Renate Brucker, Melanie Bujok, Birgit Mütherich, Martin Seeliger, Frank Thieme (Hg.): "Das Mensch-Tier-Verhältnis. Eine sozialwissenschaftliche Einführung, Springer-VS, Wiesbaden 2015, ISBN: 978-3-531-16916-3, 343 S., 39,43 Euro, als E-Book 29,99 Euro.
Matthias Rude: Antispeziesismus. Die Befreiung von Mensch und Tier in der Tierrechtsbewegung und der Linken, Reihe theorie.org, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2013, ISBN: 3-89657-670-4, 204 S., 10 Euro.
Beide Bücher firmieren unter dem Begriff „Einführung“, sind aber mehr als das. In ihrem hervorstehenden Beitrag schreibt Renate Brucker in „Das Mensch-Tier-Verhältnis“ über die Tierrechtsbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; im Buch von Rude geht es um Darstellungen historischer und moderner Tierrechtsbewegungen, ihrer Ideengeschichte und Strömungen.
Wenn wir das bereits 2009 erschienene Buch von Mieke Roscher, „Ein Königreich für Tiere. Die Geschichte der britischen Tierrechtsbewegung“ (Tectum Verlag, Marburg), hinzunehmen, liegen damit wertvolle Darstellungen der ersten und zweiten Tierrechtsbewegung für den deutsch- und englischsprachigen Raum vor, die, nacheinander gelesen, faszinierend und voller Informationen sind.
Rude gelingt es, die entstandenen tierschützerischen, tierrechtlichen, vegetarischen und veganen Strömungen inmitten ihres jeweiligen sozialen Kontexts zu beschreiben, seien es die Englische, die US-amerikanische oder die Französische Revolution bis hin zur Pariser Kommune, und so Vorurteilen angeblicher Ferne von Klassenkämpfen die Grundlage zu nehmen.
Für das frühe 20. Jahrhundert werden sowohl von Brucker wie von Rude die Gruppierungen des „Bund für radikale Ethik“ (1907-1934) um Magnus Schwantje sowie der „Internationale Sozialistische Kampfbund“ (ISK; 1916-1945) um Leonard Nelson hervorgehoben und damit an die engen Verbindungen tierrechtlicher Gruppen sowohl zum Antimilitarismus und zur Verurteilung des Ersten Weltkriegs aus auch zur radikalen Arbeiterbewegung und dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus erinnert. Vergessen wurde und wird auch immer wieder die „überwiegende“ (Brucker u.a., S. 88) Anzahl von Frauen als AktivistInnen in vegetarischen, Tierrechts- und Anti-Tierversuche-Gruppen sowie ihre enge Verbindung zur historischen Frauenbewegung mit Personen wie Emily Pankhurst, Louise Michel, George Sand, Severova Nordman, Anita Augspurg, Lida Gustava Heymann oder Clara Wichmann. Brucker nennt das „Bewegungsfamilien“, die ProtagonistInnen waren zugleich in „verwandten“ Bewegungen wie der Friedens- oder der anarchistischen Bewegung, oft in Doppelmitgliedschaften, ebenso aktiv wie für die Tierrechte.
Sowohl bei Brucker wie bei Rude sind Details zu finden, die für AnhängerInnen der Gewaltfreiheit und des Anarchismus interessant sind: So war der Pädagoge und Veganer Amos Alcott, der Gründer der vegetarischen Gemeinschaft „Fruitlands“ in den USA, als er 1843 wegen Verweigerung der Steuerzahlung inhaftiert wurde, Anlass für den Essay von H.D. Thoreau: „Resistance to Government“ (Ziviler Ungehorsam gegen den Staat, 1849). In der libertär-lebensreformerischen Gemeinschaft auf dem Monte Vérita in der Schweiz hatte sich 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, eine Gesellschaft für „social-antinationalen Vegetarismus“ gegründet.
Bei der Vermittlung zwischen erster und zweiter Tierrechtsbewegung sowie für die Gründung der anfangs explizit gewaltfrei-anarchistischen „Animal Liberation Front“ (1976) spielte die englische GWR-Schwesterzeitung „Peace News“ eine wichtige Rolle. Und auch der 1910 vom linken Vegetarier Evgenij I. Lozinskij mit ausdrücklicher Zustimmung Tolstois propagierte „soziale Vegetarismus“, der sich gegen die bloß individuell-gesundheitliche vegetarische Ernährung der reichen Klassen und deren Aufrechterhaltung von Eigentumsordnung und Krieg richtete („Der heutige typische Vegetarier ist ein Menschenfresser!“) kann als frühe Variante einer Unterscheidung zwischen privat-individuellem und politisch-aktivem Veganismus bezeichnet werden.
So scheint mir sozialwissenschaftlich am fruchtbarsten die Geschichte der Tierrechtsbewegung als „Bewegungssoziologie“ zu sein. Ansonsten scheint die Soziologie noch eher am Anfang ihrer „Human-Animals-Studies“ zu stehen: Es wird eine bisherige Lücke oder Ignoranz des Themas in den Sozialwissenschaften konstatiert, erste Ansätze zur historischen Genese des Mensch-Tier-Dualismus (Du-Ambivalenz, das „ganz Andere“) werden präsentiert. Ausgangspunkt einer sozialwissenschaftlichen Beschäftigung sind Texte aus der Kritischen Theorie (Horkheimer/Adorno), ergänzt etwa im Beitrag von Melanie Bujok durch eine Nutzbarmachung der Bourdieu-Kategorien „kulturelles Kapital“ und „Sozialkapital“ (S. 163ff.).
Kurioserweise ist bei dem bewegungsorientierten, leichter lesbaren Buch von Rude die Rezeption Horkheimer/Adornos nicht Ausgangs-, sondern bisheriger Endpunkt einer zweiten Tierrechtsbewegung. Das letzte Kapitel Rudes (S. 154-190) stellt interne Auseinandersetzungen schonungslos dar.
Die Notwendigkeit einer Kritik an den behindertenfeindlichen Theorien Peter Singers („Vernichtungsethik“, S. 164f.) wird betont, die selbstkritische Überwindung von KZ-Vergleichen oder die Abkehr von rechtslastigen Theoretikern wie Helmut F. Kaplan referiert. Genau wird der „Knall“ der Tierrechtsbewegung mit den Autonomen 1995 in der Hamburger „Roten Flora“ geschildert, der sich am Auftreten der ebenso marginalen wie regressiven „Hardline“-Strömung der Musik-Avantgarde-Szene „Straight Edge“ entzündete, welche sich nicht nur gegen Drogen, sondern auch gegen Homosexualität und Abtreibung aussprach, den Mensch als „Plage“ sowie Naturkatastrophen als „Rache der Erde“ bezeichnete (S. 170ff.). Dabei wurde Straight Edge von Autonomen fälschlich mit der gesamten Tierrechtsbewegung identifiziert, was zur Abkehr der TAN von der autonomen Szene und einer scharfen Kritik an ihr führte: Sie sei ein „repressives System kollektiver Verhaltensnormierung“; die Anti-ismen (Anti-Faschismus, Anti-Sexismus) seien „Platzhalter für Götter“, Inhalte würden bei Bedarf gefälscht oder theoretisch nicht gefüllt, „sondern geglaubt.
Wer zweifelt, gilt als Ketzer“; vor Denunziation und Ausschluss herrsche Angst, die in „Opportunismus, Konformismus bis hin zu Gehorsam oder in resigniertes Schweigen“ führe.
An dieser Stelle möchte ich den von Rude gewählten Titel „Antispeziesismus“ hinterfragen, ein Relikt gerade dieser Szene, innerhalb der Linken nach wie vor Einfallstor für Biologismus-Unterstellungen, während es doch mit „Tierrechtsbewegung“ oder „politischem Veganismus“ so viel bessere Benennungen gäbe.
Leider führte diese Kritik der TAN zu einer Hinwendung auf den historischen Materialismus bis zurück zu Marx/Engels, die nun einmal keine Theorie der illegitimen Mensch-Tier-Ausbeutung entwickelt haben und deren propagierte „Entfesselung“ der Produktivkräfte sehr wohl ihren Anteil an der unhinterfragten industriellen Massentierhaltung, etwa in der Sowjetunion, hatte.
Rudes Darstellung landet damit beim Marxismus als antimoralisch-antiidealistischem Materialismus, welcher die Vielfalt der historischen Strömungen der Tierrechtsbewegung zu reinigen und zu vereinheitlichen sucht, anstatt sie auszuhalten und sich dann bewusst für die sozialistisch-feministisch-anarchistischen Theorietraditionen zu entscheiden.