U. R. Ananthamurthy: "Samskara. Oder was tun mit der Leiche des Ketzers, die uns im Weg liegt und das Leben blockiert". Lotos Werkstatt, Berlin 2013, 190 Seiten, 13,90 Euro, ISBN 978-3-86176-050-4
„Benga- wie bitte? – Das kann doch kein Mensch aussprechen!“ Ausgerechnet die bekannte global vernetzte südindische High-Tech-Metropole Bangalore wurde ab dem 1. November 2014 in das regionalsprachige Bengaluru umbenannt. Die Manager großer Elektronik- und Computerkonzerne sorgen sich um den gut eingeführten Markennamen Bangalores. Und noch zehn andere Städte in dem Bundesstaat Karnataka heißen ab jetzt Mysuru, Tumakuru, Chikkamagaluru…
Der am 20. August 2014 im Alter von 81 Jahren verstorbene Schriftsteller U. R. Ananthamurthy hatte sich für diese Umbenennungen stark eingesetzt. Er selbst schrieb seine Romane, Kurzgeschichten und Gedichte in Kannada. Das ist eine der neben Hindi und Englisch staatlich anerkannten 19 Regionalsprachen in Indien. Die kleinmachende Bezeichnung „Regionalsprache“ will so gar nicht zu der Tatsache passen, dass diese von über 40 Millionen Menschen gesprochen wird.
Regionalsprache kontra Globalisierung
Einerseits findet in Indien mit der Umbenennung der Städte eine nachträgliche Distanzierung von der Namensgebung der alten englischen Kolonialmacht statt. Im Fall von Karnataka soll zusätzlich der Sprache des einfachen Volkes, die von internationalen Großkonzernen immer mehr an den Rand gedrängt wurde, zu mehr Anerkennung verholfen werden. Ananthamurthy sagte einmal: „Ich wünsche mir, dass der für unsere Sprache Kannada so bezeichnende Vokal ‚u‘ bei den Menschen weltweit mit uns, mit Karnataka verbunden wird. Dieses Stückchen unserer Eigenheit sollte Teil unserer internationalen Präsenz sein“ (1).
Englisch schreibende indische SchriftstellerInnen werden weltweit vielbeachtet. Sie finden schneller zahlungskräftige Verlagshäuser und einfacher ÜbersetzerInnen als „Regionalsprachige“, die außerhalb Indiens kaum jemand kennt. Dabei hätten gerade diese authentisch schreibenden SchriftstellerInnen den westlichen LeserInnen etwas zu erzählen, was allzu oft in den Hintergrund gerät: Themen sind oft die mittelalterlichen Verhältnisse im überwiegend ländlichen Indien, wo die strenge Unterwerfung unter das Kastensystem und überkommene religiöse Vorschriften vielen Menschen das Leben schwer machen.
Religiöse Dogmen blockieren das Leben
Ananthamurthy führt uns in seinem bereits 1965 geschriebenen Roman für vier Tage in eine kleine, ultraorthodoxe Brahmanensiedlung in Karnataka, in der die Hauptfigur der Geschichte in eine existenzielle Krise gestürzt wird. Der fromme Sanskritgelehrte Praneshacharya absolvierte bisher ein freudloses, von Pflichterfüllung und religiösem Eifer geprägtes Leben, nachdem er mit sechzehn Jahren ein verkrüppeltes Mädchen geheiratet hatte. „Armer Mann, die Frau behindert, keine Kinder, nichts“. Er hatte den Titel „Stirnjuwel der vedischen Wissenschaft“ erworben und besaß fünfzehn gewirkte Schals.
In der dörflichen Tristesse, in der Witwen ihren Kopf kahl scheren mussten und die Angst vor schwerwiegenden religiösen Verfehlungen umging, klingt es wie Hohn, wenn Ananthamurthy den vornehmen Belehrungsstil des unglücklichen Heiligen beschreibt: „Welch delikate Phrasierung, welch sanftes Lächeln, welche Noblesse“.
Ganz im Gegensatz zu ihm führte sein weitläufiger Verwandter Naranappa ein den weltlichen Genüssen sehr zugeneigtes Leben und hatte ein langes „Sündenregister“. Er trank zum Entsetzen der anderen Brahmanen Alkohol, aß Fleisch, holte aus dem heiligen Tempelteich die Fische, verkehrte freundschaftlich mit ungläubigen Moslems aus den Nachbardörfern und hatte seit zehn Jahren eine schöne „Unberührbare“ als Geliebte. Obwohl er in der kleinen Siedlung als Außenseiter angefeindet wurde, konnte er aus der Brahmanensekte nicht ausgeschlossen werden. Ja, er drohte sogar damit, notfalls zum Islam überzutreten, als ihm Vorhaltungen gemacht wurden.
Dieser Ketzer Naranappa hatte von seiner letzten Reise in die Nachbardörfer eine Seuche, die später als Pest (Anspielung auf Camus!) kenntlich wurde, eingeschleppt und verstarb daran.
Ab jetzt darf niemand in der Siedlung etwas essen, bis die Leiche verbrannt worden ist. Es wird kompliziert. Wer soll das Totenritual „Samskara“ vollziehen, wo man doch bei so einem Schwerenöter nur alles falsch machen könnte und am Ende selbst zur Zielscheibe einer von Kastendünkel und Missgunst zerfressenen Gesellschaft werden würde? Als Naranappas Geliebte Chandra ihren Goldschmuck für die Bezahlung der Zeremonie anbietet, entfacht das die Gier der Brahmanen. Ach, wenn doch die religiösen Vorschriften nicht wären, könnten sie sich selbst diese fette Beute unter den Nagel reißen!
Alle warten auf die Erlaubnis von dem gelehrten Praneshacharya für Zeremonie und Verbrennung, damit sie endlich wieder essen können. Doch dieser ist bei diesem schwierigen Fall überfordert, eine Entscheidung zu fällen. Auch die Götter bleiben stumm. Die „Gesetze für Notsituationen“ in den heiligen Schriften erweisen sich als unbrauchbar und die vielen Mantras, die er herunterleiert, geben in dieser verfahrenen Situation nur einen verlogenen Trost und helfen nicht weiter. Die Hitze ist groß, die Leiche verwest und der Hunger der Brahmanen nimmt zu.
Inzwischen sterben weitere BewohnerInnen der Siedlung und immer mehr Ratten, Mäuse und Geier okkupieren das Gelände. Hunger und Verzweiflung machen sich breit. Der nachdenklich gewordene Praneshacharya sorgt mit seinem neuen Bekenntnis „ich weiß nichts“ für zusätzliche Verwirrung. In dieser „ausweglosen“ Situation werden die Frauen der Siedlung zu Verwandten gebracht und die Männer sprechen im weniger orthodoxen Nachbardorf vor, ob diese nicht endlich die Totenrituale für den umstrittenen Nonkonformisten durchführen könnten. Inzwischen jedoch hatte Chandra unbemerkt und heimlich zusammen mit einem befreundeten Moslem die Leiche verbrannt.
Der Weg aus der Finsternis
Ziel- und ratlos wandert unterdessen Praneshacharya durch die Wälder. Es wird ihm langsam bewusst, dass die vielen Gelübde, religiösen Zeremonien, Betrituale und auswendiggelernten Formeln seine Freiheit einschränken und ihn nicht glücklich machen. Womöglich verhindert gerade der von ihm so eifrig befolgte erste Lehrsatz Yogasutras „Yoga ist das Unterbinden der Gedankentätigkeit“ den Gewinn neuer Erkenntnisse und Erfahrungen?
Mitten in seinen schwierigen Selbstreflexionen platzt während seiner Wanderung der äußerst gesellige Hallodri Putta herein und lässt sich nicht mehr abschütteln.
Er begleitet ihn ab jetzt munter plappernd in die nächste Stadt zu einem turbulenten Jahrmarkt und macht ihn nahezu spielerisch mit all den Freuden und Verlockungen bekannt, die er in seinem bisherigen Leben verdrängt hatte. Aber auch hier muss er während der Beobachtung eines Hahnenkampfes Abstoßendes aushalten. Sein weiterer Lebensweg ist noch nicht eindeutig erkennbar, doch er hat als Wichtigstes seine Freiheit gewonnen.
Gandhianischer Sozialist
In seinem umfangreichen literarischen Werk stellte Ananthamurthy, selbst mit einer Christin verheiratet, die repressiven kulturellen und religiösen Normen des Hinduismus infrage und beeinflusste damit nicht nur die Intelektuellen aus der Mittelschicht, sondern breite Bevölkerungskreise. Hierzu beigetragen hat sicherlich die Verfilmung seines Romans „Samskara“ im Jahr 1970 (2).
Obwohl er sich sehr für seine Heimatsprache Kannada einsetzte, war er mehrere Jahre lang Professor für englische Literatur an der Universität Mysore, heute Mysuru. Er unterstützte den Kampf der Bauern und nahm an vielen gesellschaftlichen Debatten und ökologisch ausgerichteten Aktionen teil. Als Generalsekretär einer Bürgerinitiative für zivile Rechte kämpfte er für ein plurales Indien und trat energisch hindufundamentalistischen Kräften entgegen.
Während seiner Auslandsreisen war er auch bei dem Berliner Literaturfestival im Jahr 2002 und der Frankfurter Buchmesse 2006 zu Gast und erinnerte die erstaunte westliche Öffentlichkeit daran, dass Indien nicht nur das Land des Hinduismus und der Esoterik ist, sondern dass hier ebenfalls eine sehr lebendige freigeistige und antibrahmanische Bewegung existiert.
In diesem Sinne ist es wünschenswert, dass neben seinem fulminanten Hauptwerk „Samskara“ weitere Romane und Kurzgeschichten von Ananthamurthy übersetzt und veröffentlicht werden.
(1) Aus "Indien aktuell" vom 12.11.2014
(2) Film "Samskara" mit englischen Untertiteln: www.youtube.com/watch?v=etFi-HCuyLQ