchtlingsrat.

Yasemin Ashwan ist Übersetzerin (Kurdisch) und Fotografin im Projekt "Flüchtlingssituation in Kurdistan" von Pro Asyl.

Kontakt

PRO ASYL
Human Rights Organisation for Refugees
Postbox 16 06 24
60069 Frankfurt
Germany
Phone +49 69 24231459
Fax +49 69 24231472
www.proasyl.de