die waffen nieder!

Eine EU-Armee für das deutsche EUropa?

| Jürgen Wagner

Die Pläne zum Aufbau einer "Vereinigten Armee von Europa" reichen zurück bis zum Pleven-Plan der frühen 1950er Jahre. Seither werden sie in schöner Regelmäßigkeit aus der politischen Mottenkiste geholt, zuletzt Anfang März 2015 durch EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, dem schnell andere Politiker, besonders aus Deutschland, beisprangen. Dahinter steckt das Kalkül, nur im EU-Verbund ließe sich die militärische - und damit auch die machtpolitische - Schlagkraft der Europäischen Union auf das Niveau ihrer Wirtschaftskraft hieven. Schon vor Jahren fasste der ehemalige belgische Außenminister Mark Eyskens diese Überlegungen in einem Spruch zusammengefasst, der inzwischen zum geflügelten Wort avanciert ist: "Europa ist ein wirtschaftlicher Riese, ein politischer Zwerg und, was noch schlimmer ist, ein militärischer Wurm, wenn es keine eigenständige Verteidigungsfähigkeit entwickelt."

Tatsächlich wurde aus genau diesen Gründen mit dem – schrittweisen – Aufbau einer EU-Armee längst begonnen.

Die wohl wichtigste Maßnahme in diesem Bereich ist das sogenannte Pooling & Sharing (P&S), die gemeinsame Beschaffung und Nutzung von Militärgerät.

Damit droht jedoch der komplette außen- und sicherheitspolitische Bereich jeglicher nennenswerten parlamentarischen Kontrolle entzogen zu werden. Dies dürfte allerdings sogar eher ein gewünschter Effekt sein – was dem Aufbau einer EU-Armee dagegen aktuell wirklich ernsthaft im Wege steht, sind die unterschiedlichen Interessen zwischen Deutschland und dem überwiegenden Rest der EU-Länder.

Machtpolitischer Mehrwert

Wie gesagt, die Forderung nach einer EU-Armee ist nicht eben originell, teils neu ist allerdings der Begründungszusammenhang (1), in den EU-Kommissionspräsident Juncker seine Initiative stellte: „Eine europäische Armee hat man nicht, um sie sofort einzusetzen. […] Aber eine gemeinsame Armee der Europäer würde Russland den Eindruck vermitteln, dass wir es ernst meinen mit der Verteidigung der Werte der Europäischen Union. […] Eine solche Armee würde uns helfen, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu gestalten und gemeinsam die Verantwortung Europas in der Welt wahrzunehmen. […] Im Übrigen würde eine europäische Armee zu einer intensiven Zusammenarbeit bei der Entwicklung und beim Kauf von militärischem Gerät führen und erhebliche Einsparungen bringen.“

Der Verweis auf Russland soll hier augenscheinlich den nötigen Alarmismus erzeugen, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Viel interessanter ist dagegen Junckers Äußerung, eine solche Armee sei generell von großem Nutzen, und zwar unabhängig davon, ob sie überhaupt eingesetzt wird. Hier reproduziert der EU-Kommissionschef die innerhalb der Eliten omnipräsente Vorstellung, dass der weltpolitische Einfluss eines Landes eng mit dessen militärischen Schlagkraft zusammenhängt. Mit anderen Worten brachte diesen Gedanken der ehemalige EU-Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering folgendermaßen auf den Punkt: „Politische Gestaltungskraft ist in der internationalen Politik aber unveränderlich an militärische Stärke gebunden. […] Die EU sollte sich daher nicht nur in ihrem Wunschdenken und ihrer Rhetorik zu einem Akteur von globaler Relevanz erklären, sondern sie muss auch die Mittel besitzen und danach handeln.“

Folgt man dieser Auffassung, so ist ein Zuwachs an militärischer Macht allein deshalb schon wünschenswert, da er mit der Vergrößerung des eigenen Einflusses einhergeht. Hier setzt Junckers zweites Argument in seinem Plädoyer für eine EU-Armee an: beim Geld. Denn selbstredend sollen die von ihm prognostizierten Einsparungen nicht zu einer Absenkung der Rüstungshaushalte führen, sondern zu Effizienzsteigerungen, also knapp zusammengefasst: Zu mehr Krieg pro Euro!

Ausgangspunkt der diesbezüglichen Überlegungen ist der kleinteilige europäische Rüstungssektor, der sich auf viele Länder und Rüstungsbetriebe verteilt und durch den das ganze Geschäft mit dem Krieg reichlich ineffizient wird. So argumentierte etwa Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel in seiner rüstungspolitischen Grundsatzrede (2) vom 8. Oktober 2014: „Die Verteidigungsindustrie in der EU ist nach wie vor national ausgerichtet und stark fragmentiert. Europa leistet sich den ‚Luxus‘ zahlreicher Programme für gepanzerte Fahrzeuge, den intensiven Wettstreit zwischen drei Kampfflugzeugen und eine starke Konkurrenz z. B. im U-Boot-Bereich. […] Folgen dieser unbefriedigenden Situation sind hohe Kosten und nachteilige Folgen für den internationalen Wettbewerb, aber auch negative Auswirkungen für die Streitkräfte. Die Bundesregierung muss daher nach meiner Meinung verstärkt auf eine europäische Zusammenarbeit bis hin zum Zusammengehen von in einzelnen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen setzen.“

Eine Bündelung des Rüstungssektors in einer EU-Armee (im Fachjargon: Konsolidierung) soll hier Abhilfe schaffen, wie etwa eine Studie des wissenschaftlichen Dienstes des EU-Parlaments namens „Cost of Non-Europe Report“ (3) argumentiert: „73 Prozent der Beschaffungsvorhaben würden bis heute nicht europaweit ausgeschrieben. ‚Zusammenarbeit bleibt die Ausnahme‘, urteilen die Experten. Die daraus entstehenden Mehrkosten sind immens. Laut Bericht belaufen sie sich auf mindestens 26 Milliarden Euro pro Jahr. Maximal könnten sich die verschwendeten Steuergelder sogar auf 130 Milliarden Euro jährlich summieren. Im Jahr 2012 gaben die EU-Staaten rund 190 Milliarden für Rüstung aus.“ (Spiegel Online, 08.12.2013) Auch Junckers Pressesprecher Margaritis Schinas gab an, mit der vom EU-Kommissionschef geforderten Intensivierung der „Zusammenarbeit bei der Entwicklung und beim Kauf von militärischem Gerät“, also mit Pooling & Sharing, könnten Kostensenkungen in dieser Größenordnung erreicht werden: „Wir haben Studien, die zeigen, dass wir bis zu 100 oder 120 Milliarden Euro pro Jahr einsparen können“ (euraciv.de, 10.03.2015)

Nukleus einer EU-Armee

Auch wenn die Einschnitte in den Rüstungshaushalten bei weitem nicht so dramatisch ausfallen, wie das Gejammer von Politik, Militär und Rüstungsindustrie nahe legt, existiert trotzdem aus oben beschriebenen Gründen ein hohes Interesse an einer Vergrößerung der militärischen Schlagkraft – und P&S soll genau dies bewerkstelligen. So heißt es in einem Papier der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): „Europa verliert die Fähigkeit, jenseits seiner Grenzen militärisch zu handeln. […] Die chronisch unterentwickelten militärischen Fähigkeiten drohen weiter zu verkümmern: als Folge der Finanzkrise schrumpfen die Verteidigungsapparate rasant. […] In den verteidigungspolitischen Kommuniqués von Nato und EU gilt Pooling und Sharing (P&S) derzeit als technokratische Wunderwaffe gegen drohende militärische Handlungsunfähigkeit.“

Die bislang aus 28 Einzelarmeen mit häufig vollkommen unterschiedlicher Ausrüstung modular oder ad-hoc zusammengesetzten EU-Einheiten sollen sukzessive in immer mehr Teilbereichen durch stehende gemeinsame Truppenteile mit gemeinsamen Stäben und einheitlicher Bewaffnung ersetzt werden. Die derart gebündelten Kräfte stellen den Nukleus einer künftigen EU-Armee dar und sollen dann die prognostizierten deutlichen Kostensenkungen in den Bereichen Anschaffung, Betrieb und Wartung militärischen Geräts nach sich ziehen. Das Ganze ergibt dann deutlich mehr Militärmacht als die Summe seiner Teile, so die Argumentation.

Der erste wesentliche Impuls zur Intensivierung von Pooling & Sharing ging von der deutsch-schwedischen Gent-Initiative aus, deren Vorschläge der Europäische Rat am 9. Dezember 2010 billigte. Im Dezember 2011 wurden elf Pilotprojekte vereinbart, die sich etwa auf Bereiche wie Luftbetankung, Satellitenkommunikation, „intelligente“ Munition usw. erstrecken. Um diese Bereiche auszuweiten, wurde am 19. November 2012 ein Verhaltenskodex (Code of Conduct) verabschiedet, dessen Zweck der damalige Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Christian Schmidt, folgendermaßen zusammenfasste: „Dieser Verhaltenskodex enthält eine starke politische Selbstverpflichtung der Mitgliedstaaten, die multinationale Kooperation stärker und von Anfang an in ihre nationalen Planungen einzubeziehen und möglichst zur bevorzugten Methode im Bereich der Fähigkeitsentwicklung zu machen.“

Auf dem Rüstungsgipfel im Dezember 2013 wurde dann ein „Policy Framework for Systematic and Long-Term Defence Cooperation“ in Auftrag gegeben, das im November 2014 veröffentlicht wurde. Beim nächsten anstehenden Rüstungsgipfel der Staats- und Regierungschefs im Juni 2015 soll die Intensivierung von Pooling & Sharing erneut weit oben auf der Agenda stehen – u.a. dürfte dabei der wiederholt gemachte Vorschlag debattiert werden, europaweite Beschaffungsprojekt generell von der Mehrwertsteuer zu befreien, um so P&S voranzubringen.

Kriegspolitik im stillen Kämmerlein

Zwar darf bezweifelt werden, dass Pooling & Sharing auch nur ansatzweise zu Einsparungen in Dimensionen führen wird, wie sie die oben genannten Studien nahelegen. Doch selbst wenn dies der Fall wäre, besteht, wie bereits erwähnt, die Absicht dann ohnehin nicht darin, dies für eine Senkung der Rüstungshaushalte zu nutzen, sondern für die Erhöhung der militärischen Schlagkraft. Allein schon deshalb ist das gesamte Konzept friedenspolitisch bedenklich.

Doch der eigentliche Haken ist die Frage der demokratischen Kontrolle – in einigen EU-Ländern, unter anderem auch hierzulande, verfügen die nationalen Parlamente (noch) über erhebliche Mitspracherechte, insbesondere was die Zustimmung zu Auslandseinsätzen anbelangt. Obwohl ein Szenario, in dem der Bundestag einen von der Regierung beschlossenen Einsatz kippen würde, nur schwer vorstellbar ist, hat der Parlamentsvorbehalt dennoch eine wichtige Funktion: Er zwingt dazu, über den Sinn bzw. Unsinn von Militäreinsätzen öffentlich zu debattieren und ein Mindestmaß an Rechenschaft darüber abzulegen.

Genau hier ergibt sich aus der Debatte um eine EU-Armee ein militaristischer Kollaterallnutzen, indem argumentiert wird, es könne nicht angehen, dass der Bundestag – und sei es nur theoretisch – den Einsatz von gemeinsam angeschafftem und/oder genutztem Militärgerät die Zustimmung versagen könnte. Dieser Mangel an „Verlässlichkeit“ sei der wesentliche Stolperstein, weshalb P&S nur langsam vorankomme. Er müsse aus diesem Grund aus dem Weg geräumt werden.

Am lautstärksten fassten diese Überlegungen der inzwischen verstorbene CDU-Bundestagsabgeordnete Andreas Schockenhoff und sein Kollege Roderich Kiesewetter schon 2012 folgendermaßen zusammen: „Wichtig ist, dass wir wie unsere Verbündeten auf Kommando-, Logistik-, Aufklärungs- oder Ausbildungseinheiten, die ‚geteilt‘ werden, verlässlich zugreifen können. […] Eine wirkungsvolle GSVP [Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik] wird die militärischen Fähigkeiten der einzelnen Staaten in so starkem Maße zusammenlegen und unter geteilte Führung stellen, dass es nicht möglich sein wird, nationale Vorbehalte als Einzelmeinung durchzusetzen. Deutsche Soldaten könnten damit in einen EU-Einsatz gehen, den die deutsche Regierung und der Deutsche Bundestag allein aus eigener Initiative nicht beschlossen hätten. […] Dieser Souveränitätsverzicht betrifft gerade den Bundestag mit seiner im europäischen Vergleich eher starken Mitspracherolle und müsste sich in einer Reform des Parlamentsvorbehalts bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr niederschlagen. Der Bundestag muss weiterhin das letzte Wort in Form eines Rückrufvorbehalts bei solchen Entscheidungen behalten.“

Mit der Frage, wie sich der Parlamentsvorbehalt am „besten“ aushebeln lässt, beschäftigt sich derzeit eine Kommission unter Leitung des ehemaligen Verteidigungsministers Volker Rühe, die in absehbarer Zeit ihre Vorschläge präsentieren will. Dabei ist zu sagen, dass ein Abbau nationaler Kontrollmöglichkeiten grundsätzlich abzulehnen ist. Dies gilt aber umso mehr dann, wenn gleichzeitig keine Stärkung des EU-Parlaments erfolgt – und genau hiervon ist nirgends in der gesamten Debatte ernsthaft die Rede. Bislang hat das EU-Parlament in der Außen- und Sicherheitspolitik faktisch nichts zu sagen und es deutet auch nichts darauf hin, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern könnte. Die als Exekutive agierenden EU-Staats- und Regierungschefs – und zwar v.a. die der großen EU-Länder, allen voran Deutschland – könnten also in absehbarer Zukunft die EU-Militärpolitik im Alleingang weitgehend unbehelligt von nationaler oder europäischer Kontrolle betreiben.

Pleven Redux

Trotz der machtpolitischen Attraktivität von P&S sind viele BefürworterInnen des Konzeptes unzufrieden, mit den eher mauen bisherigen Fortschritten in diesem Bereich. An Deutschland liegt es hier bestimmt nicht: Auch die Juncker-Initiative erfreute sich großer Unterstützung quer durchs nahezu komplette politische Farbenspektrum. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und auch Kanzlerin Angela Merkel begrüßten den Vorstoß ebenso wie der SPD-Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Hans-Peter Bartels und Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Als eine „hervorragende Idee“ bezeichnete auch der Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour die jüngste EU-Armee-Initiative, verwies allerdings darauf, dass dem einige „Elefanten“ im Weg stünden, etwa, dass eine EU-Armee unrealistisch sei, „solange es nicht eine europäische Außenpolitik gibt“.

Ungewollt verweist der heutige Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung Hans-Gert Pöttering auf den eigentlichen Elefanten im Raum: „Die EU kann nur gemeinsam das Gewicht, das sie mit Blick auf ihre Bevölkerung und Wirtschaftskraft besitzt, in die Waagschale werfen. Die Schuldenkrise in einigen EU-Ländern macht noch einmal offenkundig, was längst hätte klar sein müssen: Von einer gemeinsamen Währung profitieren alle, und daher müssen sich auch alle an die Spielregeln, an die vertraglichen Grundlagen der Währungsunion halten. […] In der Finanz- und Wirtschaftspolitik haben die Eurostaaten entscheidende nationale Kompetenzen schon an die supranationale Ebene übertragen. Es ist an der Zeit, dies auch im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu wagen.“

Angesichts solcher Sätze dürften in nahezu allen EU-Hauptstädten die Alarmglocken angehen. Schließlich hat die Bundesregierung gerade im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise unter Beweis gestellt, dass sie bereit und in der Lage ist, ihren Willen in diesem Bereich auch rabiat gegen andere EU-Länder durchzusetzen. Gepaart mit den teils offen artikulierten Forderungen nach einem „deutschen Europa“ dürfte hier die Ursache liegen, dass sich der Enthusiasmus dafür, auch im Militärbereich „nationale Kompetenzen an die supranationale Ebene zu übertragen“, derzeit in Grenzen hält. So äußerte sich etwa der britische Premier David Cameron zu Junckers Vorschlägen: „Unsere Position ist absolut klar. Für die Verteidigung sind konkrete Staaten und nicht die Europäische Union zuständig.“ Auch Polens Außenminister Grzegorz Schetyna nannte die Initiative eine „sehr riskante Idee“.

Und selbst aus Frankreich kommen eher zurückhaltende Töne und zwar aus nicht gänzlich anderen Gründen, weshalb die französische Nationalversammlung bereits den Pleven-Plan zum Aufbau einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft im Jahr 1954 versenkte. Louis Terrenoire, der damalige Generalsekretär der Gaullisten, kritisierte den Plan ein Jahr vor seinem Scheitern folgendermaßen: „Acht Jahre nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus sind die diplomatischen Bestandteile der germanischen Macht wiederhergestellt. Wenn die europäischen Integrationspläne, vor allem die Europäische Verteidigungsgemeinschaft, verwirklicht werden sollten, wird künftig über die deutsche Vorherrschaft kein Zweifel mehr möglich sein.“

Der Autor

Jürgen Wagner ist Politikwissenschaftler und geschäftsführender Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI, www.imi-online.de) in Tübingen.