Die Feiern, die zum Jubiläum des zweiten Bürgerrechtsgesetzes von 1965 für die African-American Community in den USA abgehalten wurden, sowie der bewegende Selma-Kinofilm erinnern an einen Durchbruch der US-Bürgerrechtsbewegung vor 50 Jahren. 1964 war die Segregation in öffentlichen Einrichtungen aufgehoben worden, 1965 ging es um die Abschaffung diskriminierender Bestimmungen für das Wahlrecht. 1944, 1957, 1960 und 1964 hatte es bereits US-Gesetze zum Wahlrecht für African-Americans gegeben, ihre Implementierung wurde jedoch durch das Bollwerk weißer Rassisten im Süden der USA verhindert. Eine anarchistische Gesellschaft wird Parteien und Parlamente durch Selbstorganisation und direkte Entscheidungsformen ersetzen, ein Wahlrecht wird nicht mehr nötig sein. Doch ist es nur als universale Abschaffung denkbar und bis dahin werden sich AnarchistInnen nie partikular gegen das Wahlrecht etwa für Frauen oder in diesem Fall für African-Americans aussprechen, das mühsam erkämpft wurde und eine Glanzzeit gewaltfreier Massenaktionen in Erinnerung ruft. (GWR-Red.)
Nach der Verabschiedung des Civil Rights Acts von 1964 gegen die Segregation meinte Martin Luther King, Jr., zu den geringen Fortschritten beim Wahlrecht: „Die Patchwork-Reformen von 1957, 1960 und 1964 waren zwar nicht unnütz, aber die faktische Ausschließung der Schwarzen bei Wahlen setzte sich zu lange fort und die sich hinschleppenden Implementierungsprozesse haben die Schwarzen zutiefst entwürdigt.“
Als King den US-Präsidenten Lyndon B. Johnson im Dezember 1964 traf, forderte er eine neue Wahlrechtsgesetzgebung. Johnson antwortete, dass ein solches Gesetz sein gesamtes Regierungsprogramm gefährden könne. So lancierte die SCLC [Southern Christian Leadership Conference; die Organisation Kings, ein Rat von Baptisten-Priestern; d.Ü.] im Januar 1965 seine Wahlrechtskampagne in Selma, Alabama. Mit Ausnahme von Mississippi hatte der Bundesstaat Alabama den geringsten Prozentsatz von African-Americans, die in die Wahllisten eingeschrieben und damit als wahlberechtigt registriert waren. In Dallas County z.B. waren es weniger als drei Prozent.
Die SCLC-Kampagne baute auf der bereits laufenden Organisierungsarbeit des SNCC [Student Nonviolent Coordinating Committee; Basisorganisation schwarzer StudentInnen; d.Ü.] auf und sah „Freedom Days“ vor, an denen lokale BewohnerInnen versuchen sollten, sich in Wahllisten einzutragen und so den hartnäckigen Widerstand lokaler weißer Registratoren zu skandalisieren. Im Gegensatz zum kaum überregional bekannt gewordenen zentralen Alabama-Projekt des SNCC erhoffte sich die SCLC von Kings Beteiligung eine US-weite Presseberichterstattung.
Die AktivistInnen von SNCC reagierten zunächst misstrauisch auf die Selma-Kampagne der SCLC. Die StudentInnen Bernard und Colia Lafayette hatten das SNCC-Projekt in Alabama 1963 gestartet und Silas Norman, der das Projekt zu Anfang 1965 übernahm, zielte nicht nur auf Wahleintragungen der African-Americans ab, sondern versuchte gleichzeitig, eine unabhängige schwarze Mobilisierungsfähigkeit aufzubauen, die dem SNCC bereits erfolgreich in Mississippi gelungen war. Die SNCC-AktivistInnen befürchteten, dass Kings charismatisches Auftreten ihren langfristig angelegten Versuch, selbständige GraswurzelaktivistInnen und -organisationen vor Ort aufzubauen, unterminieren könnte. Trotzdem wollte das SNCC der SCLC-Kampagne nicht im Wege stehen und bot den SCLC-Delegierten sein Büro zur Nutzung an. Die SNCC-AktivistInnen wollten ursprünglich eigentlich am Rande verweilen, aber das wurde schnell unmöglich, als die Kampagne Erfolg hatte und die Polizei gewaltsam darauf antwortete.
King wurde am 1. Februar 1965 bei einer Demonstration vor dem Gerichtsgebäude von Selma verhaftet. Aus der Haft riet er seinen Mitarbeitern, auf Präsident Johnson Druck auszuüben: „Wir sind jetzt in der Offensive.“ Und an Johnson schrieb er einen Offenen Brief aus dem Gefängnis:
„Mussten Sie jemals rund einhundert Fragen über die Regierung beantworten, unter denen manche selbst von Politikwissenschaftlern als abstrus eingestuft würden, nur um Ihr Wahlrecht ausüben zu können?
Standen Sie jemals zusammen mit hundert Anderen einen ganzen Tag lang Schlange, damit dann weniger als zehn zur Ausfüllung dieses Fragebogens vorgelassen wurden? So ist das in Selma, Alabama. Es gibt hier mehr Schwarze im Gefängnis als auf den Wahllisten.“
Die Annäherung von Malcolm X an King
Während King in Selma ins Gefängnis gesperrt wurde, war Malcolm X auf Einladung schwarzer StudentInnen des Tuskegee Instituts, die mit dem SNCC verbunden waren, in Alabama eingetroffen. Malcolm X hatte 1964 mit Elijah Muhammads Black-Muslim-Organisation „Nation of Islam“ gebrochen und versuchte nun, sich mit aktionsorientierten GraswurzelaktivistInnen im SNCC und in anderen Organisationen zu verbünden. Im Dezember 1964 lud er Fannie Lou Hamer und ihre SNCC-Freedom-Singers als Ehrengäste zu einem Treffen seiner neu gegründeten „Organization of Afro-American Unity“ ein. Malcolm versprach sich „eine erfolgreiche Verknüpfung unseres Problems mit dem afrikanischen Problem, das so zu einem Weltproblem wird [erst kurz zuvor hatten zahlreiche schwarzafrikanische Staaten ihre politische Unabhängigkeit errungen; d.Ü.].“
Als er im Februar 1965 nach Selma reiste, hoffte Malcolm, sich mit King treffen zu können, mit dem er bereits in brieflichem Kontakt stand. Als Kings Gefangennahme dies verhinderte, äußerte er Coretta Scott King gegenüber seinen Wunsch, enger mit den BürgerrechtsaktivistInnen im Süden zusammenarbeiten zu wollen. Malcolm sagte ihr: „Ich möchte Dr. King vermitteln, dass ich nicht nach Selma gekommen bin, um hier seine Arbeit zu erschweren.“ Und er fügte hinzu: „Wenn den Weißen klar wird, was die Alternative zu ihm ist, sind sie vielleicht eher geneigt, Dr. King anzuhören.“ Malcolms Versuch, sich mit der aktionsbezogenen Wahlrechtskampagne zu verbünden, wurde jäh gestoppt, als er am 21. Februar 1965 ermordet wurde – nur drei Wochen, nachdem er aus Selma nach Hause zurückgekehrt war.
Johnson gegen King
Die Selma-Proteste nahmen eine dramatische Wendung, als die Polizei des Bundesstaates Alabama den 26-jährigen Jimmy Lee Jackson in Marion, Alabama, schwer verletzte.
Er hatte versucht, seine Mutter bei einer Demonstration vor Polizeiangriffen zu schützen. Jackson starb eine Woche später, was King-Mitarbeiter James Bevel dazu verleitete, einen Protestmarsch von Selma nach Montgomery, der Hauptstadt des Bundesstaates, als öffentliche Antwort vorzuschlagen. Als King seine Grabrede auf Jacksons Beerdigung sprach, verkündete er, der Marsch werde am 7. März 1965 stattfinden. Johnson fühlte sich durch die Demonstrationen in Alabama unter Druck gesetzt und versuchte umsonst, King von dem Marsch abzubringen. Bei einem kurzen Treffen am 9. Februar 1965 vertraute Johnson King privat an, dass er der Forderung nach einem neuen Wahlgesetz nachgeben werde. King war jedoch der Überzeugung, dass der Druck nur durch die Fortsetzung der Proteste aufrechterhalten werden könne.
Das Verhältnis der beiden war auf einer oberflächlichen Ebene freundlich, aber auch durch zunehmende Differenzen getrübt, die die militärische Eskalation in Vietnam betrafen sowie das gegenseitige Wissen beider darüber, dass das FBI eine enge Überwachung Kings betrieb.
Direkt im Vorfeld der Selma-Kampagne hatte King eine Tonbandaufnahme und einen Brief erhalten, die ihm – wie er schnell herausfand – auf Befehl von FBI-Chef J. Edgar Hoover zugesandt worden waren und worin gedroht wurde, Kings nicht-eheliche Frauenbeziehungen öffentlich zu machen.
Am Ende des Briefes wurde ihm gar der Selbstmord nahegelegt. Die FBI-Strategie gegen King hatte das Ziel, ihn als überregionale Führungsperson zu delegitimeren, real aber bestärkte sie gerade seine Entschlossenheit, einen unabhängigen Kurs beizubehalten.
Der letzte Strohhalm: Reverend Reeb
Mit einem Grummeln entschieden sich die SNCC-Mitarbeiter dafür, die Kampagne des SCLC zu unterstützen, als vor allem John Lewis, der gleichzeitig im SCLC-Rat vertreten und gewählter Vorsitzender des SNCC war, auf der Beteiligung des SNCC beim geplanten Marsch von Selma nach Montgomery bestand. Eben noch hatten Lewis und der SNCC-Aktivist Hosea Williams mehr als 500 Protestierene zur Edmund Pettus Bridge am Stadtrand von Selma geführt, wo sie von Politikern und der Polizei des Bundesstaates Alabama empfangen wurden.
Das Fernsehen und Zeitungsfotografen brachten Bilder über die von der Polizei ausgehende Gewalt an diesem „Bloody Sunday“, der künftig zum Symbol für die Brutalität des Segregationisten-Widerstands werden sollte. „Präsident Johnson kann Bundestruppen nach Vietnam und in den Kongo schicken – aber nach Selma kann er keine schicken!“, beschwerte sich Lewis direkt danach in einer kirchlichen Massenversammlung, bevor er ins Krankenhaus gebracht werden musste. „Wenn wir das nächste Mal marschieren, müssen wir nach Montgomery weitergehen.“
Am 11. März traf King ein und führte eine weitere Gruppe von Marschierenden zur Pettus Brigde. Und wieder wurden sie mit der Polizei auf der anderen Seite konfrontiert. Doch King fällte eine Entscheidung, die in den Reihen der Marschierenden Unmut hervorrief, als er die DemonstrantInnen unerwarteter Weise dazu aufforderte, umzukehren und keine Wiederholung des „Bloody Sunday“ zu riskieren. „Wir wollten nach Montgomery gehen, aber aufgrund unseres Bekenntnisses zur Gewaltfreiheit wussten wir, dass wir unter diesen Bedingungen nicht gehen konnten“, rechtfertigte sich King.
Im weiteren Verlauf des Tages wurde Reverend James Reeb, einer der vielen BürgerrechtsaktivistInnen, die Kings Aufruf für externe Unterstützung nachgekommen waren, von Segregationisten in Selma auf offener Straße angegriffen. Reeb starb später in Birmingham.
In großem Kontrast zum vorherigen Tod des Schwarzen Jimmy Lee Jackson führte die Ermordung eines weißen Pastors zu einer sofortigen US-weiten, massenhaften Antwort. Bürgerrechts-AktivistInnen kamen von überall her zur Gedenkmesse für Reeb nach Selma. In vielen anderen Städten wurde auf Solidaritätsdemonstrationen das Eingreifen von Bundestruppen gegen die rassistische Polizei des Bundesstaates Alabama gefordert [eine zentrale Taktik der frühen Bürgerrechtsbewegung war der Versuch, die US-Bundespolizei in einen faktischen Gegensatz zur Einzelstaatenpolizei zu bringen; d.Ü.].
Präsident Johnson nutzte dann die Selma-Krise als Gelegenheit für die US-weite Fernsehübertragung einer Rede, in der er die neue Wahlrechtsgesetzgebung ankündigte. Viele sollten diese Rede als seine beste Präsidentenrede in Erinnerung behalten. [Der Marsch von Selma nach Montgomery konnte im dritten Anlauf vom 21. bis 14. März schließlich doch stattfinden, die öffentlich skandalisierte Polizei Alabamas musste ihn nun durchlassen; d.Ü.].
Americas finest hour
Die neue Gesetzgebung hob die Praxis schriftlich auszufüllender Fragebögen [für meist illiterate African-Americans; d.Ü.] und weitere, vergleichbare Hindernisse in denjenigen Regionen des Südens, in denen nur wenige schwarze BürgerInnen eingeschrieben waren, auf. Die vom Gesetz betroffenen Staaten umfassten u.a. Alabama, Georgia, Louisiana, Mississippi, South Carolina, Virginia und Teile von North Carolina. Zusätzlich wurden Untersuchungsbeauftragte des Bundes dazu autorisiert, über Wahlwillige neu zu entscheiden, die beim Versuch ihrer Einschreibung auf lokaler Ebene abgewiesen worden waren.
Trotz ständig wiederkehrender Behinderungen führte die Implementierung des Wahlrechts 1965 bis zum Jahr 2005 zu rund 9000 gewählten afrikanisch-amerikanischen KommunalpolitikerInnen, Abgeordneten, Stadt- bzw. LandbürgermeisterInnen und die schwarze Wählerschaft wurde in bereits zwei Fällen [bis 2005, als dieser Artikel erschien; inzwischen also in vier Fällen; d.Ü.] zum entscheidenden Faktor bei US-Präsidentschaftswahlen, auf den somit Rücksicht genommen werden musste.
Am 6. August 1965 versammelten sich die maßgeblichen ProtagonistInnen der Bürgerrechtsbewegung in Washington für die Unterzeichnung des Wahlrechtsgesetzes. Rosa Parks, die initiierende Aktivistin des Busboykotts von Montgomery; Roy Wilkins für das NAACP [National Association for the Advancement of Coloured People; stark auf juristisches und parlamentarisches Lobbying ausgerichtete Organisation; d.Ü.], John Lewis für das SNCC und Martin Luther King, Jr., für die SCLC wurde einer nach dem anderen der Füllhalter überreicht, mit dem vorher Präsident Johnson das Dokument unterzeichnet hatte.
Die euphorische Stimmung und das Gemeinschaftsgefühl unter den African-Americans, welche das Wahlgesetz hervorgebracht hatte, dauerte jedoch nur sehr kurz an. Nicht einmal eine Woche nach der Unterzeichnung brach eine Welle rassistischer Gewalt und Gegengewalt im Stadtteil Watts von Los Angeles aus. King eilte sofort zum Schauplatz der Riots: „Sobald im Süden Land in Sicht war, explodierte der Horror im Norden vor unseren Augen.
Und wir sahen, dass das Problem der Schwarzen eine weitaus größere Dimension besaß als nur die ‚Rassen‘-Segregation“, meinte King. Und: „Die Katastrophe von Los Angeles war das Ergebnis von Spannungen in der ganzen Nation, ja der gesamten Welt.“ 1966 sollte sich Johnson mehr und mehr in den Vietnamkrieg verrennen und die grundsätzliche Kriegskritik von SNCC, CORE [Congress of Racial Equality; eine weitere Bürgerrechtsorganisation, die vor allem im Norden der USA agierte; d.Ü.], ab 1967 auch von der SCLC hervorrufen. So konnten die BürgerrechtsprotagonistInnen im von Tumulten übersäten Jahr 1996 kaum einmal der Bedeutung ihrer Errungenschaften gewahr werden, ohne nicht zugleich deren Grenzen einsehen zu müssen.
Anmerkungen
Clayborne Carson ist Herausgeber des Martin Luther King, Jr., Papers Projects, Stanford University, San Francisco. Im Verlag Graswurzelrevolution erschien 2004 sein Opus Magnum "Zeiten des Kampfes. Das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) und das Erwachen des afro-amerikanischen Widerstands in den sechziger Jahren".
Der Originalartikel erschien im US-amerikanischen Politmagazin "The Crisis", dem 1909 gegründeten offiziellen Organ der NAACP (National Association for the Advancement of Coloured People), in der Ausgabe Juli/August 2005, S. 17-20. Übersetzung, Kürzungen und Zusatzinformationen in Klammern: Wallflower.