grenzenlos

Rojava

Der Versuch unter schwierigsten Bedingungen Leben neu zu organisieren. Ein Bericht aus Cesire/Nordsyrien

| Michael Wilk

Dr. Michael Wilk, Notarzt und Psychotherapeut, reiste im Dezember 2014 für die Organisation PHNX nach Cesire, um dort die medizinische Situation zu recherchieren. Ein Kurzbericht.

Sere Kaniye, eine Stadt mit 30 000 EinwohnerInnen, mit Umland ca. 70 000, davon geschätzt 16.200 Flüchtlingen. Das Krankenhaus war im Verlauf des syrischen Bürgerkriegs von der dschihadistisch-salafistischen Nusra-Front besetzt worden und wurde deshalb von der syrischen Regierung bombardiert, bis es 2013 von Einheiten der kurdischen YPG/YPJ befreit wurde. Im weniger beschädigten Seitenbau des zum Teil erheblich zerstörten ehemaligen staatlichen Krankenhauses arbeitet seit ca. zwei Jahren ohne Unterbrechung, ohne Urlaub Kollege Xahled, ein Abdominalchirurg, der jedoch auch alle anderen Notfälle und Erkrankungen behandelt. Darunter viele erkrankte Kinder. Die Versorgung der verletzten KämpferInnen der nahe gelegenen Front beschränkt sich auf das Mögliche, im Wesentlichen auf eine Stabilisierung, da das Krankenhaus weder materiell noch personell auf z.B. die Versorgung von Knochenverletzungen eingerichtet ist. Diese werden nach Quamislo, der mit ca. 700.000 EinwohnerInnen größten Stadt im Kanton Cesire oder auch nach Derik weiterverlegt. Das Krankenhaus in Sere Kaniye verfügt über kein funktionierendes Röntgen, es existiert gerade mal ein Sono-Gerät. Es fehlt an vielem, nicht zuletzt an einer Ablösung für den Kollegen, sowie an einem/r Kinderarzt/ärztin. Für uns Mitteleuropäer seltene Erkrankungen, wie z.B. Leishmaniose, kommen häufig vor. Die hier arbeitenden KollegInnen sind echte Allrounder und MeisterInnen der Improvisation.

Cesire, der östlichste, größte Kanton der Westkurdischen Region Rojava, wird im Norden über ca. 250 Kilometer Länge durch die Türkei begrenzt, im Osten schließt sich die autonome Kurdische Region des Nord-Irak an. Zum Süden hin liegt die Front zum IS, je nach Verlauf ca. 30 bis 50 Kilometer entfernt. Der heiß umkämpfte nächste Kanton Kobane liegt weiter westlich, weitere 150 Kilometer entfernt. Der überall herrschende Mangel an speziellen Gütern und Ersatzteilen wirkt sich im Gesundheitsbereich besonders katastrophal aus. Durch das weitgehende Embargo der Türkei, die die Grenze mit meterhohen Natodrahtverhauen, Wachtürmen, Soldaten und Panzern schwer bewacht, kommen nur gelegentlich Waren und Hilfsgüter in die Region. Medikamentenlieferungen und Sachspenden wie Rettungswagen, an denen ein absoluter Mangel besteht, hängen oft Tage lang an der Grenze fest. Während der Waren- und Personenverkehr in das Gebiet des IS offen ist, wird die politische und militärische Autonomiebestrebung im Norden Syriens wegen deren Nähe zur PKK sabotiert und bekämpft. Die Einfuhr von Gütern findet im Wesentlichen über eine Pontonbrücke über den Tigris statt, der die Grenze zum Nord Irak darstellt. Auch dort kurdisches Gebiet und doch deutlich unterschiedlich in der politisch-sozialen Erscheinungsform. Präsident Barzani und die Armee der Peschmerga gelten dem Westen immerhin als Bündnispartner, deren Berechenbarkeit auch die Lieferung von Waffen ermöglicht. Davon kann bei den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und den Frauenverbänden (YPJ) der Region Rojava keine Rede sein. Zwar hatte die gemeinsam im Sommer 2014 mit der PKK durchgeführte Befreiungsaktion von Jesidi, ebenso wie der erbittert geführte Kampf um Kobane klar gemacht, wer in der Region in der Lage ist, dem IS und seinem Wüten Grenzen zu setzen. Aber abgesehen von den Lufteinsätzen der USA und ihrer Verbündeten im Kampf um Kobane, die den nicht zuletzt hohen Symbolwert Kobanes in der Auseinandersetzung gegen den IS erkannten und deshalb die eingeschlossenen KämpferInnen unterstützten, hat sich nicht viel getan. So hat sich durch die Berichterstattung, vor allem über die Befreiungsaktion der Jesidi, das Bild in der Öffentlichkeit etwas gewandelt, aber ungebrochen gilt z.B. von Seiten des deutschen Staates das PKK-Verbot. Zu sehr überwiegt die Bündnistreue zum Natomitglied Türkei, das den Konflikt mit den um mehr Autonomie ringenden kurdischen Menschen mit radikaler Härte verfolgt. Zu dieser Strategie zählt nicht nur die Verfolgung von Kurdinnen und Kurden in der Türkei, die Bombardierung von Stellungen der PKK, sondern eben auch die Abriegelung der Grenze zum nördlichen Syrien, im Bereich der Kantone Efrin, Kobane und Cesire.

Die Situation des Embargos und der seit über vier Jahren wütende Krieg sind die Rahmenbedingungen in denen sich die Verantwortlichen des Gesundheitssystem um eine Versorgung der Bevölkerung bemühen, zusätzlich belastet durch die täglich von der Front eintreffenden zum Teil schwer verwundeten KämpferInnen.

Die syrische Regierung ist hierbei weitgehend außen vor. Fast völlig entmachtet, unterstehen ihr noch das Regierungskrankenhaus in Quamishlo, der größten Stadt der Region, in der der syrische Staat noch einen schmalen Streifen, den Flugplatz, die Hauptpost und eben das Krankenhaus unter seiner Kontrolle hat.

In Derik, einer Stadt mit etwa 50.000 EinwohnerInnen, besteht die kuriose Situation, dass die dort arbeitenden Ärzte und Medizinerinnen noch von Damaskus ein geringes Salär beziehen, jedoch der regionalen Autonomieverwaltung unterstehen, hinter der die DSV, die demokratischen Selbstverwaltung, bzw. die Tev-Dem, die Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft, stehen.

Es sind unter anderem die Strukturen der DSV, die durch das Ziel einer paritätischen Besetzung Männer, Frauen, als auch durch die erklärte Offenheit gegenüber Menschen verschiedenster Ethnien, Religionen und Gender, einen deutlichen emanzipativen Gegensatz gegenüber der zuvor bestehenden patriarchalen und zentralstaatlichen Herrschaftsstruktur darstellen. Mit ihren Zielen steht sie auch diametral einem autoritären menschenverachtenden Exzess des IS Kalifats gegenüber, was die militärische Auseinandersetzung eben nicht nur zu einem der üblichen Kämpfe um ethnische oder religiöse Einflusszonen macht, sondern zur Verteidigung von Menschen und einem gesellschaftlichen Experiment, in dem es um die Schaffung neuer emanzipativer Strukturen geht. Auch wenn es dabei einen, für unsere Gemüter unerträglichen Personenkult um die Figur Öcalan gibt und ebenso schwer auszuhaltende mediale HeldInnenverehrung im kurdischen TV, sind es doch die Ansätze einer strukturellen Veränderung, die eben im Vergleich zu zuvor und im Vergleich zur politischen Realität in den sie umgebenden Ländern, einen emanzipativen Charakter ausmachen.

Der Versuch einer Neuorganisierung findet mitten im Krieg statt, in einer Situation äußerer Bedrohung und eines eklatanten Mangels an Ressourcen. Es gilt mehr als 2,5 Millionen Menschen, darunter tausende Geflüchtete, die mit kaum mehr als ihrem Leben in die Region kamen, mit dem Nötigsten zu versorgen.

Der Kurdische Rote Halbmond Heyva Sor a Kurd versucht sein Bestes, um die desaströse Situation in den Griff zu bekommen. Beispielhaft ist die Einrichtung einer Kette von Ambulanzen und Apotheken in den größeren Ortschaften, die versuchen Bedürftige mit den nötigen Medikamenten und auch mit einer medizinischen Grundzuwendung zu versorgen. Die Bedürftigkeit wird durch örtliche Komitees festgestellt, die nach Einkommenslage entscheiden, wer bedürftig ist und wer nicht. Religion, Geschlecht und ethnische Herkunft spielen dabei keine Rolle. Die Beobachtung einer solchen Apotheke zeigt eindrucksvolle Szenen: Kurden, Araber, Männer und Frauen stehen an den Ausgabestellen für die raren Medikamente, zeigen ihre Rezepte die zumeist ihre Dauermedikamentierung bescheinigen, während auf der anderen Seite Helferinnen und Helfer des Kurdischen Roten Halbmonds die Listen mit ihren Unterlagen abgleichen. Medikamente, Windeln und Kindernahrung werden, sofern vorhanden, an diejenigen weitergegeben die ihrer bedürfen. Diejenigen die hier anstehen, sind die, die darauf angewiesen sind, denen das Geld oder andere Voraussetzungen zur Flucht fehlten.

Die Einrichtungen von Ambulanzen und Apotheken, der Transport von Kranken wie auch verletzten KämpferInnen von der meist nur ca. 35 Kilometer entfernten Front, wird ebenso wie die Unterstützung von tausenden Flüchtlingen, von denen ca. 5.000 im Lager bei Derik überleben, unter hohem persönlichen Einsatz zumeist ohne finanzielle Entschädigung geleistet.

Die Regionalverwaltung von Cesire bemüht sich unterdessen um die Instandsetzung und Neuerrichtung von Krankenhäusern, dies in einer Situation, in der es an buchstäblich allem fehlt: Geräte, Personal, Medikamente und elektrischer Energie. Die ganze Region ist auf den Einsatz örtlicher Generatoren angewiesen, da das Stromnetz und die Kraftwerke zerstört sind.

Die Herausforderungen im Gesundheitsbereich beinhalten nicht nur die Versorgung der akut und chronisch Kranken, sondern auch die Behandlung vieler schwer verletzter KämpferInnen, die das Gebiet gegen den IS verteidigen. Die Verletzungsmuster sind die kriegstypischen, die sich zum großen Teil verheerend auswirken und die vor allem junge Frauen und Männer traumatisieren. Zerschossene Extremitäten, schwer verletzte innere Organe und Querschnittslähmungen durch Projektile und Granatsplitter. Eine Nachbehandlung der Operierten findet mehr schlecht als recht statt, auch hier fehlt es an Ressourcen. Eine psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeit für psychisch-traumatisierte Menschen fehlt völlig.

Rojava in dieser Zeit, bedeutet Leben unter schwierigsten Bedingungen zu organisieren. Dies in allen gesellschaftlichen Bereichen, in der Situation eines Embargos und einer extremen Versorgungslage, unter Kriegsbedingungen. Der Versuch, all dies unter dem Versuch einer neuen gesellschaftlichen Organisierung zu leisten, verdient nicht nur Respekt, sondern bedarf konkreter, solidarischer Unterstützung.

Eine Nachbemerkung

Die Frage, ob es sich bei der „Revolution in Rojava“ (GWR 396, Februar 2015) tatsächlich um eine solche handelt, ist natürlich – wie immer – berechtigt. Und auch umso evidenter, je mehr sie aus der Perspektive der heren anarchistischen Perspektive der in Mitteleuropa sitzenden lupenreinen AnarchistInnen erfolgt. Wenn man dabei den Maßstab anlegt, dass hierbei vor allem die Kollektivierung von Land und Produktionsstätten als ausschlaggebend anzusehen sind, und auch andere klar erscheinende Kriterien, (sucht euch etwas aus), als nicht erfüllt erachtet werden müssen, dann ist diese Frage zu verneinen. Ebenso ist die in der GWR erneut erhobene Frage wie es denn mit dem Dilemma der Gewalt zu halten sei, angesichts der Situation in Rojava ein entscheidendes Kriterium. Auch hier muss die Lupenreinheit abschlägig beschieden werden – ganz offensichtlich erfüllen die KämpferInnen der kurdischen Verteidigungseinheiten nicht das strenge Kriterium der Gewaltlosigkeit. Schade eigentlich, dass sich die Fanatiker des IS nicht durch Palmwedel oder auch eine zusammengerollte GWR am Halsabschneiden und versklaven hindern lassen. Dann wäre alles doch viel einfacher. Aber das ist es nicht.

Revolution (was auch immer sich einzelne darunter positives vorstellen mögen?), egalitäre gesellschaftliche Verhältnisse in Freiheit und Würde, beginnen nicht an ihrem Ziel, sondern sie sind ein Prozess. Viel entscheidender als die für mich absurd anmutende Frage – „handelt es sich um eine Revolution?“ – ist doch die Frage: „Handelt es sich um einen emanzipativen Ansatz?“. Die Beantwortung dieser Frage bemisst sich jedoch nur zum Teil an unseren eigenen Idealvorstellungen, sondern vor allem an den gesellschaftlichen Ausgangs- und Umgebungsbedingungen. In diesem Sinne ist es leider alles etwas komplizierter.