Obwohl AnarchistInnen bekanntlich eine gesunde Abneigung gegen Fahnen pflegen und sich die schwarze Fahne als "Negation aller Fahnen" dennoch teilweise durchgesetzt hat, so lassen sich auch manche AnarchistInnen, wenn sie Flagge zeigen wollen, hin und wieder auf bestimmte Farbenspiele ein.
Das Schwarz der Negation trifft hier z.B. bei AnarchosyndikalistInnen, kommunistischen AnarchistInnen und diversen Anderen bekanntlich auf affirmatives Rot, beim Anarchafeminismus auf Lila, bei Öko-AnarchistInnen auf Grün, beim Queer-Anarchismus auf Pink und … beim gewaltfreien Anarchismus/Anarchopazifismus auf Weiß?!
Ja, auf der englischsprachigen Wikipedia (sowie mittlerweile auch auf der deutschsprachigen) ist bei den Artikeln zu „Anarcho-pacifism“ und „Anarchist symbolism“ die Farbkombination Schwarz-Weiß als charakteristisch für diese anarchistische Strömung angeführt.
Woher diese Kombination rührt, ob und wenn ja, welche historischen Referenzen es gibt, konnte der Verfasser dieser Zeilen nicht ausfindig machen.
Außerhalb von Wikipedia scheint sich das Schwarz-Weiß auch nicht wirklich durchgesetzt zu haben.
Man bekommt aber das Gefühl nicht los, als ob sich das Ganze jemand mit einer verzerrten Vorstellung von gewaltfreiem Anarchismus und Anarchopazifismus einfallen ließ. Denn bei dieser Symbolik passt gar nichts.
Eine weiße Flagge für den gewaltfreien Anarchismus?
Die weiße Flagge wurde und wird in vielen unterschiedlichen Kontexten eingesetzt, sei es nun in kriegerischen Auseinandersetzungen, als Zeichen des Erfolgs österreichischer MaturantInnen (AbiturientInnen) nach bestandener Prüfung oder im Rennsport. Vor allem bekannt ist sie aber im Kontext des Kriegs. Sie gilt z.B. als Schutzzeichen des sog. „Kriegsvölkerrechts“ und heißt dort Parlamentärflagge. Ein Parlamentär war ein Unterhändler zwischen Krieg führenden Armeen und genoss durch das Tragen einer weißen Flagge einen völkerrechtlich garantierten Schutz. Die weiße Flagge war/ist hier also ein Schutzzeichen für einen (temporären) Waffenstillstand zu Verhandlungszwecken. Daraus entwickelte sich eine Symbolik und folglich ein Gebrauch der weißen Flagge, die dafür bestimmend sind, wie sich dieses Symbol im kollektiven Gedächtnis verankert hat. Diese Frage ist für das behandelte Thema auch ausschlaggebender als wenig bekannte und heute eher irrelevante historische Details. Denn die Symbolik ist klar: Eine weiße Flagge steht für Kapitulation, Widerstandslosigkeit, sich Ergeben, Niederlage. Der gewaltfreie Anarchismus als Anarchismus der kampflosen Kapitulation, des widerstandslosen Hinnehmens, der akzeptierten Niederlage? Hier ist im kreativen Anarcho-Farbenspiel eindeutig etwas richtig schief gelaufen. Eine derartige Symbolik kommt schlichtweg einer Karikatur des gewaltfreien Anarchismus gleich.
Kampf, nicht Kapitulation!
Dass gewaltfreier Anarchismus und Anarchopazifismus genau nichts mit oben erwähnten Assoziationen des Symbols der weißen Flagge zu tun haben, muss offenbar leider immer wieder auf’s Neue dargelegt werden – auch oder vor allem in der eigenen Szene. Die gewaltfreie Aktion, derer sich gewaltfreie AnarchistInnen in ihrem Widerstand bedienen, kann vieles sein. Sie kann symbolisch, passiv und legal, aber auch das Gegenteil davon, nämlich direkt, konfrontativ und illegal sein. Passiver Widerstand ist nicht gleichbedeutend mit gewaltfreiem Widerstand, auch, wenn passive Formen des Widerstands Teil der breiten Palette gewaltfreier Aktionen sind. Gewaltfreie Aktion ist keine Form der Konfliktvermeidung oder Beschwichtigung, sondern schlicht eine andere Art der Konfliktaustragung.
Genau genommen ist sie in vielen Fällen eine Form der Konflikteskalation. Sie tritt einem Gegner aktiv und entschlossen entgegen, nur eben in anderer Art und Weise, ohne diesen beispielsweise zu verletzen, zu bedrohen, zu töten oder zu enthumanisieren. Gewaltfreie AnarchistInnen wählen diese Kampfform u. a. deshalb, weil sie dem Ziel einer anarchistischen, gewaltfreien Gesellschaft entspricht und diese nicht konterkariert. Sie wollen in ihrem Kampf nicht auf die antiemanzipatorischen Mittel zurückzugreifen, die z.B. der staatlich-kapitalistische Repressionsapparat so professionell anwendet, denn sie stehen bekanntlich jeglichen anarchistischen Werten diametral entgegen und entstellen das Ziel.
Die Mittel definieren das Ziel, weshalb diese nicht im Widerspruch zueinander stehen sollten. Diese Feststellung war, ist und bleibt für alle AnarchistInnen – nicht nur für die gewaltfreien und nicht nur bei der Gewaltfrage – zentral. Aber letztendlich ist es egal, wie gewaltfreier Widerstand von AnarchistInnen genau aussieht, denn eines steht fest: Weiße Fahnen der Kapitulation werden hier auf alle Fälle nie geschwenkt. Selbst der passive „Nicht-Widerstand“ eines Leo Tolstoi ist vieles, aber sicher keine Kapitulation oder ein feiges sich Wegdrücken.
Der falsche Farbtopf
Farbenspiele mit der schwarzen Fahne des Anarchismus, die dazu dienen, einer Zugehörigkeit zu einer spezifischen anarchistischen Subströmung Ausdruck zu verleihen, können schon charmant sein.
Wie man aber sieht, kann es auch völlig daneben gehen. Was mit Schwarz-Weiß als vermeintlicher Farbkombination des gewaltfreien Anarchismus/Anarchopazifismus angedeutet wird, geht kilometerweit an dem vorbei, was gewaltfreier Anarchismus ist, was er in der Theorie vertritt und in der Praxis lebt.
In diesem Sinne kann man bei der nächsten Demo die schwarz-weiße Fahne ruhig zuhause lassen und stattdessen Slogans bemühen wie: „Keine Kapitulation! Für die gewaltfreie Revolution!“