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„Wir werden uns dem Staat nicht beugen“

Widerstand und Repression in Russland. Ein Gespräch mit dem Umweltaktivisten Vladimir Slivjak (ecodefense)

| Interview: Bernd Drücke Übersetzung aus dem Russischen: Bernhard Clasen

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Foto: GWR-Archiv

Am 29. und 30. November 2014 fand die Internationale Urantransporte-Konferenz in Münster statt. Es beteiligten sich Anti-Atomkraft-AktivistInnen u.a. aus Frankreich, Russland, den Niederlanden und Deutschland. Eine gute Gelegenheit, Vladimir Slivyak für die Graswurzelrevolution zu interviewen. Der Graswurzelrevolutionär ist Co-Vorsitzender der vom russischen Staat als "ausländische Agenten" diffamierten und stigmatisierten Umweltschutzorganisation ecodefense. Das Gespräch führte GWR-Redakteur Bernd Drücke. Aus dem Russischen übersetzte Bernhard Clasen. (GWR-Red.)

Graswurzelrevolution (GWR): Ob bei Protestaktionen in Brüssel, Ahaus, dem Wendland oder in Russland, Du bist seit Jahren europaweit in der Ökologiebewegung aktiv. Wie kam es dazu, dass Du zum politischen Aktivisten wurdest?

Vladimir Slivyak: Meine Aktivität hat ungefähr vor 25 Jahren angefangen, zur Zeit des Endes der Sowjetunion. Es war eine Zeit der revolutionären Umbrüche. Wir waren damals eine Gruppe von jungen Leuten gewesen, wir wollten etwas tun, verbessern, ändern. Auch, weil wir sahen, dass die Regierung nichts tut, um die Probleme zu lösen.

Es gab in der Zeit der Sowjetunion viele ökologische Probleme, die nicht gelöst worden sind. Der Umstand, dass die ökologische Frage nicht gelöst wurde, ist auch einer der Gründe, warum es den Menschen nicht in der Sowjetunion gefallen hat.

Es hat auch mit meiner Familie etwas zu tun, die allgemeine Situation hat sich auch sehr auf das Leben meiner Familie ausgewirkt, denn meine Verwandten mütterlicherseits haben in einem verstrahlten Gebiet bei Tschernobyl gelebt.

GWR: ecodefense ist eine der ältesten Umweltorganisationen in Russland. Kannst Du die Geschichte Eurer Organisation erzählen? Was macht ecodefense?

Vladimir Slivyak: Wir haben 1989 angefangen zu arbeiten, in Kaliningrad, dem früheren Königsberg. 1996 haben wir uns vergrößert und sind über Kaliningrad hinausgegangen, hatten dann auch ein Büro in Moskau. Danach hatten wir auch Koordinatoren im Ural, in Tscheljabinsk, in Jekaterinburg. Seit neustem arbeiten wir mit einem Kollegen zusammen, der sich in Kuzbass vor allem mit der Kohlethematik beschäftigt.

Wir haben uns in der Geschichte unserer Organisation mit vielen Themen beschäftigt: Ökologische Erziehung, Atomenergie, irgendwann auch mal Schutz von Tieren und auch andere ökologische Themen. Thematisch stand für uns immer die Atomenergie an erster Stelle. Es ist diesem Thema zu verdanken, dass wir uns ausgeweitet haben nach Tscheljabinsk und Jekaterinburg, zwei Städte, die Zentren der Atomwirtschaft sind.

Wir haben uns auch mit der Verschmutzung der Ostsee beschäftigt. Hier haben wir erreicht, dass zwei Zellulose-Fabriken geschlossen wurden. In Schweden haben wir für unsere Aktivitäten für den Schutz der Ostsee einen Preis erhalten, der direkt von der Königsfamilie ausgeht.

GWR: In der Graswurzelrevolution Nr. 391 vom September 2014 hast Du beschrieben, wie der russische Staat versucht, ecodefense und andere Nichtregierungsorganisationen zu nötigen, sich selbst als „ausländische Agenten“ zu bezeichnen. Wie ging es weiter? Wie ist die aktuelle Situation?

Vladimir Slivyak: Nachdem dieses Gesetz zu den „ausländischen Agenten“ verabschiedet worden ist, sind ungefähr tausend Nichtregierungsorganisationen überprüft worden, davon wurden dann 16 in die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ aufgenommen. Das sind aus Regierungssicht die Hauptfeinde des Staates. Unter diesen 16 sind wir die einzige Umweltorganisation, die anderen sind Menschenrechtsorganisationen.

Unterschiedliche Organisationen verhalten sich in der Frage unterschiedlich, wie sie mit dem Gesetz umgehen. Wir haben als Organisation entschieden, dass wir den Forderungen dieses Gesetzes nicht nachkommen werden.

Wir sehen nicht ein, dass wir regelmäßig Berichte an verschiedene Ministerien schreiben, dass wir in alle unsere Publikationen das Label drucken, dass wir „ausländische Agenten“ seien, und dass wir uns auch in allen Interviews als „ausländische Agenten“ bezeichnen. Zu alledem sind wir nicht bereit. Wir werden keine dieser Forderungen erfüllen, weil wir uns nicht als „ausländische Agenten“ ansehen. Wir haben bisher schon fünf Geldstrafen bekommen.

Derzeit laufen zwei parallele Prozesse. Wir haben am 19. November 2014 eine Geldstrafe bekommen, und ich denke, dass wieder eine neue Geldstrafe gegen uns verhängt werden wird.

Ich gehe davon aus, dass das Justizministerium innerhalb der nächsten drei Monate unsere Organisation gänzlich schließen wird, weil wir weder bereit sind, die Geldstrafen zu bezahlen, noch uns als „ausländische Agenten“ zu bezeichnen.

GWR: Übel. Wie gefährlich ist es für Dich und andere Graswurzelrevolutionäre und Aktivistinnen in Russland kritische Fragen zu stellen? Überlegst Du, angesichts der Repression, nach Deutschland zu kommen und hier zu bleiben?

Vladimir Slivyak: Ich habe momentan nicht vor, in Deutschland zu leben. Wir sind der Auffassung, dass wir unsere Arbeit fortsetzen müssen. Deswegen diskutieren wir nur über das „Wie“ der weiteren Arbeit.

Wir haben uns entschieden, eine Organisation aufzubauen, die sich mit den ökologischen Fragen beschäftigt, die auch versucht, das Risiko der Atomenergie etwas zu verringern. Die Probleme sind geblieben, deswegen werden auch wir bleiben. Wir werden uns weiterhin mit der Atomwirtschaft in Russland beschäftigen, aber das können wir auch von außerhalb.

Bisher haben wir von Russland aus gegen die Atomwirtschaft gekämpft, bei uns zu Hause und auch in anderen Ländern. Das ist eine der Varianten, die gerade bei uns diskutiert wird. Aber es gibt auch noch andere Arbeitsbereiche unserer Organisation, wie zum Beispiel Ökologische Erziehung, Ökologische Bildung mit Kindern, das kann man nicht von außerhalb Russlands machen.

Das Label „ausländischer Agent“ ist nicht nur per se schlimm, die Sache geht ja noch weiter, dass die Regierung, das Justizministerium seine untergeordneten Stellen angewiesen hat, nicht mehr mit den sogenannten „ausländischen Agenten“ in Kontakt zu treten.

Konkrete Folge: Wir hatten ungefähr vor einem Monat ein Seminar zur Ökologischen Erziehung, und da hat sich etwa die Hälfte der Lehrerinnen und Lehrer, die an den früheren Seminaren teilgenommen haben, entschieden, nicht mehr am Seminar teilzunehmen.

GWR: Durch Eure Aufklärungsarbeit und die Beteiligung an Direkten Gewaltfreien Aktionen und Demonstrationen habt Ihr dazu beigetragen, dass die Atomtransporte, die es von Deutschland nach Russland gab, letztlich gestoppt wurden.

Leider werden diese jetzt zum großen Teil nach Frankreich geliefert [die GWR berichtete]. Wie ist der Ist-Zustand des Atomstaats Russland? Welche Pläne hat die russische Atomindustrie?

Vladimir Slivyak: Es war wirklich ein großer Erfolg, den wir zusammen mit unseren deutschen Kolleginnen und Kollegen aus der Umweltbewegung erreicht haben, dass wir den Stopp der deutschen Atomtransporte nach Russland erreicht haben. Ein weiterer Erfolg unserer Arbeit war der Stopp des Baus des Atomkraftwerkes in Kaliningrad. Unser erfolgreicher Kampf gegen dieses AKW war auch der Hauptgrund, warum wir als „ausländische Agenten“ eingestuft worden sind. Das wurde in offiziellen Papieren so bestätigt.

Derzeit werden in Russland vier oder fünf neue Atomkraftwerke gebaut. Das ist schon mal dreimal weniger, als noch vor einiger Zeit von der Regierung angekündigt worden ist. Auch bei den fünf geplanten Atomkraftwerken ist es immerhin so, dass zwei nicht mehr weiter gebaut werden, was auch unserer Kampagne zu verdanken ist, so dass nur noch an drei neuen Atomkraftwerken gebaut wird. Die russische Atomindustrie möchte, und da hat sie große Pläne, eigene Reaktoren in anderen Ländern bauen. Allein in diesem Jahr sind zwei Verträge mit Ungarn und mit Finnland abgeschlossen worden. Es gibt auch große Pläne mit Südafrika. Da will man nicht nur Atomkraftwerke bauen, sondern auch eine ganze Kette. Man will dort sogar eine Fabrik bauen, in der wiederum AKWs produziert werden können. Wenn man dem glaubt, was Rosatom sagt, haben sie Aufträge für 30 AKWs im Ausland. Nur muss man zwischen dem unterscheiden, was sie machen wollen, und dem, was sie machen können. Und wenn wir sehen, was zurzeit wirklich gemacht wird, werden nur in Russland, in China und Belarus russische Atomkraftwerke gebaut. Wir werden sehen, wie viele Reaktoren wirklich gebaut werden können, denn bei jedem dieser geplanten Reaktoren geht man davon aus, dass Russland die Finanzierung übernimmt, und das sind immerhin ungefähr 10 Milliarden Dollar.

GWR: Was erhoffst Du dir von der heutigen Uran-Konferenz? Welche Perspektiven der Anti-Atomkraft-Bewegung siehst Du einerseits in Russland und andererseits international?

Vladimir Slivyak: Ich finde es wichtig, dass die Konferenzen mit einer internationalen Beteiligung durchgeführt werden und dass sie auch in Deutschland stattfinden, weil es das Land auf der Welt ist, das die stärkste Anti-Atomkraft-Bewegung hat.

Es wäre ideal, wenn Deutschland quasi ein Ressourcenzentrum für die weltweite Anti-Atomkraft-Bewegung sein könnte, weil die Anti-Atomkraft-Bewegung hier Ressourcen hat. Deshalb ist es auch sehr wichtig, dass auf solchen Konferenzen über eine weitere Zusammenarbeit gesprochen wird, über weitere Projekte und Vorhaben. Derartige Kontakte werden viel bringen. Wenn ich mich daran erinnere, wie ich vor 10 Jahren auf eine Anti-Atomkraft-Konferenz in Münster gefahren bin, wie damals alle fast nur deutsch gesprochen haben, wir aber angefangen haben, gemeinsam etwas vorzubereiten, und es letztendlich auch gemeinsam geschafft haben, diese Atomexporte nach Russland zu verhindern.

GWR: ecodefense beschäftigt sich auch mit dem Klimakiller Kohle. In Deutschland hat Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel am 16.11.2014 erklärt, dass man „Atomenergie und Kohle nicht gleichzeitig verbannen“ könne [vgl. GWR 394]. Was sagst Du dazu?

Vladimir Slivyak: Nein, wir Umweltschützer haben eine andere Auffassung. Man kann sehr wohl auf Kohle- und Atomenergie verzichten, wenn wir auf eine 100prozentige Versorgung mit alternativer Energie hin planen. Der Hauptgrund dafür, dass sich hier nichts ändert, ist, dass wir es mit einem System zu tun haben, in dem große Konzerne Entscheidungen treffen und große Profite mit Atomkraftwerken und Kohlekraftwerken machen und diese großen Konzerne auch nicht auf ihre großen Profite verzichten wollen.

Also gerade die Sonnenenergie, davon gibt es wesentlich mehr, als die Menschen auf der Erde überhaupt nutzen könnten. Das ist eine unersättliche, nicht versiegende Energiequelle.

GWR: Du hast gerade die Macht der Konzerne angesprochen. Seit 1990 haben sich Russlands Kohleexporte verdoppelt, und der deutsche Konzern RWE ist einer der wichtigsten Käufer dieser Kohle. Rund ein Fünftel der Kohle, die sie in deutschen Steinkohlekraftwerken verbrennen, stammt aus Russland. Kannst Du etwas zu den Arbeitsbedingungen in den russischen Minen sagen?

Vladimir Slivyak: Ja. Wir haben in diesem Jahr einen Dokumentarfilm in Kuzbass aufgenommen. Den Müll in Kuzbass kann man nicht übersehen, überall sind Müllberge. Niemand ist dort, der sich wirklich mit den ökologischen Folgen dieses Kohleabbaus beschäftigen möchte. Die meisten Minen wurden gegen Ende der Sowjetunion geschlossen, was sicher für die Arbeiter schlimm war. Jetzt wird viel offener Tagebau betrieben, mit Explosionen und allem. Die Lage dort ist katastrophal, sowohl sozial als auch wirtschaftlich. Deswegen katastrophal, weil die Kohlekonzerne private Konzerne sind und sich nicht für Umweltschutz interessieren. Die Regierung wiederum ist nicht gewillt, die Konzerne zu zwingen, die ökologischen Folgelasten zu tragen.

Das Problem mit dem offenen Tagebau ist, dass dort viel mit Explosionen gearbeitet wird, und diese sind häufig in der Nähe von Ortschaften. In der Folge ist die Rußentwicklung sehr hoch, die Häuser werden geschädigt. Man kann dort schlecht leben, wo Kohle in dieser Weise abgebaut wird.

Wir haben den Film auch gemacht, weil wir das Schicksal eines indigenen Volkes in Sibirien, der Schoren, beschreiben wollten. Im Film geht es darum, dass das Dorf der indigenen Bevölkerung dem Kohleabbau zum Opfer fallen soll und wie sich die Menschen dagegen wehren. Der Kampf wird beschrieben.

GWR: Du bist in einem Offenen Brief an RWE auf die Zusammenhänge eingegangen. RWE stellt das Ganze ja als saubere Kohle dar, die aus Russland kommt. Gab es eine Reaktion von RWE auf Deinen Offenen Brief, der u.a. auf der Internetseite www.urgewald.de veröffentlicht wurde?

Vladimir Slivyak: Nein, es gab keine Reaktion.

GWR: Ich möchte auf ein Thema zu sprechen kommen, das uns momentan alle bewegt, die Ukraine-Krise. Wie schätzt Du diesen Krieg ein?

Vladimir Slivyak: Ich möchte zunächst vorausschicken, dass ich hier nicht die Meinung unserer Organisation mitteile, weil wir als Organisation uns nicht mit Kriegen beschäftigen. Aber ich bin der Auffassung, dass Russland diesen Krieg begonnen hat und dass der russische Staat und Putin die volle Verantwortung dafür tragen, was in der Ukraine derzeit passiert.

Vor kurzem hat einer der Separatisten ganz offen in einem Interview gesagt, dass die bewaffneten Separatisten die Grenze von Russland in die Ukraine überschritten haben. Wenn sie das nicht getan hätten, dann wäre dieser Krieg auch schon längst zu Ende gewesen, hat er gesagt. Darum ist für uns nicht die Frage, warum der Krieg begonnen hat. Für uns ist klar, dass Russland den Krieg begonnen und ihn gewollt hat.

Was ich jetzt sage, bezieht sich vor allem auf die Informationen, die ich von meinen Freunden erhalten habe, die in der Ukraine leben. Das heißt aber nicht, dass ich der Auffassung bin, dass in der Ukraine alles in Ordnung ist. Nein, da ist nicht alles in Ordnung, die neue Regierung ist nicht in Ordnung, das will ich auch damit nicht sagen. Ich denke, dass das, was die Leute da offenbar gemacht haben, ein wunderbares Beispiel dafür ist, wie man gegen einen Präsidenten kämpft, den sie nicht haben wollten. Ein Beispiel dafür, wie man eine Revolution macht.

Die Leute, die ich kenne, die auch auf dem Maidan aufgetreten sind, die sich eingesetzt haben, die sind nicht unbedingt von der neuen Regierung begeistert. Aber das heißt nicht, dass man die Proteste auf dem Maidan nicht hätte machen sollen. Nein. Das ist eine ganz normale Sache: Wenn den Leuten die neue Regierung nicht gefällt, dann kritisieren sie diese. Das macht man auch im Westen.

Das ist auch ein Unterschied zwischen der Ukraine heute und Russland heute, dass sie in der Ukraine durchaus die eigene Regierung kritisieren, aber dass man das in Russland nicht tun darf. Sie bezahlen einen hohen Preis für ihre Freiheit. Aber ich denke, wenn ich die Wahl hätte, wäre ich auch bereit, einen großen Preis für die Freiheit zu bezahlen. Ich weiß, dass es gerade unter den Linken so einen Diskurs gibt, wo es vor allem um Geopolitik geht, den ganzen Konflikt zwischen Russland und den USA. Wenn Politiker Differenzen haben, müssen sie diese Differenzen auch in Verhandlungen lösen, nicht mit Gewalt, nicht mit einem Krieg, nicht so, wie Putin es gemacht hat, der einen Krieg in der Ukraine losgetreten hat. Wenn Putin etwas nicht gefällt, wenn er mit der Position des Westens nicht einverstanden ist, dann soll er doch zurücktreten und auch mit einem Gewehr in der Ukraine kämpfen. Was er macht, ist scheinheilig. Normalerweise sind die Politiker falsch und haben doppelte Standards, und hier ist es Putin, der falsch spielt.

GWR: Ich denke, dass es beim Ukraine-Konflikt zwei imperiale Machtblöcke gibt, die sich um den „Kuchen“ streiten. Auf der einen Seite Russland, auf der anderen die NATO und die Europäische Union, die alle versuchen, die Ukraine in ihren Einflussbereich zu ziehen. Durch die Ausdehnung der NATO auf die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten und das Russland ausgrenzende EU-Ukraine-Assoziierungsabkommen haben die Europäische Union und die NATO Öl ins Feuer gegossen. Das ist auch ein geopolitischer Machtkampf um einen Teil der ehemaligen Sowjetunion.

Vladimir Slivyak: Man kann alles machen, man kann diskutieren, man kann Verhandlungen führen, man kann auch Druck ausüben, aber eine Grenze darf man nicht überschreiten, nämlich einen Krieg zu beginnen. Und das hat eben Russland gemacht, das hat Putin gemacht.

GWR: Die NATO hat Ähnliches z.B. bei der Zerstückelung Jugoslawiens gemacht und damit die Büchse der Pandora geöffnet. Das war 1999 ein völkerrechtswidriger NATO-Angriffskrieg gegen die damalige Bundesrepublik Jugoslawien.

Ebenso war auch die Einverleibung der Krim durch Russland 2014 eine völkerrechtswidrige Annexion. Ich sehe es aber nicht so, dass Putin und Russland die alleinigen Aggressoren in der Ukraine-Krise sind, sondern auch die NATO und die EU. Letztere haben durch ihr aggressives Expansionsdrängen eine Mitschuld an diesem Konflikt.

Es gibt viele Aspekte, die wir berücksichtigen sollten, wenn wir Machtkämpfe und Herrschaftsstrukturen beleuchten.

Vladimir Slivyak: Ich denke, dass diejenigen, die damals gegen die Militäroperation in Jugoslawien auf die Straße gegangen sind, eigentlich auch gegen Putins Krieg auf die Straße gehen müssten. Aber das Gegenteil ist der Fall. Es sind genau die Leute, die diesen Krieg rechtfertigen. Warum ist das so?

GWR: Das ist eine gute Frage. Ich rechtfertige den Krieg nicht. Jeder Krieg ist für mich ein Verbrechen an der Menschheit.

Die GWR möchte global antinationalistische, gewaltfreie und anarchistische Graswurzelbewegungen unterstützen.

Ich denke, dass der von Altkanzler Schröder zum „lupenreinen Demokraten“ verklärte Putin ein homophober Nationalist, Machtpolitiker, Militarist und Imperialist ist. Nationalismus ist ein Riesenproblem, sowohl in Russland als auch in der Ukraine. Sich gegen Nationalismus zu stellen, ist wichtig.

Vladimir Slivyak: Wenn wir uns den Nationalismus anschauen im Vergleich Ukraine zu Russland, muss ich sagen, dass der Nationalismus in Russland wesentlich schlimmer ist als der in der Ukraine.

In Moskau gehen Zehntausende auf einer offiziell erlaubten Demonstration mit faschistischen Flaggen auf die Straße. Ist halt noch eine andere Sache, wenn in Russland so große Teile von Nationalisten auf die Straße gehen.

Natürlich gibt es in der Ukraine auch einen Nationalismus, wie übrigens auch in Deutschland.

Aber es gibt ihn nicht in diesen großen Mengen.

GWR: Die extrem rechte Swoboda-Partei und der neofaschistische Rechte Sektor haben bei den Maidan-Protesten in Kiew eine zunehmend wichtige Rolle gespielt und sich gerade durch die Militarisierung in diesem Konflikt hervorgetan. Ich möchte das nicht eindimensional sehen. Auf beiden Seiten kochen auch Nationalisten ihre übel riechenden Süppchen.

Vladimir Slivyak: Ja, beim Maidan, da waren eigentlich alle. Da waren Nationalisten, da waren Anti-Nationalisten, da waren Linke, da waren Rechte. Einfach alle.

GWR: Welche Perspektiven der internationalen Vernetzung von libertär-sozialistischen, antifaschistischen, emanzipatorischen Bewegungen, auch der Ökologie- und Anti-Atom-Bewegung, siehst Du?

Vladimir Slivyak: Es gibt einen Teil der Welt, wo die bürgerlichen Freiheiten mehr oder weniger funktionieren, und es gibt einen anderen Teil der Welt, wo die bürgerlichen Freiheiten mehr und mehr eingeschränkt werden. Was uns immer vereint hat, war die Solidarität. Natürlich, wenn einer Probleme hatte oder hat, dann müssen die Bewegungen der anderen Länder mobilisieren, um dem ersten zu helfen.

Wir haben viel mit deutschen Organisationen zusammengearbeitet, viele Erfolge haben wir gemeinsam errungen.

Wir haben auch mit Franzosen und Italienern zusammengearbeitet. Das war immer unsere Stärke, dass wir internationale Beziehungen und Kontakte hatten. Seitdem Putin Russland regiert, seit über 15 Jahren, ist die Tendenz, dass es Jahr für Jahr weniger Möglichkeiten gibt, auf die Situation noch einzuwirken. Wir haben ein anderes Gefühl bekommen: Da kannst du machen, was du willst, du hast nicht mehr die Möglichkeit, auf diese Regierung einzuwirken und schlimmere Entwicklungen zu verhindern. Deshalb war es auch hilfreich für uns, die internationalen Beziehungen zu stärken, damit das Ausland wiederum Druck auf unsere Machthaber ausüben konnte.

Das war effektiver als der Druck von innerhalb des Landes.

GWR: Wie siehst Du denn in diesem Zusammenhang die Chancen? Gibt es die Möglichkeit, zum Beispiel Protestbriefe zu schreiben und Druck von außen auf die russische Regierung auszuüben, um ecodefense zu unterstützen?

Vladimir Slivyak: Es ist immer gut, Briefe zu schreiben, um einer Beunruhigung Ausdruck zu geben.

Je mehr Briefe Sie schreiben, desto leichter werden Sie es haben. Natürlich ist daran eine Regierung nicht interessiert, und wenn eine Regierung eine Organisation schließt, dann möchte sie möglichst wenig Aufsehen erregen, möglichst wenig kritische Fragen gestellt bekommen. Je mehr Leute sich die Mühe machen, derartige Fragen zu stellen, umso schlechter wird es für die russische Regierung werden. Das wiederum wird es in einem weiteren Schluss für uns einfacher machen.

GWR: Wie sieht Deine persönliche Utopie, Deine Vorstellung von einer idealen Welt aus?

Vladimir Slivyak: Eine ideale Welt wäre für mich eine, in der es die persönlichen Freiheiten der Menschen gäbe und sich der Staat in diese nicht einmischen würde, wo die Interessen der Menschen wichtiger wären als die Interessen des Staates und der Industrie.

Noch idealer wäre es, wenn es überhaupt keinen Staat mehr gäbe, wenn alles über eine sich selbst organisierende Kommune geregelt werden könnte. Nur damit können wir uns momentan nicht beschäftigen. Momentan müssen wir unsere ganze Energie darauf verwenden, um uns gegen den Druck zu wehren, den wir von Putin verspüren.

GWR: Ein Schlusswort?

Vladimir Slivyak: Ich möchte allen Leserinnen und Lesern der Zeitschrift Graswurzelrevolution meine Grüße ausrichten und ihnen sagen, dass ich diese Zeitschrift sehr liebe. Und ich möchte sagen: Wissen Sie, Rechte gibt man nicht, Rechte nimmt man sich.

GWR: Herzlichen Dank für das Gespräch.

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Vladimir Slivyak
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