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Von anarchistischen Luftlandetruppen und elektronischen Fußfesseln

Wie weiter nach dem Hungerstreik von Nikos Romanós und den Wahlen vom 25.01.2015? Ein Bericht aus Griechenland

| Ralf Dreis

Einstimmig verabschiedete das griechische Parlament am 10.12.2014 ein Gesetz, das Gefangenen auch in der Zukunft ihr Recht auf Freigang zwecks Studiums garantiert. Der 21jährige Anarchist Níkos Romanós, der für dieses ihm vorenthaltene Recht am 10.11.2014 in den Hungerstreik getreten war (vgl. GWR 395), brach diesen daraufhin nach 31 Tagen ab. Studierende Gefangene müssen nun während der Vorlesungen die so genannte elektronische Fußfessel tragen. Ob dieser für alle Seiten tragbare Kompromiss ein "Sieg des Parlamentarismus" war, wie die Syriza-Abgeordnete und Menschenrechtsanwältin Zoí Konstantopoúlou nach der Abstimmung erklärte, oder ein Erfolg von Romanós und der Solidaritätsbewegung, wird vom weiteren Agieren der anarchistischen Bewegung abhängen.

Die Tatsache, dass Zehntausende über Tage auf die Straße gehen, Rathäuser, Landratsämter, Industrie- und Handelskammern, Unis und Gewerkschaftshäuser besetzen, um diese in Kampf- und Aktionszentren umzuwandeln und für die Rechte eines inhaftierten Anarchisten zu kämpfen, macht Mut.

Die breite Solidarität und die Härte der Auseinandersetzungen sollten jedoch nicht zu neuen Mythenbildungen über die Stärke und Militanz der anarchistischen Bewegung führen. Zu viel hing direkt mit der Person Níkos Romanós und seiner speziellen Geschichte zusammen und zu viel läuft innerhalb der Bewegung bisher schief.

Romanós war einer jener Freunde von Aléxandros Grigorópoulos, die dessen Ermordung durch Polizeibeamte am 6.12.2008 als Augenzeugen miterleben mussten. Grigorópoulos starb sozusagen in den Armen des damals 15jährigen Freundes. Die auf den Mord folgenden Riots mündeten in den heftigsten sozialen Aufstand der jüngeren Geschichte Griechenlands.

Auch damals bildeten die landesweiten Besetzungen von Rathäusern, Schulen, Uni-Fakultäten und Gewerkschaftshäusern ein Netzwerk von Widerstandszentren, die den wochenlangen Aufstand antrieben. Beeinflusst durch diese Erfahrungen und die folgenden Jahre der brutalen Durchsetzung kapitalistischer Spardiktate im autoritären Krisenstaat, radikalisierte sich die um ihre Zukunft betrogene Jugend des Landes. Mit seinen Genossen Dimítris Polítis, Dimítris Bourzoúkos und Giánnis Michailídis verübte Romanós 2013 einen doppelten bewaffneten Banküberfall in Velvedó bei Kozáni im Nordwesten Griechenlands, um das erbeutete Geld in die politische Arbeit zu stecken. Daraus wurde nichts. Nach wilder Verfolgungsjagd wurden die vier gefasst und von der Polizei gefoltert (vgl. GWR 377). Inzwischen ist Romanós zu 15 Jahren Knast verurteilt, weitere Anklagen, u.a. wegen angeblicher „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ stehen noch aus.

Die weitere Eskalation heißt irgendwann Bürgerkrieg

„Aerometaferómenes monádes tagmáton anarchikón“ – „Anarchistische Luftlandetruppen“ haben nach Ansicht des TV-Senders ANT1 in der Nacht des 6.12.2014 die eingesetzten Polizeieinheiten in Exárchia von Hausdächern aus angegriffen.

Die Beamt_innen ihrerseits setzten massiv Tränengas, Blendschockgranaten und erstmals seit Jahrzehnten gepanzerte Wasserwerfer ein. Allein drei Wasserwerfer am Exárchia-Platz, „weil es einer allein nicht durch die kämpfende Menge schaffte, die sich stundenlange Auseinandersetzungen mit der Polizei lieferte“, wie Nansy Stamáti vom sozialen Zentrum Nosotros laut einem Bericht auf indymedia linksunten (12.12.2014) betonte. Tatsächlich wurden die von vielen Einwohner_innen Exárchias als Besatzungstruppen bezeichneten Polizeieinheiten, nach der Zerschlagung der 6.12.-Demonstration, während der folgenden Straßenschlachten massiv von Dächern und Balkonen mit Steinen, Blumentöpfen, Molotowcocktails und sogar einem Kühlschrank beworfen.

Die von den Wärmebildkameras der Polizeihubschrauber auf den Dachterrassen erfassten Personen wurden dann in den Fernsehnachrichten als „Luftlandetruppen der Anarchisten“ bezeichnet.

Im allgemeinen Trubel und Gelächter über die „Luftlandetruppen“ ging unter, dass damit zukünftigen breitflächigen Häusererstürmungen der „Antiterroreinheiten“ in Exárchia der Weg geebnet wurde. Durch Videos und Medienberichte belegt und ebenfalls vernachlässigt wurde auch die Tatsache, dass an diesem Abend erneut hunderte mit Latten und Baseballschlägern ausgerüstete Vermummte auf Seiten der Polizei unterwegs waren und viele Hauseingänge in Exárchia am folgenden Morgen blutverschmiert waren. Es gab über 300 vorläufige Festnahmen, darunter viele Verletzte.

Aus der Vergangenheit gelernt!?

Ebenfalls am 6. Dezember gelang es abends in Thessaloníki, das kurz zuvor besetzte Arbeiterzentrum erfolgreich gegen die Erstürmung der MAT-Sondereinheiten zu verteidigen. Vor allem den Genoss_innen im Eingangsbereich ist es zu verdanken, ähnlich schreckliche Szenen wie 2001 in Genua, in der während des G8-Gipfels durch die italienische Polizei gestürmten Diaz-Schule, verhindert zu haben.

Wenige Stunden zuvor hatte eine Gruppe Unbekannter am Rande der Großdemo mit 10.000 Menschen versucht, eine Filiale der Bekleidungskette Zara in Brand zu stecken, obwohl sich Menschen in dem Geschäft aufhielten. Sofort eilten Aktivist_innen des anarchistisch/antiautoritären Blocks mit Feuerlöschern herbei, vertrieben die Unbekannten, löschten den Brand und geleiteten die Beschäftigten ins Freie. Eine noch am Abend verbreitete Erklärung neun anarchistischer/antiautoritärer Organisationen und Gruppen aus Thessaloníki stellt klar: „Taten wie dieser Brandanschlag haben nichts mit der Logik und der Praxis der Bewegung zu tun – einer Bewegung, die für das Leben und die Freiheit kämpft – und wir bewerten sie als gegen uns gerichteten feindlichen Akt. Darüber hinaus wirken sie verleumderisch und werden zur Kriminalisierung verhafteter Genoss_innen genutzt. Aus all diesen Gründen stellen wir unmissverständlich klar, dass wir solche Taten auch in Zukunft nicht dulden werden.“

Da die Erklärung u.a. in der genossenschaftlichen Tageszeitung Efimerída ton syntaktón veröffentlicht wurde und Angestellte von Zara in Interviews im ehemals staatlichen Fernsehsender ERT betonten, dass „Demonstranten das Feuer gelöscht“ und sie „ruhig und umsichtig ins Freie geleitet“ hatten, lief die Propaganda regierungsnaher Sender ins Leere.

Wie weiter?

Die seit dem Ende der Diktatur 1975 stetig wachsende anarchistische Bewegung Griechenlands stand sich auch immer wieder selbst im Weg. Zuletzt nach der Dezember-Revolte 2008 und der staatlichen Zerschlagung der Massenproteste gegen die Spardiktate 2010 bis 2012 zerstritten sich viele Gruppen in sektiererischen Abgrenzungsritualen.

Die Gründe für die Spaltungen sind vielfältig: Unterschiedliche politische Einschätzungen, persönliche Animositäten, Besitzansprüche über die Definitionsmacht des „wahren Anarchismus“, Herrschaftsstrukturen innerhalb der Gruppen, und bei jüngeren Genoss_innen das Verkommen von Anarchismus zu Coolness und Lifestile. Organisationen wie die Antiautoritäre Bewegung (antiexousiastikí kínisi, AK), die versuchen, sich kontinuierlich mit festen Strukturen und verantwortlicher Öffentlichkeitsarbeit landesweit zu organisieren, werden als Anarchopartei, reformistisch, stalinistisch oder – nicht ganz zu Unrecht – als andere Gruppen dominierend angegriffen.

Die Zerwürfnisse führten in den letzten beiden Jahren dazu, dass große anarchistische Mobilisierungen und Demos fast nur zur Verteidigung der eigenen Strukturen, wie gegen die Räumungswelle besetzter Häuser 2013, oder gegen die faschistischen Mörderbanden von Chrysí Avgí, stattfanden. Die gravierende Verschärfung der Repression seitens des Staates kommt als äußeres Hemmnis hinzu.

Das Abhören von Gesprächen, Massenverhaftungen auf Demonstrationen, Observierungen oder Misshandlungen auf Polizeiwachen, bis zu 18 Monate Untersuchungshaft für nichts, die Anwendung von „Antiterrorgesetzen“ gegen Aktivist_innen, jahrelange Haftstrafen, Demonstrationsverbote, die Zwangsrekrutierung von Streikenden und nicht selten die unmittelbare Zerschlagung von Streiks, Demonstrationen und Kundgebungen durch die faschistisch unterwanderte Polizei, gehören zum Arsenal. Aktuell sitzen über 40 Anarchist_innen nach zum Teil skandalösen Prozessen in griechischen Knästen ein.

Mit Jahresbeginn wurde begonnen, die ersten politischen Gefangenen im neuen Hochsicherheitsknast Domokós zu isolieren. Trotz solcher Konsequenzen eskalieren die Auseinandersetzungen auf der Straße immer weiter. Das Unbehagen vieler über verbreitetes Mackergehabe nach der Schlacht mag man als Stilfrage abtun, das Gelächter über die „Luftlandetruppen“ ist naiv.

Die immer militärischere Auseinandersetzung mit dem Staat wird unzweifelhaft zur Niederlage führen, da das weitaus größere Waffenarsenal und abertausende Uniformierte, die es auf Befehl auch einsetzen, auf Seiten der Staatsmacht stehen.

Gibt es ein richtiges Leben im Falschen?

Die große Mehrheit der griechischen Bevölkerung glaubt weder an die Revolution noch an eine befreite Gesellschaft. Trotzdem suchen viele nach gangbaren Alternativen zu Armut und Ausbeutung im Kapitalismus.

Wenigen Gruppen gelingt es mehr im Stillen (prekäre) Auswege aus staatlicher Repression und kapitalistischer Krise zu finden. Der Rückzug aufs Land, die Produktion biologischer Lebensmittel und der Aufbau alternativer Verteilerstrukturen erscheinen ihnen als Lösung.

Vor allem im Umfeld der sozialen Zentren wird darüber hinaus versucht durch direktdemokratische Selbstorganisierung, gegenseitige Hilfe, des Aufbaus selbstverwalteter Betriebe und deren Vernetzung, den Aufbau einer freieren Gesellschaft zu erproben. Da viele dieser Versuche eng mit besetzten Häusern und Räumen verbunden sind, ist die Drohung ihrer Zerschlagung durch den Staat immer präsent. Eine Ausbreitung solcher Projekte auf breitere Bevölkerungsschichten und damit das Erlangen gesamtgesellschaftlicher Relevanz kann nur gelingen, wenn sie über die alternative Szene hinaus als realistische Überlebensstrategie wahrgenommen werden.

Ein Ende der Abgrenzungen innerhalb der anarchistischen Bewegung, Solidarität und gemeinsames Agieren statt der ständigen Betonung von Unterschieden wäre dabei hilfreich. Das geschlossene und entschiedene Auftreten auf der Demo des 6.12. in Thessaloníki, die gemeinsame Besetzung und Verteidigung des Arbeiterzentrums und die Erklärung der neun – sich nicht immer freundlich gesinnten – anarchistischen/antiautoritären Zusammenhänge sind ein wichtiger Schritt, damit die erfolgreiche Hungerstreikkampagne nicht nachträglich zum Sieg des Parlamentarismus wird. Weitere müssen folgen. Dazu Grigóris Tsilimantós von AK- Thessaloníki: „Romanós hat seinen Anteil an der Geschichte, in dem er viel mehr gegeben hat als es seinem Alter entspricht. Aber die Geschichte, die machen wir alle. Die Frage also wer gewonnen hat, Romanós oder der Parlamentarismus, ist die Frage des nächsten Tages, und der hat schon begonnen. Konstantopoúlou hat (…) als Politikerin gesprochen. Indem sie sagte, der letztendliche Gesetzesentwurf sei ein Sieg des Parlamentarismus, hat sie uns den Handschuh für den nächsten Tag hingeworfen. Diese Formulierung geht viel weiter als nur um die Sache von Romanós. Falls in den Zeiten, die kommen, sich die Jahre 1981-84 wiederholen sollten, dann hat der Parlamentarismus gewonnen. Falls die unbeherrschten Bewegungen lebendig und auf der Straße kreativ bleiben, dann hat Romanós gewonnen.“ (indymedia linksunten, 12.12.2014)

Mit leeren Versprechungen wie „Raus aus der Nato“, „Raus aus der EG“, „Enteignung und Verteilung von Kirchengrund“, gelang es 1981 – 84 der damals erstmalig regierenden Pasok von Andreas Papandréou, sich breite Teile der außerparlamentarischen radikalen Linken einzuverleiben und für den Parlamentarismus zurückzugewinnen. Ähnliches befürchten Teile der Bewegung nach den Syriza-Versprechungen „Ende der Spardiktate“, Rückgängigmachung der Lohn- und Rentenkürzungen“ und einem möglichen Wahlsieg am 25. Januar 2015.

Anmerkung der GWR-Redaktion

Die Wahl in Griechenland fand am 25. Januar 2015 statt, nach GWR 396-Redaktionsschluss. Eine Analyse des Wahlergebnisses erscheint voraussichtlich im März in der GWR 397.