Daniel Ryser: Slime - Deutschland muss sterben. Wilhelm Heyne Verlag, München 2013. 286 Seiten, 19,99 Euro. ISBN 978-3453676534.
Philipp Oehmke: Die Toten Hosen. Am Anfang war der Lärm. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2014. 379 Seiten, 19,95 Euro. ISBN 978-3498073794.
Es ist Zufall, dass mir gleichzeitig die Bandbiografien von Slime und Die Toten Hosen vorliegen und ich diese nacheinander weggelesen habe. Die Slime-Biografie lag für mich unter dem Weihnachtsbaum, die Hosen-Biografie für meine Freundin. Jeweils geschenkt von den Eltern, was ich in meinem Fall etwas überraschend finde – ein Buch mit dem Titel „Deutschland muss sterben“ wurde in der Generation, der die beiden Bands angehören, bestimmt nicht von den Eltern geschenkt – und im Fall meiner Freundin gar nicht, ist die doch Düsseldorferin.
Daniel Ryser ist, als er die Slime-Biografie veröffentlicht, 34 Jahre und schreibt u.a. für die WOZ. Philipp Oehmke ist mit 40 Jahren in meinem Alter und schreibt für den Spiegel. Das merkt man in mehrfacher Hinsicht. Slime scheinen für Ryser manchmal ein historisches Phänomen zu sein, das vor seiner Zeit lag. Die Bedeutung von Slime versucht er zu erklären, indem er ungleich bekanntere Bands – neben Tocotronic und Jan Delay eben auch Die Toten Hosen – zu Wort kommen lässt. Slime sind dann eben die Band, die kaum einer kennt, die aber die „Großen“ von heute inspiriert haben. Das funktioniert leider aus einem einfachen Grund nicht besonders gut: Slime haben zwar mittlerweile einen recht hohen Bekanntheitsstatus, um eine Biografie in die Hand zu nehmen, muss man aber wohl doch eher eingefleischter Fan sein und interessiert sich verhältnismäßig wenig für die Beurteilungen von Tomte oder Alec Empire – man hat ja eine eigene. So übrigens auch Philipp Oehmke, der in seiner Biografie der Toten Hosen Slime – und nicht Die Ärzte! – als zweite große Punkband der 1980er Jahre benennt – wenn er auch deutlich macht, dass ihm der politisch-militante Punk nicht nahe liegt.
Oehmke hat einen engeren Bezug zu seinem Thema als Ryser: Die Toten Hosen hat er 1988 zum ersten Mal live gesehen und 1993 zum ersten Mal interviewt – offenbar am Rande jener großen Demo in Bonn, die sich gegen die massive Einschränkung des Asylgrechtes – Grundgesetz Artikel 16a – wendete. Ich finde es erstaunlich, wer alles auf dieser Demo war. Autor Oehmke ebenso wie die Hosen, meine heutige Freundin mit ihrem Vater und ich auf Bildungsreise mit zwei Sozialkunde-Kursen.
Die Änderung des Asylrechts, damals euphemistisch als „Asylkompromiss“ bezeichnet, war für uns auch die Kapitulation des Staates vor dem neofaschistischen Terror auf den Straßen – vorhergegangen waren die Anschläge von Mölln, Rostock-Lichtenhagen, Mannheim-Schönau und – drei Tage nach besagter Demo – Solingen. Die damaligen Ereignisse waren für mindestens eine Generation prägend, sogar kollektiv traumatisierend. Das gilt für die 1960er Jahrgänge, aus denen die besagten Bands stammen ebenso wie für die 1970er Jahrgänge, die sich folgend mindestens ein Jahrzehnt die Themen Antifaschismus und Antirassismus als Priorität setzten. Die Toten Hosen wandelten sich eben zu diesem Zeitpunkt von der Funpunk- zu einer Rockband mit politischen Aussagen. Campino beschreibt das in der Slime-Biografie: „Ich blickte mich um und merkte, dass die politische Hauptbewegung des Punkrock den Rückzug angetreten hatte. Kaum noch Bands, die sich politisch äußerten. […] Wir waren in der Punkszene […] kein Gegenpart mehr, weil es den anderen Part kaum mehr gab. Also wurden wir politischer, […] um dieses Feld nicht den Rechten zu überlassen.“
Was Campino hier beschreibt, ging vielen so: 1992 habe ich Slime das erste Mal nach ihrer Reunion in Duisburg live gesehen – kurz vor Veröffentlichung des Reunion-Albums „Viva la Muerte“. Anders, als Ryser schreibt (wonach Slime nach der Indizierung 2011 erstmals „Bullenschweine“ nicht live spielten), distanzierte sich die Band seinerzeit in Interviews von dem „Aufruf zur Revolte“. Ein Jahr später – ich sah Slime live auf einem Festival in Spelle – war der Song zu meiner Überraschung wieder im Programm: Dazwischen lagen 33 Schüsse der GSG 9 auf das RAF-Mitglied Wolfgang Grams in Bad Kleinen am 27. Juni 1993.
Gerade in der Graswurzelrevolution die Bedeutung einer Band hervorzuheben, die eben nicht nur singt, „dies ist ein Aufruf zur Revolte“, sondern auch „dies ist ein Aufruf zur Gewalt“, mag seltsam erscheinen. Fishmob haben den Song 1997 als „Polizei-Osterei“ gecovert und landeten damit vorübergehend auf dem Index – der Staatsanwalt war allerdings bekennender Fan und erkannte den ironischen Gehalt. „Bullenschweine“ kann, gerade in Zeiten, in denen ein anderer Klassiker von Slime zum selben Thema – A.C.A.B. – auch gerne von Nazis zitiert wird, nur noch zeithistorische Bedeutung haben. Das stellt Daniel Ryser in dem gelungenen Schluss seiner Biografie schön dar: „Meine einzige Identifikationsfigur im Verein ist im Moment Fabian Boll, der seit mehr als zehn Jahren für die Braun-Weißen spielt“, sagt Slime-Sänger Dirk Jora, für den St. Pauli vor allem anderen kommt, und Ryser ergänzt: „Boll arbeitet halbtags als Kriminaloberkommissar bei der Hamburger Polizei“ .
Das Zunehmen rechtsextremer Gewalttaten und Angriffe war für Slime das Signal, wieder gebraucht zu werden. Den eigentlichen Soundtrack für die antifaschistische Gegenbewegung lieferten sie 1993 mit „Schweineherbst“, vor allem mit „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ und dem Titeltrack, der in Zeiten von PEGIDA und NSU erschreckend aktuell ist. Die Toten Hosen steuerten „Sascha… ein aufrechter Deutscher“ bei (mit einem durchaus problematischen Text, der Rechtsextremismus mit Erwerbslosigkeit und schlechter Schulbildung verbindet), die Rapper von Anarchist Academy „Solingen… willkommen im Jahr 4“, die Ärzte „Schrei nach Liebe“ und Die Goldenen Zitronen „Das bisschen Totschlag“.
Als neue Band und nicht nur meiner Meinung nach legitime „Nachfolger“ von Slime präsentierten sich gleichzeitig mit ihrem ersten Album …But Alive, die in Daniel Rysers Biografie gar nicht vorkommen, obwohl das enge Verhältnis zwischen den beiden Bands deutlich ist. Ryser bezeichnet Slime des öfteren als textlich-politische Erben von Ton Steine Scherben, zu recht. … But Alive wären, auch von ihrem Einfluss auf eine Politisierung junger Punks, hier unbedingt in die Reihe einzufügen. …But Alive-Sänger Marcus Wiebusch schrieb den Text für den Slime-Song „Aufrecht gehen“ (Schweineherbst, 1993), Slime-Schlagzeuger und -lyriker Stephan Mahler singt auf dem zweiten …But Alive-Album mit, der Slime-Gitarrist produzierte ihr drittes Album. …But Alive standen textlich irgendwo in der Mitte zwischen den politischen Texten Slimes und den privat-nachdenklichen von Tocotronic – man könnte auch sagen, irgendwo zwischen den Ansprüchen von Slime-Sänger Dirk und Slime-Schlagzeuger Stephan. Die Lücke, die …But Alive mit ihrer Auflösung 1999 im deutschsprachigen Punk hinterließen, ist nicht geschlossen worden – vielleicht hätten das die, den Toten Hosen verbundenen Koyaanisqatsi (deren „Deutschland muss sterben“ hieß „Goebbelsplatz“ mit dem Refrain „An Deutschland denken heißt Auschwitz denken“) werden können.
Dass sich die vorliegenden Bandbiografien erheblich unterscheiden, liegt nicht nur an den verschiedenen Bezügen der Autoren zu den jeweiligen Bands. Oehmke scheint trotz frühem Bezug mehr Fan der späteren Stadionrockband zu sein. Frühe Hosen-Auftritte live oder in Interviews tituliert er als „peinlich“. Meine Hosen-Sammlung endet mit „Learning English, Lesson 1“ 1991 – just in dem Jahr, als ich auch meine erste Slime-Cassette aufgenommen habe – gerade also das, was für unsereins vor 25 Jahren wichtig war, wischt Oehmke hinweg. Und dort, wo Ryser die Hintergründe der Hafenstraße, der Ereignisse um den Mauerfall und die darauf folgenden Pogrome betont – wobei die gesellschaftliche Atmosphäre insbesondere Hamburgs in den frühen 1980ern noch wesentlich deutlicher hätte beschrieben werden können – beschreibt Oehmke die familiären Hintergründe der Bandmitglieder der Toten Hosen. Es entsteht der Eindruck, dass die Mitglieder der Toten Hosen viel mehr aus dem Nähkästchen plaudern, den Journalisten näher an sich herankommen lassen, als die Mitglieder von Slime.
Auch das ist alles andere als „unpolitisch“ und der von Campino selber beschriebene Eindruck, dass sie erst mit den frühen 1990er Jahren eine politische Band wurden, stimmt nicht, wie auch Bela B. im Hosen-Film „Nichts als die Wahrheit“ beschreibt und wie auch Oehmke schlussendlich betont. Schon das erste Album Opel-Gang enthält mit „Ülüsü“ eine ironische Kritik an latentem Rassismus, die Single-B-Seite „Liebeslied“ darf als allgemeiner politischer Text verstanden werden. Vor allem aber war „1.000 gute Gründe“ vom Album „Ein kleines bisschen Horrorshow“ für die sich damals Politisierenden nicht unwichtiger als Slimes „Deutschland muss sterben“. Es war „1.000 gute Gründe“, dessen Songtext zur Beschlagnahmung einer Ausgabe der autonomen Szenezeitung „radikal“ führte, nicht „Deutschland muss sterben“. Bei Oehmke kommt das nicht vor, denn selbst wenn er die Abneigung gegen einen Anruf von Angela Merkel bei Campino nachvollziehen kann, so sind für ihn Die Toten Hosen eine durch und durch deutsche Band. Nicht nachvollziehen kann er die Abneigung, bei einem Sieg der deutschen Mannschaft bei der Fußball-WM zu spielen. Und somit wird das beschriebene Engagement der Hosen bei ihm ein deutsch-zivilgesellschaftliches, kein Widerständiges aus dem Geiste des Punk. „Tage wie diese“ ist für Oehmke eine deutsche Hymne; dass CDU und Fußball-Mannschaften dieses Lied gröhlen, fast schon eine Selbstverständlichkeit. Dabei möchte ich behaupten, dass jemand, der nicht als junger Punk mit seinen Freund*innen in den nächsten Punkladen oder zum nächsten Konzert – oder aber zur nächsten Demo – geströmt ist, gar nicht verstehen kann, worum es in diesem Lied geht. Es geht um die seltenen Momente, wo man auch mit 50 dieses Lebensgefühl wieder bekommt – ein Lebensgefühl, das CDU-Parteimitglieder und Profifußballer nie hatten.
Es sind übrigens gerade die neusten Lieder wie „Tage wie diese“ und „Altes Fieber“, mit denen Die Toten Hosen sich selber wieder – altersgerecht verpackt -näher kommen als in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Das ist zwar kein Punkrock mehr, aber in Stadionrock verpackter Respekt vor der Tradition des Punkrock.
Die beiden explizit deutschland-feindlichen Songs von Slime und Die Toten Hosen sind es, an denen die Kontaktpunkte der beiden so unterschiedlichen Bands deutlich werden. Der „wahre Heino“, der einst als Vorband der Toten Hosen auftrat und zu dessen Prozess nach Klage des „echten“ Heinos die Band in Sonnenbrille und mit blonden Perücken erschien, covert heute „Deutschland muss sterben“ in einer Schlager-Version. Und den Respekt, den Die Toten Hosen vor Slime beweisen, gibt es auch andersrum: „Fun! Eigentlich ganz geil…“ heißt es von Slime über die Hosen in einem Interviewausschnitt, der auf der Compilation 81 – 87 abgedruckt ist.
Bei allen Gemeinsamkeiten, die vielleicht nichts anderes sind als der gemeinsame zeitgenössische Hintergrund und dieselben musikalischen Vorlieben Ende der 1970er Jahre, unterscheiden sich die Bands doch in wesentlichen Punkten, und dies sind weniger politische oder unpolitische Texte: Abgesehen von den ausgetauschten Schlagzeugern hatten Die Toten Hosen niemals einen Besetzungswechsel, haben sich nie aufgelöst und fahren auch nach 30 Jahren noch gemeinsam in Urlaub. Bei Slime dagegen wundert man sich fast, dass diese unterschiedlichen Typen (und mittlerweile eine Typin) es je geschafft haben, bei den zahlreichen von Ryser berichteten Differenzen auch nur ein Album zusammen aufzunehmen. Und obwohl es die Slime-Interpretation des Erich Mühsam-Klassikers „Sich fügen heißt lügen“ es 2012 bis auf Platz 17 der Charts geschafft hat, sind die Mitglieder von Slime von Jobs abhängig oder sogar verschuldet. Die Toten Hosen dagegen sind heute schlicht ein – wenn auch relativ sympathischer – Konzern. Wie im Punk nicht unüblich, ist selbst auf der Höhe der Karriere hier alles noch D.I.Y. (do-it-yourself), wenn auch auf hohem Niveau – was übrigens auch darauf hinweist, dass das Projekt D.I.Y. nicht automatisch ein Rezept gegen den Kapitalismus ist. Dennoch darf man jeder Kommerzkritik an den Hosen eine Zeile des Düsseldorfer Rappers Koljah entgegenhalten: „Denn egal, was er [Campino] fürn Dreck erzählt, Ich hab noch jede Blamage gerechtfertigt“. „Mein Wunschlabel ist natürlich JKP“ geht dieser Text weiter – und auf dem Hosen-eigenen Label „Jochens kleine Plattenfirma“ ist kürzlich erst das Debüt-Album „Aversion“ von Koljah und seinen Kollegen, der Antilopen Gang, erschienen, das vor Slime-Anspielungen nur so strotzt.
Das Trauma, das am ehesten mit dem Stadtteil Rostock-Lichtenhagen verbunden ist, ist noch lange nicht verarbeitet. Der Weg von den Pogromen der Jahr 1991 – 1993 zur Asylgesetzänderung hat nicht nur die radikale Linke, sondern auch die extreme Rechte massiv geprägt: Hier haben Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt, Beate Zschäpe und diejenigen, deren Namen wir noch nicht wissen, Jahrgänge 1973 – 1975 und damit genau in dem Alter derjenigen, die mit Slime und Die Toten Hosen groß geworden sind, gelernt, dass man mit Terror und Gewalt Gesetze ändern kann. Es folgen die „patriotischen“ Massen in Gestalt von PEGIDA und Co. So wie 1992/1993 brauchen wir 20 Jahre später nicht nur, aber auch einen kulturellen Aufschrei für Humanität. Christian Mevs von Slime: „Aber in meinen Augen muss mehr kommen, Konkreteres.“ Oder Beate-Maria Frege, Campinos Schwester, deren Wunsch an die Toten Hosen auch zukünftig Relevanz hat: „Für mich hätt’s da gerne noch klarere Aussagen geben dürfen.“ Man sollte KünstlerInnen nicht nur dann respektieren und Musik nur dann hören, wenn sie eine „Message“ haben, das wäre ein respektloser Umgang mit der Kunstform. Nichtsdestotrotz brauchen wir in diesen Zeiten eine engagierte Kultur wohl mehr als eine autonome.
Die Toten Hosen: 1.000 gute Gründe (Ein kleines bisschen Horrorshow, 1988)
Hohe Berge, weite Täler, klare Flüsse, blaue Seen, dazu ein paar Naturschutzgebiete, alles wunderschön. Wir lieben unser Land!
Totale Pflichterfüllung, Ordnung und Sauberkeit, alles läuft hier nach Fahrplan, der Zufall ist unser Feind. Wir lieben unser Land!
Unser Fernsehprogramm, unsere Autobahn. Wir lieben unser Land!
Es gibt 1.000 gute Gründe, auf dieses Land stolz zu sein. Warum fällt uns jetzt auf einmal kein einziger mehr ein?
Unser Lieblingswort heißt Leistung, wir sind auf Fortschritt eingestellt.
Nicht ist hier unkäuflich, wir tun alles für gutes Geld.
Wir lieben unser Land! All die Korruption, die Union! Wir lieben unser Land!
Es gibt 1.000 gute Gründe, auf dieses Land stolz zu sein. Warum fällt uns jetzt auf einmal kein einziger mehr ein?
Unsere Pässe sind fälschungssicher und unser Lebenslauf bekannt.
Keiner scheint hier zu merken, dass man kaum noch atmen kann.
Wir lieben unser Land!
Für jeden Querkopf ein Gummigeschoss. Wir lieben unser Land! Wir lieben unser Land!
Wo sind all die ganzen Gründe, auf dieses Land stolz zu sein?
So sehr wir auch nachdenken,uns fällt dazu nichts ein!
All die ganzen Gründe…